Luise AmtsbergDIE GRÜNEN - Flüchtlingspolitik der Europäischen Union
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte der Fraktion der Linken erst einmal ausdrücklich dafür danken, dass Sie gleich zu Beginn der Legislaturperiode dieses für uns sehr wichtige Thema auf die Tagesordnung geholt haben. Absolut zutreffend problematisiert Ihr Antrag die Fehlleitungen der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik, die bereits viele Menschen das Leben gekostet hat. Er problematisiert den unerträglichen Umgang mit den vor der ständig wachsenden Zahl an bewaffneten Konflikten sowie vor Verfolgung, Diskriminierung oder existenzieller Armut flüchtenden Menschen.
Seitdem die griechisch-türkische Landesgrenze unter anderem mithilfe deutscher Beamter der Frontex-Mission Poseidon in den letzten Jahren immer stärker abgeriegelt wurde, bleibt Flüchtlingen neben dem Landweg von der Türkei nach Bulgarien nur noch der lebensgefährliche Weg über das Mittelmeer, um in die Europäische Union zu gelangen. Die grausame Realität, dass dieser Weg in vielen Fällen tödlich endet, haben uns die Bilder von Hunderten nebeneinander aufgereihten Särgen in Lampedusa wieder ins Bewusstsein gerufen.
Viele Politiker und Politikerinnen der EU, auch hier in der Bundesrepublik, hielten für einen Moment inne und gaben Versprechen ab, dass Tragödien wie diese nie wieder geschehen dürfen. Nur acht Tage nach dem ersten Bootsunglück geriet ein weiteres Boot in Seenot. 250 Menschen verloren ihr Leben einen Steinwurf von Lampedusa entfernt, weil die italienischen Behörden zwar den Notruf erhielten, aber das Boot sich in maltesischen Hoheitsgewässern befand.
Wie ein schlechter Scherz klangen die klagenden Worte des italienischen Ministerpräsidenten Letta, der sagte, die Menschen, die vor Lampedusa ihr Leben verloren haben, seien ab diesem Tage Italiener. Die Überlebenden wurden hingegen laut Informationen der Menschenrechtsorganisation borderline-europe über 100 Tage illegal in Lampedusa festgehalten und erst am vergangenen Sonntag als Zeugen zu einer Gerichtsanhörung nach Sizilien gebracht. Auch bedurfte es erst der schockierenden Videoaufnahmen aus dem privat betriebenen Aufnahmezentrum in Lampedusa – auf denen war zu sehen, dass Flüchtlinge nackt ins Freie getrieben und desinfiziert wurden –, bis die unmenschlichen Bedingungen in solchen Zentren in das öffentliche Bewusstsein gerückt wurden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, von dem Mitgefühl und dem schlechten Gewissen nach dem 3. Oktober haben zynischerweise nicht die Überlebenden profitiert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Deswegen müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen, dass das Sterben die Folge unserer europäischen Flüchtlingspolitik ist, ein System, das seit vielen Jahren auf Abschreckung und eine militärisch hochgerüstete Abschottungspolitik setzt statt auf den Schutz von Menschen in einem Europa der Menschenrechte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn diese Trauerbekundungen und die Scham über diese Unglücke keine bloßen Lippenbekenntnisse bleiben sollen, dann müssen wir an dieser Politik nahezu alles ändern, was möglich ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Rüdiger Veit [SPD]: Nicht alles, aber viel!)
Europa kommt bei dem Ziel einer gemeinsamen Asylpolitik nicht voran. Wenn es aber um Grenzüberwachung oder Maßnahmen der Grenzsicherung geht, dann fließen die Millionen, und die europäischen Staatschefs freuen sich über so wahnsinnig viel gemeinschaftliches Handeln. Das ist kaum zu ertragen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Seit einigen Wochen ist das Europäische Grenzüberwachungssystem EUROSUR in Kraft. Mit ihm möchte man glaubhaft machen, dass es dazu dient, Katastrophen wie vor Lampedusa zu verhindern. Ich sage Ihnen nach den letzten Jahren mit Blick auf die Flüchtlingspolitik ganz ehrlich: Ich habe die Nase voll, mir an der Stelle ein X für ein U vormachen zu lassen
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
und zu glauben, die Taskforce Mittelmeer, EUROSUR, Frontex oder nationale Militäroperationen wie das italienische Mare Nostrum wurden auf den Weg gebracht, um Flüchtlinge zu retten.
