Frank HeinrichCDU/CSU - Flüchtlingspolitik der Europäischen Union
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist viel gesagt worden, und bei dem, was wir dabei denken und fühlen, gibt es eine große Schnittmenge.
Humanitäre Hilfe ohne Humanität wird ganz schnell zu Bürokratismus verkommen. Humanität ohne gesetzlich fixierte Strukturen kann wiederum ganz schnell zu Sozialromantik verführen.
Wer über Krankheitserreger schwadroniert, ohne die Wunden zu verbinden, der macht sich schuldig. Doch wer immer nur Sälbchen schmiert, ohne den Ursachen zu begegnen, der beruhigt zwar auf der einen Seite sein Gewissen, löst aber auf der anderen Seite das Problem letztlich nicht. Daher braucht man beides: ganz persönliche emotionale Betroffenheit und ein stimmiges europäisches Handlungskonzept, wie wir das von den Rednern der verschiedensten Fraktionen übereinstimmend gehört haben.
Wir erleben eine humanitäre Katastrophe vor unserer Haustür; anders können wir das nicht nennen. Dazu dürfen wir weder schweigen noch Ängste schüren.
Ihnen, meine Damen und Herren von der Linkspartei, gebührt das Verdienst, uns mit diesem Antrag, den wir heute in der ersten Sitzungswoche dieses Jahres debattieren, in der ersten Plenarwoche nach der Konstituierung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, die Dringlichkeit der Katastrophe vor Augen zu führen. Dafür danke!
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guck mal!)
Sie müssen sich aber auch sagen lassen, dass Sie durch die Formulierung „Massensterben“ in der Überschrift und auch später im Antragstext so massiv polemisieren, dass man versucht ist, diesen Antrag so zu deuten, dass dies eine parteipolitisch motivierte populistische Spielwiese für Sie ist. Sei es drum.
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Quatsch!)
Die Menschen sind es wert, dass wir unsere Augen nicht verschließen und alle Kräfte bündeln, wie mein Kollege Veit es gerade gesagt hat, um das Leid an den Grenzen der EU zu vermindern. Helfen wir den Menschen, und behandeln wir die Ursachen! Beginnen wir bei den Menschen!
Lassen Sie mich, bevor ich mich einigen Zahlen zuwende – es sind schon viele genannt worden –, ein Erlebnis wiedergeben, von dem EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso berichtet hat, als er hier in Berlin war.
Ja, er als Person war umstritten, als er kurz nach der Katastrophe nach Lampedusa ging. Aber dann erzählte er, was sich bei ihm ins Gedächtnis eingebrannt hat, als er die Leichen und darunter insbesondere eine sah. Er berichtete von einer gebärenden Mutter, deren Nabelschnur noch nicht einmal getrennt war. Säugling und Mutter waren tot.
Diese Bilder schockieren. Wir müssen diese Geschichten kennen, uns ihnen stellen und sie uns zumuten. Genau darum geht es. Hinter jeder dieser Statistiken und Zahlen, von denen wir heute gehört haben und gleich noch hören, stehen einzelne Menschen, und mit jedem Menschen stirbt auch Hoffnung, eine Zukunft. Jeder dieser Menschen hat ein Recht auf Leben, auf Überleben und auf ein Leben in Würde.
Zur Situation am 3. Oktober 2013: Der 3. Oktober ist ein Tag, an dem wir in Deutschland jedes Jahr einen Triumph der Menschenrechte feiern. Dieser Tag war 2013 ein schwarzer Tag für die Menschenrechte: über 400 Tote vor Lampedusa. Es gab öffentliche Reaktionen – wir haben es gerade gehört – von Papst Franziskus bis zu Vertretern aller unserer Fraktionen und weit darüber hinaus.
In Syrien erleben wir derzeit eine schon lange andauernde Katastrophe mit 2 Millionen Flüchtlingen. Ich konnte mich unter anderem mit Kollegen aus anderen Fraktionen davon überzeugen, wie der Libanon damit umgeht, ein geplagtes Land, das in der Geschichte schon häufiger Flüchtlinge aufgenommen hat. Dieses Land muss jetzt erneut damit umgehen – übrigens auch mit deutscher Hilfe an verschiedenen Stellen; einiges wurde vorhin schon genannt. Darüber hinaus steht ihm mit dem World Food Programme auch ein neues Programm zur Verfügung, mit dem es auf ganz moderne und individuelle Art und Weise helfen kann. Tatsächlich möchte ich hier jene Menschen in den Nachbarländern loben, die helfen und Flüchtlingen ihre Wohnungen zur Verfügung stellen, deren Zahl sich, wenn wir in Deutschland auf eine ähnliche Quote wie der Libanon kommen wollten, auf 20 Millionen Menschen belaufen würde.
Im Mittelmeer ist die Zahl der Landungen von Bootsflüchtlingen vor Italien wieder nach oben gegangen. 2011 war diese Zahl schon einmal sehr hoch, sie lag bei etwa 64 000. 2012 ging sie zurück. Jetzt ist diese Zahl fast wieder genauso hoch wie vorher.
Einige Punkte aus Ihrem Antrag möchte ich gerne aufnehmen und, wie Sie sich vorstellen können, entsprechend gegenhalten. Die Toten seien Opfer der Asylpolitik der Bundesregierung. – Es wurde hier immer wieder darauf hingewiesen: Die Probleme entstehen vor Ort; auch mein Kollege Huber hat das in seiner Frage erwähnt. Die Flucht der Menschen vor diesen Problemen, etwa dem Krieg in Syrien, ist meist die Folge. Die Schleuserbanden verdienen mit der Not dieser Menschen ein Heidengeld. Damit gilt es, auf diese Art der Kriminalität einen besonderen Fokus zu legen.
