Oliver Wittke - Ländliche Räume
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziel der Politik der Bundesregierung ist es, gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen. Das tun wir nicht nur, weil es eine Verpflichtung nach Artikel 72 des Grundgesetzes dazu gibt und auch in § 2 des Raumordnungsgesetzes eine entsprechende Passage zu finden ist, sondern weil wir fest davon überzeugt sind, dass wir alle Regionen in Deutschland lebenswert gestalten müssen.
Ich will allerdings etwas differenzierter argumentieren, als es der Redner der AfD-Fraktion hier getan hat; denn es gibt nicht den Ballungsraum oder den ländlichen Raum in Deutschland. Wir haben Gott sei Dank starke ländliche Räume. Das sehen Sie, wenn Sie beispielsweise in den Landkreis Potsdam-Mittelmark oder den Kreis Coesfeld oder andere Landkreise gehen. Wir haben aber auch schwache Ballungsräume. Ich selbst komme aus dem Ruhrgebiet, aus einer Stadt mit einer Arbeitslosenquote, die immer noch bei 13 Prozent liegt, und mit einer SGB-II-Quote von 24,8 Prozent.
(Stephan Brandner [AfD]: Wer regiert denn da?)
Auch wenn Sie nach Saarlouis oder Frankfurt an der Oder gehen, sehen Sie, dass es auch Städte gibt, um die wir uns kümmern müssen, in denen wir gleichwertige Lebensverhältnisse anstreben müssen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD])
Das Muster, nach dem die AfD hier vorgeht, ist bekannt. Sie versucht, unterschiedliche Räume gegeneinander auszuspielen. Sie versucht, zu spalten und nicht zu vereinen, was eigentlich das Gebot der Stunde wäre.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Stefan Keuter [AfD]: Unsinn!)
Die Politik der Bundesregierung ist es, passgenaue Hilfen anzubieten. Man muss vielleicht dem Ruhrgebiet bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit helfen. Man muss vielleicht dem Schwarzwald beim Ausbau der digitalen Infrastruktur unter die Arme greifen. Die digitale Infrastruktur ist im Ruhrgebiet, im Ballungsraum, kein Problem. Aber im wirtschaftlich starken Schwarzwald ist die digitale Infrastruktur ein Problem. Darum muss man differenziert argumentieren. Man muss fein unterscheiden und genau hinschauen, wo die Probleme in Deutschland liegen.
Das tun wir mit einem neuen gesamtdeutschen Fördersystem, in dem wir 22 Förderprogramme aus sechs unterschiedlichen Ministerien unter einem gemeinsamen Dach zusammenfassen. Ich finde, das ist eine großartige Leistung. Wer die Eitelkeit von Bundesministerien ein ganz klein wenig kennt, weiß einzuschätzen, was wir da hinbekommen haben. Wir werden die Hilfen aus den unterschiedlichen Häusern, gleich unter welcher Couleur sie geführt sind, zum ersten Mal aufeinander abgestimmt zusammenführen, um passgenaue Hilfen geben zu können.
(Stefan Keuter [AfD]: Wie die letzten Jahre schon!)
Das ist, wie ich finde, ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind, gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland zu schaffen.
Es bedarf auch keiner Bund-Länder-Arbeitsgruppe; denn die hat es längst gegeben. Sie hat ihre Arbeit abgeschlossen. Bei der Erarbeitung dieses gesamtdeutschen Fördersystems waren alle 16 Bundesländer dabei; 14 von ihnen haben am Ende zugestimmt. Auch das ist eine großartige Leistung: Es haben sich nicht nur sechs Bundesministerien zusammengefunden, sondern auch ländlich geprägte Bundesländer, großstädtisch geprägte Bundesländer, Stadtstaaten wie Bremen und Berlin, die mitgemacht haben, um das großartige Ziel, ein neues Fördersystem auf den Weg zu bringen, zu erreichen. Dass die drei kommunalen Spitzenverbände, darunter der Deutsche Landkreistag und der Deutsche Städtetag, ebenfalls zugestimmt haben, habe ich ursprünglich für unmöglich gehalten. Wer die kommunale Familie ein klein wenig kennt, der weiß von den dort herrschenden Eitelkeiten. Wir haben das geschafft, weil wir fest davon überzeugt sind, dass wir differenziert vorgehen müssen, dass wir nicht in Panikmache verfallen dürfen, wenn es darum geht, die Lebensverhältnisse in Deutschland Stück für Stück besser zu machen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dass das eine große Gemeinschaftsleistung ist, will ich daran festmachen, dass selbstverständlich auch die Bundesländer ihren Beitrag leisten müssen. Strukturpolitik ist in unserem föderalen System in Deutschland zuvörderst Aufgabe der Bundesländer. Wir vom Bund können helfen, und das tun wir auch, beispielsweise mit den Gemeinschaftsaufgaben, der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ und der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“.