Wir wissen genau, dass Frontex über Jahre hinweg Flüchtlingsboote zurück- und abgedrängt hat. Die Aufgaben und das Budget der Grenzschutzagentur Frontex werden fortlaufend ausgeweitet, während die Agentur sich weigert, einen wirksamen Beschwerdemechanismus zu ermöglichen. Dabei streitet Frontex nicht einmal mehr ab, dass sie an völkerrechtswidrigen Zurückweisungen beispielsweise vor der Küste Griechenlands beteiligt war.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen: Deutschland hat derzeit den Vorsitz im Frontex-Verwaltungsrat inne. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich für eine Überprüfung dieser Vorwürfe und für eine schärfere parlamentarische Kontrolle einsetzt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Wir können einfach nicht dulden, dass europäische Institutionen völkerrechtswidrige Praktiken anwenden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein paar Worte zu Dublin III. Ich habe vor kurzem Europas größtes Flüchtlingscamp in Mineo auf Sizilien besucht, das statt der maximalen Kapazität von 2 000 Menschen derzeit 4 000 Menschen im Nirgendwo isoliert. Im Gespräch mit Flüchtlingen fand ich heraus, dass es bis zu 14 Monate dauert, bis der Antrag auf ein Asylverfahren bearbeitet wird. In der Zwischenzeit müssen Menschen unter desolaten Zuständen in völlig überfüllten Lagern ausharren. Wer das Lager verlässt, wird aufgrund des Fehlens jedweder sozialer Leistungen in die Obdachlosigkeit gedrängt. Gespräche mit Präfekten, aber auch dem italienischen Innenministerium haben verdeutlicht, wie schwierig es für Italien ist, dieser Situation dauerhaft und vor allen Dingen auf sich allein gestellt gerecht zu werden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung muss endlich bereit sein, anzuerkennen, dass das Schicksal dieser Menschen nicht nur eine italienische Angelegenheit ist. Wir tragen gemeinsam Verantwortung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Allein die nackten Zahlen sollten Ihnen eigentlich verdeutlichen, dass das Dublin-System nicht mehr zu rechtfertigen ist. Eine Rückschiebung von Deutschland nach Griechenland wurde gerade im vierten Jahr in Folge ausgesetzt – zu Recht, sage ich da nur. Italien, Bulgarien und weitere EU-Mitgliedstaaten werden folgen; denn bereits jetzt wird ein Viertel der Rücküberstellungen nach Italien von Verwaltungsgerichten gestoppt, da Dublin-Rückkehrer im Erstaufnahmeland unter menschenunwürdigsten Bedingungen leben müssen.
Statt 30 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt zur Stärkung der italienischen Militärpräsenz im Mittelmeer mitzuzeichnen, wäre das Geld viel besser angelegt, die Seenotrettung durch die zivile Küstenwache gezielt zu stärken und die Anzahl der Flüchtlingsunterbringungen zu erhöhen sowie deren Qualität zu verbessern.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)
Das Ziel der Grünenfraktion ist die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Schutzraumes, in dem einheitliche und hohe Standards für die Unterbringung und den Schutz von Flüchtlingen endlich Realität werden. Gleichermaßen müssen wir auch die Bedürfnisse der Flüchtlinge besser berücksichtigen. Sie sollen die Möglichkeit haben, in dem Mitgliedstaat Asyl zu beantragen, in dem sie bereits familiäre Bindungen oder soziale Netze haben, dessen Sprache sie sprechen oder dem sie sich kulturell nahe fühlen.
Für einen Paradigmenwechsel in der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik muss der erste Schritt also sein, Maßnahmen zu ergreifen, die verhindern, dass das Mittelmeer zu einem Massengrab wird. Ich sage ganz klar: Der erste Schritt, den wir unternehmen müssen, ist, die Abschottungspolitik zu beenden. Vor allen Dingen das Fehlen legaler Einreisemöglichkeiten muss ein Ende haben. Meine Fraktion ist der Auffassung, dass dies auch gelingen kann, wenn man sich mit den anderen europäischen Staaten austauscht. Es ist wichtig, dass sich die gesamte Europäische Union verantwortlich zeigt. Das unsägliche Hin-und-her-Geschiebe von Menschen in Europa muss aufhören; denn das wird der europäischen Idee nicht gerecht.
Militärische Hochrüstung oder Überwachungssysteme wie EUROSUR, mithilfe derer wir unsere Grenzen sozusagen auf den afrikanischen Kontinent verlagern und Verantwortung an Staaten wie Libyen abgeben, sind ganz sicher nicht der richtige Weg. Es ist schon richtig: Man muss den Blick auch auf die Herkunftsländer richten, aber meine Hoffnung, dass da in nächster Zeit viel passiert, ist sehr gering. Die Frage ist: Was machen wir mit den Menschen, die in der Zwischenzeit Schutz suchen?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Darauf müssen wir eine Antwort geben. Zu sagen: „Wir warten darauf, dass es endlich eine Lösung vor Ort gibt“, ist schlichtweg verantwortungslos und unmenschlich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Herr Innenminister de Maizière ist gerade nicht anwesend. Am Mittwoch bei der Befragung der Bundesregierung hat er deutlich gemacht, dass Deutschland Einwanderung braucht. Auch wir sind dieser Auffassung. Deutschland hat immer von Einwanderung profitiert. Zudem spricht die demografische Entwicklung der Bundesrepublik eine klare Sprache. Ich sage ausdrücklich: Auch Menschen, die eine Flüchtlingsgeschichte haben, bereichern unsere Gesellschaft und können Teil unseres Arbeitsmarktes sein. Deshalb könnten wir überlegen, die Integrations- und Sprachkurse auszuweiten, um diesen Menschen eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben zu geben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Ich rate Herrn de Maizière, die Chance des Neubeginns für diese Regierung zu nutzen und sich von der Politik seines Vorgängers zu distanzieren. Ich kann für meine Fraktion versprechen: Wir stehen als konstruktive Kraft an der Seite des Innenministers. Der Startpunkt für eine Zusammenarbeit ist für uns allerdings einzig und allein die Bereitschaft, dass Deutschland seine Blockadepolitik innerhalb der EU aufgibt, über legale Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge in die EU berät und die in Dublin III manifestierte Ignoranz gegenüber den südeuropäischen Staaten endlich aufgibt. Ohne das wird dem Sterben auf dem Mittelmeer kein Einhalt geboten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Wir danken Ihnen und gratulieren Ihnen zu Ihrer ersten, sehr engagierten Rede im Bundestag. Wir alle wünschen Ihnen viel Kraft und viel Erfolg bei dieser sehr verantwortungsvollen Arbeit.
(Beifall)
Jetzt freue ich mich auf die nächste Rednerin. Das ist Christina Kampmann für die SPD.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3050380 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 9 |
Tagesordnungspunkt | Flüchtlingspolitik der Europäischen Union |