Sie schreiben, Frontex sei eine Abschottungsmaßnahme. Ich sage: 2011/2012 – mein Kollege hat es vorhin auch gesagt – konnten durch die Hilfe von Frontex 40 000 Menschen gerettet werden.
In Ihrem Antrag heißt es, Deutschland sei nur in absoluten Zahlen bei der Aufnahme von Flüchtlingen führend, nicht aber im Verhältnis zur Bevölkerung und Wirtschaftskraft, also der Quote an Menschen, die wir aufnehmen müssten. – Wir nehmen pro 1 Million Einwohner 945, Italien 260 Asylbewerber auf. Oft entsteht genau der entgegengesetzte Eindruck. Ja, unsere Ablehnungsquote beträgt 70 Prozent. Darüber müssen wir tatsächlich nachdenken. Insgesamt halten sich im Moment in Deutschland 600 000 Flüchtlinge auf. Der Eindruck, der manchmal entsteht, ist ein ganz anderer.
Ein paar Schlussfolgerungen – Sie haben in Ihrem Antrag Forderungen gestellt –: Was braucht es also? Es braucht unserer Meinung als Entwicklungspolitiker und als Menschenrechtspolitiker nach in erster Linie die Hilfe vor Ort: abgestimmte internationale humanitäre Hilfe, im Moment besonders in Syrien. Ich habe die positive Rolle des Libanon erwähnt und möchte in diesem Zusammenhang auch Jordanien oder Saudi-Arabien nicht vergessen.
Es braucht einen Schwerpunkt beim Flüchtlingsschutz und bei der Realisierung menschenrechtlicher Standards in den Flüchtlingslagern, insbesondere in den Anrainerstaaten der Krisengebiete, aber auch der Transitstaaten und weiterer Drittstaaten. Hin und wieder heißt das auch – da stehen wir natürlich zu Ihnen, den Linken, im Widerspruch – UN-mandatierte Blauhelm- und NATO-Einsätze. Unsere internationale Verantwortung bringt das mit sich.
Es braucht eine mittel- und langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Afrika und eine Stabilisierung der Krisengebiete. Ich habe mich gefreut, dass in der EU-Kommission neu darüber nachgedacht wird – das ist noch umstritten, aber ich kann dem Gedanken sehr viel abgewinnen; ich las davon letzte Nacht auf Spiegel Online –, die Exporthilfen für Exporte nach Afrika abzuschaffen, damit die Kleinbauern vor Ort eher eine Chance haben und bleiben.
Dann gibt es natürlich noch die Frage nach einer einheitlichen Asylpolitik in der EU. Da braucht es eine Vereinheitlichung auf EU-Ebene, um durch ein gemeinsames europäisches Asylrecht schnelle und faire Verfahren zu gewährleisten. Sie können in unserem Koalitionsvertrag lesen, dass genau dies ein Schwerpunkt unseres Handelns ist.
(Beifall des Abg. Bernhard Kaster [CDU/ CSU])
Standards, wie im Stockholmer Programm festgeschrieben, sind da ganz wichtig. Das Personal von Frontex und EUROSUR muss dafür hinsichtlich der humanitären Komponente geschult werden und braucht im Sinne einer Task Force eine noch engere Verzahnung, möglicherweise mit dem Internationalen Roten Kreuz oder anderen Nichtregierungsorganisationen. Es braucht eine Stärkung der Rolle des 2011 eingerichteten EASO, dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen mit Sitz in Malta. Dies sind einige der Maßnahmen, die wir tatsächlich benötigen.
Zum Abschluss ein Beispiel, das mich geprägt hat. In der letzten Legislatur waren wir Menschenrechtspolitiker mit einer Gruppe Kollegen in Uganda. Dort sind mir Sarah und ihr Sohn Jamaal begegnet, der erst wenige Wochen alt war und den Sarah auf dem Arm trug. Sarah nimmt an einem Aussteigerprogramm für Prostituierte in einem Slum von Kampala teil. Sie hat dort unter anderem ein Handwerk gelernt, zum Beispiel Deckchen herzustellen, um mit dem Verkauf dieser Deckchen ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, was aber noch nicht reicht, sodass sie sich weiterhin prostituieren muss. Doch hält sie schon allein diese Perspektive eher in ihrer Stadt und in ihrem Land, als sich auf den Weg zu machen und nach Europa zu fliehen. Die Perspektive hält sie dort: ein Beispiel und ein Symbol für das, was es in der Entwicklungszusammenarbeit braucht, um dem Flüchtlingsstrom vorzubeugen.
Damit ihr Sohn später einmal, wenn er in die Pubertät kommt, nicht in dem Teufelskreis eines langsamen Sterbens stecken bleibt oder nach Europa fliehen muss, braucht es mehr von unserem Engagement. Wir dürfen, um mit der Kollegin Kampmann zu sprechen, nicht mit dem Status quo zufrieden sein. So darf es nicht weitergehen. Deshalb lassen Sie uns zusammen daran arbeiten, an welchen Stellen das konstruktiv möglich ist.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege Heinrich. – Der letzte Redner dieser, wie ich finde, sehr intensiven und sehr solidarischen Debatte ist Dr. Egon Jüttner.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 9 |
Tagesordnungspunkt | Flüchtlingspolitik der Europäischen Union |