18.12.2013 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 5 / Tagesordnungspunkt 5

Dietmar NietanSPD - Regierungserklärung zum Europäischen Rat

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir uns in diesem Parlament auch über sehr unterschiedliche Standpunkte austauschen. Erlauben Sie mir aber eine persönliche Bemerkung an die Kollegin Wagenknecht und den Kollegen Dehm: Dass die Sprecherin und der Sprecher der vermeintlichen Oppositionsführung in ihren Redebeiträgen nicht mit einem einzigen Wort Stellung bezogen haben zur Lage der Flüchtlinge in Europa, sondern sehr kalt und berechnend alte Klischees der Wirtschaftsideologie bedient haben, entlarvt sie. Das ist ein trauriges Zeugnis für Ihre Politik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein! Nein! „Die Würde des Menschen“ habe ich gesagt!)

Es ist eben einfacher, einen Popanz von den bösen Kapitalisten aufzubauen, als hier konkret zu sagen, was Sie tun wollen, damit die Situation der Flüchtlinge besser wird. Ich bin enttäuscht, dass Sie das mit keinem Wort erwähnt haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])

– Dass Sie jetzt so schreien, zeigt, dass dieser Schlag gesessen hat. Der entlarvt Sie nämlich.

(Lachen bei der LINKEN – Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Der schreit auch bei seinen Genossen!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf dem Europäischen Rat in Brüssel wird die Bundesrepublik Deutschland heute erneut von Frau Bundeskanzlerin Merkel vertreten, und entgegen dem, was die Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei uns erzählen wollen, spricht Frau Bundeskanzlerin dann für eine neue Bundesregierung und für eine andere Politik, für die wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diese Regierung eingetreten sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie spricht für eine neue Bundesregierung, die die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa wieder nach vorne schieben und nicht nur in Worthülsen belassen will. Sie spricht für eine neue Bundesregierung, die bei der Bewältigung der Krisenerscheinungen, die wir in Europa haben, nicht nur auf Konsolidierung setzt, sondern auch auf Zukunftsinvestitionen für mehr Wachstum und Beschäftigung.

Herr Kollege Nietan, darf der Kollege Gehrcke Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Nein.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das hat gesessen!)

Sie spricht für eine neue Bundesregierung, die bei allen notwendigen Strukturreformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit jetzt auch das Augenmerk auf die Sozialverträglichkeit von Strukturanpassungen legt, also für eine durchaus neue Politik. Ich glaube, auf diese neue Politik, die mit dem Eintritt der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in die Regierung möglich geworden ist, haben viele Regierungschefs in Europa offen – vielleicht auch insgeheim der eine oder andere Konservative – gesetzt. Sie hoffen auf eine neue Bundesregierung, die sich dafür einsetzt, dass es in Europa wieder sozialer und gerechter zugeht.

(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])

Denn auch für Europa gilt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das Wir entscheidet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Toller Beifall! Das hat gesessen!)

Unsere heutige Europäische Union darf nicht zu einer Versorgungsstelle für die Befriedigung vermeintlicher nationaler Interessen verkommen. Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft, und für eine Gemeinschaft gilt immer noch: Sie ist dann stark, wenn sie auch gemeinschaftlich handelt.

Natürlich brauchen wir neue Impulse für Beschäftigung in ganz Europa. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Es ist aus meiner Sicht nicht hinnehmbar, dass gut anderthalb Jahre nach der Beschlussfassung über den Pakt für Wachstum und Beschäftigung immer noch nicht alle Maßnahmen dieses Paktes umgesetzt sind. Auch wenn es hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung einiger Staaten den einen oder anderen Lichtblick am Horizont gibt, so sind wir noch lange nicht über den Berg. Ich will an dieser Stelle ergänzend zu dem, was die Bundeskanzlerin gesagt hat, betonen: Nicht nur die Staaten, die jetzt keine Leistungen aus den Hilfspaketen mehr benötigen, haben große Anstrengungen geleistet, sondern alle Staaten, allen voran Griechenland, haben große Anstrengungen geleistet. Das sollten wir an dieser Stelle würdigen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir dürfen die Augen allerdings nicht davor verschließen, dass wir es immer noch mit einer dramatisch hohen Jugendarbeitslosigkeit zu tun haben. In drei Mitgliedstaaten ist jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit, und in weiteren 16 Mitgliedstaaten liegt die Jugendarbeitslosenquote bei über 20 Prozent. Deshalb reichen – das sage ich sehr deutlich – die bisher verabredeten Maßnahmen der EU zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit nicht aus.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich erwarte von der neuen Bundesregierung, dass sie den schwarz-roten Koalitionsvertrag ernst nimmt, in dem klar steht: Diese Bundesregierung muss für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa mehr tun als ihre Vorgängerregierung.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt ein weiteres Thema, das aus meiner Sicht sehr entscheidend ist, aber in der öffentlichen Debatte nicht sehr oft die entsprechende Beachtung findet. Wir müssen in der Europäischen Union Systeme schaffen, die es ermöglichen, dass kleine und mittlere Unternehmen schnell und einfach an Kredite kommen. Denn wie wollen wir die wirtschaftliche Gesundung nicht nur in Griechenland voranbringen, wenn diejenigen, die dort neue Arbeitsplätze schaffen wollen, die sich engagieren wollen, vor einem Bankensystem stehen, das ihnen keine vernünftigen Kredite gibt? Das ist kein nationales Thema, sondern eines, für das wir uns auf europäischer Ebene einsetzen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Ich will kurz auf die sich im Trilog abzeichnende Einigung zu einer wichtigen Säule der Bankenunion, nämlich zu einem Abwicklungsmechanismus und Abwicklungsfonds für Banken, eingehen. Es ist völlig richtig, dass es bisher der falsche Weg war, dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler alleinige Haftung übernommen haben. Deshalb finde ich es gut – auch das kann man im schwarz-roten Koalitionsvertrag nachlesen –, dass laut dem, was ich vom Ecofin höre, die Entwicklung auf der europäischen Ebene jetzt in die richtige Richtung geht. Es muss eine Haftungskaskade geben, bei der eines klar ist: Die erste Priorität bei der Haftung haben die Eigentümer der Banken und nicht die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler;