Aber auch da gibt es große Unterschiede. Das will ich Ihnen am Beispiel Thüringen deutlich machen, auch wenn ich nicht aus Thüringen komme. Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ist bis 2014/2015 von Thüringen gut angenommen worden. Die Mittel aus dieser Gemeinschaftsaufgabe sind in dieser Zeit zu fast 100 Prozent, in einigen Jahren sogar zu über 100 Prozent abgerufen worden, zum Beispiel im Jahr 2009 mit 108 Prozent. Dann kam ein Regierungswechsel. Seitdem Rot-Rot-Grün in Thüringen regiert, werden weniger Mittel abgerufen. Sie verbleiben in Berlin oder gehen in andere Bundesländer, beispielsweise nach Mecklenburg-Vorpommern oder Bayern. Diese beiden Länder machen eine exzellente Strukturpolitik und rufen die Mittel zu über 100 Prozent ab.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich will Ihnen die Zahlen nennen: 2016 sind gerade noch 87 Prozent nach Thüringen abgeflossen, 2017 und 2018 waren es 86 bzw. 88 Prozent. Wenn schon Hilfen, die angeboten werden, nicht abgerufen werden, muss sich niemand aus Thüringen hier hinstellen und sagen: Wir brauchen mehr Hilfe. – Das muss anders werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Die AfD fordert, die Finanzkraft der Länder zu stärken, um den Kommunen helfen zu können. Ich will nur darauf hinweisen, dass der Deutsche Bundestag einen neuen Bund-Länder-Finanzausgleich auf den Weg gebracht hat, der den Bundesländern 2020 etwa 10 Milliarden Euro zusätzlich bringen wird.
(Stefan Keuter [AfD]: Das reicht nicht!)
Wie kann man vor dem Hintergrund, dass 10 Milliarden Euro zusätzlich an die Länder gehen, sagen, da müsse noch mehr, mehr und mehr kommen? Das hat doch mit seriöser Politik nichts zu tun. Ganz im Gegenteil: Das ist Populismus pur.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Eine letzte Bemerkung zum Thema Renationalisierung. Renationalisierung – was für ein schlimmes Wort!
(Enrico Komning [AfD]: Was ist schlimm daran?)
Was wir in der Strukturpolitik brauchen, ist eine Europäisierung, weil Strukturwandel eben nicht an den Grenzen Halt macht. Es gibt viele Projekte zwischen Brandenburg und Polen, zwischen dem Bayerischen Wald und Tschechien, zwischen dem Niederrhein und den Niederlanden, wo grenzüberschreitend Strukturwandel betrieben und Strukturprobleme bekämpft werden. So geht erfolgreiche Strukturpolitik!
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Dass wir in Deutschland davon profitieren, sieht man an den Zahlen. Für den ländlichen Raum haben wir in der Förderperiode 2014 bis 2020 9,4 Milliarden Euro bekommen, aus dem EFRE für die strukturschwachen Regionen 10,7 Milliarden Euro, aus dem Europäischen Sozialfonds 7,5 Milliarden Euro und über die ETZ noch einmal 1 Milliarde Euro. Das heißt, allein in der letzten Förderperiode hat Europa den Wandel in den schwachen Regionen Deutschlands mit 28,6 Milliarden Euro unterstützt. Ich finde, das ist eine großartige Leistung und zeigt, dass die Solidarität innerhalb Europas den schwachen Regionen gilt, den schwachen Regionen in Deutschland, in Tschechien, in den Niederlanden, in Italien und in anderen Ländern in Europa. So muss Strukturpolitik aussehen!
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir werden uns nicht beirren lassen, weiterhin am Verfassungsziel festzuhalten, die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland anzustreben. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch: Wir werden gleichwertige Lebensverhältnisse nie im Sinne von gleichen Lebensverhältnissen erreichen; denn dafür ist Deutschland viel zu vielfältig, dafür ist Deutschland in seinen Regionen viel zu bunt, viel zu unterschiedlich. Wir können versuchen, Defizite auszugleichen; aber Gott sei Dank lebt es sich in Gelsenkirchen anders als in Berlin und im Salzlandkreis anders als in Sankt Wendel oder anderswo in der Republik. Diese Vielfalt ist es, die Deutschland ausmacht.
(Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Im schönen Rheingau!)
– Oder im Rheingau. Der Weinanbau funktioniert im Rheingau besser als in Mecklenburg-Vorpommern. Dafür ist der Fischfang in Mecklenburg-Vorpommern besser als bei uns im Ruhrgebiet.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Lassen Sie uns diese Vielfalt leben, die wir in Deutschland haben! Lassen Sie sie uns genießen! Wir werden weiter daran arbeiten, gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vielen Dank, Oliver Wittke. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Stephan Brandner.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7397475 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 122 |
Tagesordnungspunkt | Ländliche Räume |