17.01.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 9 / Tagesordnungspunkt 15

Norbert Lammert - Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Europa hat, denke ich, dauerhaft nur eine Chance, wenn die Bürgerinnen und Bürger dieses Europa aktiv für sich begreifen und sich auch damit identifizieren.

(Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD])

Das gilt natürlich insbesondere im Mai dieses Jahres, wenn die Bürger in Europa erneut die Wahl haben und wieder mit Europa in Berührung kommen. Es reicht aber nicht aus, das immer nur in Wahljahren zu betonen. Vielmehr müssen sich Europa und die europäische Idee für die Bürgerinnen und Bürger verstetigen. Schon aus diesem Grunde muss Europa sozialer, demokratischer und damit auch solidarischer werden.

(Beifall bei der SPD)

Meine Kollegin Dagmar Schmidt hat eben schon deutlich gemacht, dass wir uns vor einer Armutszuwanderung nicht fürchten müssen. Schon die große Erweiterungsrunde im Jahr 2004, als die Europäische Union um zehn Mitgliedstaaten anwuchs, hat bewiesen, dass Vorurteile und Besorgnisse unberechtigt waren. Dies gilt für den Arbeitsmarkt genauso wie für die sozialen Sicherungssysteme und für die Kriminalitätsentwicklung, die ich als Polizeibeamter damals besonders im Auge hatte.

Dabei – das sage ich ein wenig mahnend – ist es nicht hilfreich, Ängste zu schüren und Ressentiments aufzubauen. Die Töne der letzten Wochen aus dem Süden der Republik sind dem europäischen Gedanken nicht gerade förderlich,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

und – das sage ich in aller Deutlichkeit – sie sind nicht angemessen. Sie zeugen eher von fehlender Sensibilität und – das ist für mich besonders bedauerlich – von fehlender Kenntnis des EU-Rechts und des nationalen Rechts.

Oftmals wird Europa als Alibi genutzt oder schlicht verschwiegen: in diesem Hohen Haus, in den Länderparlamenten, in den Regierungen in Bund und Ländern. Wenn es etwas Positives für die Bürgerinnen und Bürger zu vermelden gibt, dann fehlt oft der Hinweis darauf, dass man lediglich europäisches Recht in nationales umgesetzt hat. Bei den die Bürger belastenden Vorgängen versteckt man sich hingegen oft gerne dahinter, dass man gezwungen war, europäisches Recht auf nationaler Ebene umzusetzen: „Die da in Brüssel sind schuld“, lautet oft die Rechtfertigung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche mir, dass wir alle miteinander ehrlicher werden. Hand aufs Herz: Jeder hier im Saal weiß, dass in Brüssel nichts läuft, was nicht vorher in Berlin abgenickt wurde.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Hört! Hört!)

Ich will damit sagen: Wir brauchen eine bessere Kommunikation über Europa, aber vor allen Dingen mit den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam zu Europa. Wir müssen erklären, was Europa bedeutet. Europa entscheidet eben nicht nur über die Krümmung der Banane, sondern hat oftmals auch auf unsere Forderung hin wesentliche Verbraucherrechte entscheidend gestaltet und ausgebaut. Das ist, denke ich, in einer Welt des globalisierten Handels wichtig.

Europa muss eben nicht nur Krisen bewältigen. Es muss den Euro nicht nur retten, sondern hat mit dieser Währung auch viele Vorteile für die Menschen und die Unternehmen geschaffen, die grenzenlos reisen, handeln oder schlicht die Preise vergleichen wollen. Europa kostet die Steuerzahler eben nicht nur viel Geld, sondern ist Motor für unsere Wirtschaft und damit auch Motor für den Arbeitsmarkt in Deutschland.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir dürfen den Menschen nicht nur Finanztheorien erläutern und Fachchinesisch vorbeten, sondern müssen ihnen direkt und klar sagen, dass zum Beispiel deutsche Automobilhersteller Arbeitskräfte in Deutschland entlassen müssten, wenn deren Autos in Griechenland, Portugal oder Spanien nicht mehr gekauft werden können, weil viele Menschen dort um ihre Existenz fürchten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Europa will eben nicht nur die Vorratsdatenspeicherung, sondern Europa hat auch einen einzigartigen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts geschaffen, im Sinne der Bürgerinnen und Bürger und ihres Anrechts auf Freizügigkeit und auf Sicherheit im Alltag.