(Beifall bei der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das träumst du nachts!)

danach kommen die großen Bankgläubiger und nicht die kleinen Sparer. Es ist gut, dass sich abzeichnet, dass die Einlagensicherung zumindest für Einlagen bis zu 100 000 Euro gewährleistet ist und dass die kleinen Sparerinnen und Sparer, sollte es zu Problemen kommen, in sieben Tagen an ihr Geld kommen können. Das reicht zwar noch nicht aus. Aber es zeigt, dass wir in die richtige Richtung gehen. Auch diejenigen, denen das nicht ausreicht, sollten zumindest diese Fortschritte nicht ignorieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum Schluss meiner Rede zur Situation der Flüchtlinge in Europa kommen. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, hat in einer, wie ich finde, bemerkenswerten Rede am 24. Oktober vor dem Europäischen Rat, vor den Staats- und Regierungschefs gesagt:

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Martin Schulz hat recht. Es ist ein Skandal, was jeden Tag, auch heute, an den Außengrenzen der Europäischen Union geschieht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Martin Schulz hat den Staats- und Regierungschefs am 24. Oktober außerdem in das Stammbuch geschrieben:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Entwurf der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, der 45 Punkte enthält, ist ganz am Ende, in den Punkten 41 und 42, zu lesen, der Europäische Rat bekräftige seine Entschlossenheit, das Risiko zu verringern, dass es in Zukunft zu weiteren Tragödien dieser Art kommt. Ich frage mich: Was haben die Kommission und die Staats- und Regierungschefs seit Anfang Oktober in Lampedusa getan? Das ist zu wenig, was in diesen Schlussfolgerungen des Europäischen Rates steht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist es unsere Aufgabe – nicht nur die der Bundesregierung –, sehr schnell daran zu arbeiten, dass es grundlegende Reformen gibt, auch beim System von Dublin II. Es kann nicht sein, dass sich reiche Staaten in Europa weigern, bei der Aufnahme von Flüchtlingen Solidarität mit den Staaten zu zeigen, die an unseren Außengrenzen liegen. Das ist nicht das Europa, das ich mir wünsche, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es kann auch nicht sein, dass die Drittstaatenabkommen, die wir mit Staaten wie Marokko treffen, den Charakter eines modernen Ablasshandels haben. Da wird Drittstaaten etwas Geld gegeben, und dafür sollen die dann die Flüchtlinge – ich sage das so deutlich – entsorgen. Wenn sie von Marokko in die Wüste geschickt werden, dann zuckt man hier mit den Schultern nach dem Motto: Wir haben mit denen doch ein Drittstaatenabkommen. – Das ist den Werten der Europäischen Union nicht würdig. Wir alle müssen etwas dafür tun, dass sich das schnell ändert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen für die Europäische Union ein legales Einwanderungssystem, wir brauchen mehr Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen, und – ich sage das sehr deutlich – wir sollten uns noch einmal den mehrjährigen Finanzrahmen der EU ansehen. Er spart nämlich ausgerechnet bei Maßnahmen für internationale Hilfen. Wenn wir es mit den Worten: „Wir wollen die Ursachen von Flucht, Verfolgung und Armut bekämpfen“ ernst meinen und gleichzeitig im mehrjährigen Finanzrahmen bei Maßnahmen für internationale Hilfen kürzen, sind wir zutiefst unglaubwürdig. An genau diesen Punkten müssen wir arbeiten, muss diese Regierung arbeiten. An diesen Punkten wird die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in dieser Regierung arbeiten. Es soll ja Leute gegeben haben – das habe ich mir sagen lassen –, die an der europapolitischen Zuverlässigkeit der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gezweifelt haben. Wir werden in den nächsten vier Jahren beweisen, dass diese Zweifel unberechtigt waren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Gehrcke das Wort.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/2960630
Wahlperiode 18
Sitzung 5
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zum Europäischen Rat
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