17.01.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 9 / Tagesordnungspunkt 16

Claudia Roth - Flüchtlingspolitik der Europäischen Union

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich noch gut an die Katastrophe vor Lampedusa erinnern. Es waren Bilder des Schreckens, die uns erreichten, Bilder, die man nicht vergisst und die vor allem nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Es waren Bilder, die mich gerade deshalb zutiefst berührt haben, weil sie uns das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik so eindrucksvoll vor Augen geführt haben, dass ich dachte: Jetzt kann man selbige doch eigentlich nicht mehr vor dem Elend dieser Menschen verschließen. Am 3. Oktober 2013 – damals war ich noch keine zwei Wochen Mitglied des Bundestags – wusste ich, dass nun auch ich eine ganz besondere Verantwortung für das Leben dieser Menschen trage.

Die Ereignisse vor Lampedusa waren jedoch nur in ihrem Ausmaß einzigartig. In ihrer Grausamkeit sind diese dagegen fast traurige Alltäglichkeit; denn der 3. Oktober 2013, an dem mehrere Hundert Menschen vor Lampedusa ertranken, ist kein Einzelfall. Das ist die bedrückende Konsequenz der Ungleichheit der Lebensverhältnisse in unserer Welt. Seit diesem Tag sind viele Wochen vergangen, in denen viel hätte passieren können, in denen jedoch nichts passiert ist.

(Beifall bei der SPD)

Genau deshalb begrüße ich den Antrag der Fraktion Die Linke, der uns an unsere gemeinsame europäische Verantwortung für eine Flüchtlingspolitik erinnert, die Menschlichkeit anstelle von Herabsetzung und Objektivierung und die Solidarität anstelle von Verantwortungsentzug und Rückbesinnung auf nationale Interessen setzen sollte.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Genau das sind aber auch die Gründe dafür, weshalb der Antrag zwar einige in die richtige Richtung gehende Aspekte aufzeigt, an anderen Stellen jedoch Vorschläge enthält, die gerade das konterkarieren, was unserer Meinung nach wichtig ist. So muss die Rettung von in Seenot geratenen Menschen, wie sie unter II. e) des Antrags der Linken angesprochen wird, natürlich ein selbstverständliches Gebot menschlicher Achtung voreinander sein; denn alles andere widerspricht nicht nur unseren moralischen Wertvorstellungen, sondern auch den völkerrechtlichen Verträgen. Dass an dieser Selbstverständlichkeit Zweifel aufgekommen sind, müssen wir ernst nehmen und dafür Sorge tragen, dass Seenotrettung künftig weder an Kompetenzstreitigkeiten noch an Sanktionen gegen mögliche Retter scheitert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es darf keine Kriminalisierung von Menschen geben, die andere Menschen retten; das sage ich mit aller Ausdrücklichkeit. Alles andere ist ein Skandal, den wir nicht zulassen dürfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Für die Achtung des im Koalitionsvertrag genannten Grundsatzes der Nichtzurückweisung und der Pflicht zur Seenotrettung werden wir deshalb auf europäischer Ebene entschieden eintreten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben auch recht, wenn es darum geht, die Arbeit von Frontex kritisch zu begleiten. Wer aber so wie Sie die Arbeit von Frontex pauschal ablehnt und für eine Auflösung plädiert, der verkennt zweifellos die wichtige ordnungspolitische Funktion. Unsere Antwort muss stattdessen eine strenge Verpflichtung zu einem gemeinsamen europäischen Grenzschutz durch die EU sein, die unserem europäischen Wertesystem gerecht wird.

In die falsche Richtung geht aber vor allem einer der Kernpunkte des Antrags, zumindest dann, wenn man sich die Mühe macht, diesen zu Ende zu denken. Der Vorschlag, dass Asylsuchende künftig die freie Entscheidung haben sollen, in welchem Mitgliedstaat sie ein Asylverfahren durchführen wollen, klingt aus Sicht der Asylsuchenden zwar ziemlich verlockend, ist dies aber tatsächlich nur sehr vordergründig; denn abgesehen von der praktischen Umsetzbarkeit eines solchen Free- Choice-Verfahrens muss mit einem Unterbietungswettbewerb der betroffenen Staaten in puncto Aufnahme und Verfahrensbedingungen nach unten gerechnet werden, frei nach dem Motto: Wer die schlechtesten Bedingungen anbietet, der macht sich auch am unattraktivsten für Asylsuchende. – Bei aller berechtigten Kritik an Dublin II und Dublin III kann und sollte ein solches Verfahren nicht das Ziel europäischer Zusammenarbeit sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn wir über eine europäische Flüchtlingspolitik reden, dann geht es zunächst einmal um die Menschen, die bei uns Schutz vor Verfolgung, vor Krieg und Diskriminierung suchen. Niemand verlässt sein Zuhause, seine Freunde und Familie unter Gefährdung des eigenen Lebens einfach so. Diejenigen, die zu uns kommen, sind zunächst einmal weder eine Last noch ein Kostenfaktor, sondern das sind Menschen, die bei uns Schutz suchen und deshalb unseren Respekt verdienen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Verantwortung können wir aber nur dann ernsthaft übernehmen, wenn wir eine Flüchtlingspolitik in Europa gestalten, die Solidarität auch wirklich ernst meint, die Probleme nicht auf den Schultern geografisch zufällig günstig gelegener Länder ablädt, sondern die ein echtes Interesse an einer gemeinsamen europäischen Lösung hat.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Zugegeben, eine optimale Lösung gibt es nicht. Dass es so nicht weitergehen kann, ist aber offensichtlich. Die Umstände, in denen Flüchtlinge, insbesondere in Griechenland, leben müssen, sind alles, aber mit Sicherheit nicht menschenwürdig. Völlig überfüllte Lager, in denen die Asylsuchenden unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen, gehören dort zum Alltag. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 10 Prozent der griechischen Bevölkerung Flüchtlinge sind. Stellen Sie sich einmal vor, das wäre bei uns der Fall. Stellen Sie sich einmal vor, 10 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen würden hier Asyl suchen. Was glauben Sie, was hier los wäre? Griechenland ist damit vollkommen überfordert und fühlt sich zu Recht von uns alleingelassen.