Die Europäische Union wird durch ihre Erweiterungen nicht in ihren Grundwerten bedroht, sondern erlebt einen Zuwachs an kultureller Vielfalt, von dem unsere Gesellschaften nur profitieren können.

Europa darf nicht nur an seinen Krisen und den Kosten zu deren Bewältigung gemessen werden, sondern daran, wie viel Mut alle Beteiligten aufbringen, die Haushalte einiger Mitgliedstaaten nicht nur durch Sparzwänge, sondern auch gleichberechtigt zu konsolidieren, also über Programme für Wachstum und Beschäftigung dafür Sorgen zu tragen, dass es dort wieder aufwärts geht. Dabei sind aber auch – ich sage das mit allem Nachdruck – diejenigen an den Kosten zu beteiligen, die sie verursacht haben.

(Beifall bei der SPD – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ja! Da fehlt aber noch was!)

Europa darf nicht ausschließlich auf den nächsten Haushalt und auf Austerität schielen, also auf Sparen um jeden Preis, sondern muss Sorge dafür tragen, dass diejenigen, für die die Zukunft Europas gestaltet wurde, diese Zukunft auch erleben und an ihr teilhaben können, nämlich die Jugend Europas.

(Beifall bei der SPD)

Die Europäische Kommission scheint einiges davon verstanden zu haben. Für ihr Arbeitsprogramm hat sie nicht mehr viel Zeit. Ich bewerte es aber als sehr positiv, dass die Förderung von Wachstum und Beschäftigung, insbesondere die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, stärker in den Blickpunkt gerückt wurde. Denn die größte Bedrohung für den sozialen Frieden innerhalb Europas ist – neben dem Verlust des Arbeitsplatzes – die Perspektivlosigkeit junger Menschen. Denn wie soll jemand, der schon selbst keine Perspektiven hat, für künftige Generationen Perspektiven schaffen?

(Beifall bei der SPD)

Daher muss sichergestellt werden, dass die entsprechenden Mittel zügig eingesetzt werden.

Die Jugend ist Europas Zukunft; das habe ich schon gesagt. Gerade für sie müssen wir etwas tun, gerade für sie müssen wir Chancen eröffnen. Dies ist nicht nur unsere Verantwortung; es ist auch unsere soziale Verpflichtung. Nur wenn die Jugend, wenn die Menschen insgesamt in sozialer Sicherheit leben können, ist auch der soziale Friede in Europa gesichert, und nur dort, wo sozialer Friede herrscht, kann auch wirtschaftlicher Wohlstand wachsen. Deshalb sollten wir über gute Programme nicht nur reden, sondern auch alles tun, um sie schnellstmöglich umzusetzen. Die Zeit, die der Kommission für ihr Arbeitsprogramm zur Verfügung steht, ist kurz.

Ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Europa hat nur dann eine Chance – das habe ich eben gesagt –, wenn wir die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Wir müssen darauf drängen, dass die Kommission nun schnell die wesentlichen Maßnahmen umsetzt. Wenn dies nicht gelingt, verlieren viele Menschen in Europa viel Zeit zur Lösung ihrer Probleme. Damit verlieren sie auch ihre Perspektiven. Ich denke, es ist unerlässlich, dass Maßnahmen für mehr Wachstum und Beschäftigung und zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gleichberechtigt neben Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung stehen, dass die aus der Sparpolitik resultierenden Belastungen gleichmäßig verteilt werden und nicht einseitig von den sogenannten kleinen Leuten getragen werden müssen.

Mit meinem Dank für die Aufmerksamkeit äußere ich noch einen Wunsch: Ich will weiter für ein soziales Europa arbeiten und daran glauben, dass es ein Europa der Bürgerinnen und Bürger gibt. Dieses Europa soll nicht nur Banken retten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch Ihnen, Herr Kollege Spinrath, gratuliere ich herzlich zu Ihrer ersten Rede. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit.

(Beifall)

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Peter Gauweiler für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3048035
Wahlperiode 18
Sitzung 9
Tagesordnungspunkt Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission
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