Egal ob Dublin II oder III: Das Kernproblem der extrem ungleichen Verteilung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in der Europäischen Union besteht weiterhin und bliebe im Übrigen auch dann bestehen, wenn wir dem Antrag der Linken in dieser Form zustimmen würden,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

mit allen Problemen, die für Flüchtlinge und für die davon betroffenen Länder damit verbunden sind.

Das kann und das darf so nicht weitergehen. Es liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung, hier endlich aktiv zu werden und eine Lösung zu finden, die genau das widerspiegelt, was wir immer wieder gerne sagen, wonach wir aber nicht immer handeln.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Solidarität in Europa muss unser gemeinsames Anliegen sein. Wir lehnen Dublin II und III in seiner jetzigen Form deshalb ab, weil es unsozial ist, weil es unsolidarisch ist und weil es ungerecht ist. Stattdessen setzt die SPD auf Verantwortungsteilung, ohne der Illusion zu erliegen, dass es eine einfache Lösung geben kann.

Quoten analog dem Königsteiner Schlüssel in Verbindung mit einem finanziellen Ausgleich bei Überschreitung selbiger können aber ein sinnvoller Ansatz sein; denn das entspricht erstens einer gemeinsamen europäischen Lösung, die solidarisch und gerecht ist, es trägt zweitens den Bedürfnissen der Migrantinnen und Migranten hinsichtlich Familienzugehörigkeit und Sprachkenntnissen zumindest besser, als es derzeit der Fall ist, Rechnung, und es ermöglicht drittens eine Harmonisierung der Schutzstandards, die nicht nur auf dem Papier steht, sondern die auch faktisch umgesetzt werden kann.

(Beifall bei der SPD)

Angesichts der menschenunwürdigen Bedingungen, wie wir sie heute in einigen Ländern vorfinden, ist genau das mehr als notwendig. Mit diesem Ansatz wäre es möglich, die Bedürfnisse der Asylsuchenden mit der Notwendigkeit einer solidarischen und gerechten Flüchtlingspolitik auf europäischer Ebene bestmöglich zu verbinden. Fest steht, dass wir uns diese Debatte nicht leichtmachen dürfen, fest steht aber auch, dass wir schnell zu Lösungen kommen müssen, die eine so extrem ungleiche Verteilung, wie wir sie derzeit in Europa erleben, endlich beenden.

Bereits vor zehn Jahren hat Kofi Annan gesagt – ich zitiere –:

Seitdem sind viele Menschen auf dem Seeweg nach Europa ertrunken. Sie haben sich auf den Weg gemacht, weil sie verfolgt werden, weil sie Angst um ihr Leben haben oder weil sie in ihrer Heimat ganz einfach keine Perspektive für sich sehen und in Europa auf ein besseres Leben hoffen. Was sie hier erwartet, sollte uns alle beschämen. Das sollte uns nachdenklich werden lassen, das sollte uns handeln lassen.

Deshalb wünsche ich mir, dass wir uns – damit meine ich ausdrücklich auch die Fraktion Die Linke – unserer Verantwortung als Europäerinnen und Europäer stellen und eine solidarische Lösung finden, die vor allem einem gerecht wird: der Würde der Menschen, die bei uns Zuflucht suchen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, liebe Kollegin Christina Kampmann. Auch Ihnen Gratulation des ganzen Hauses zu Ihrer ersten, sehr engagierten Rede.

(Beifall)

Aller guten Dinge sind drei: Später hören wir eine weitere erste Rede.

Aber zunächst spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke. Es ist nicht seine erste Rede, wahrscheinlich auch nicht seine letzte.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3050401
Wahlperiode 18
Sitzung 9
Tagesordnungspunkt Flüchtlingspolitik der Europäischen Union
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