Karl-Georg WellmannCDU/CSU - Vereinbarte Debatte zur Situation in der Ukraine
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was sich in der Ukraine im Moment zeigt, ist ermutigend und beängstigend zugleich. Es ist beängstigend, weil es ein großes Ausmaß an Gewalt und staatlicher Willkür, die wir im 21. Jahrhundert nicht mehr sehen wollen, gibt, und das Ermutigende daran ist das Ausmaß an Europabegeisterung und auch die Begeisterung für europäische Werte, die gerade von der jungen Generation dort auf dem Maidan und anderen Plätzen gezeigt wird.
Neben der Beschreibung der Situation müssen wir uns doch die Frage stellen, was wir tun können. Was sind unsere Maßstäbe und die Leitplanken unseres jetzigen Vorgehens?
Erstens. Die Ukraine ist kulturell und historisch ein europäisches Land, und deshalb muss die Ukraine auch eine europäische Perspektive haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Heranführung der Ukraine an europäische Strukturen heißt aber nichts anderes als eine politische Neuordnung des europäischen Ostens. Hier sollten wir uns noch einmal die Jubiläen dieses Jahres vor Augen halten.
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hitler-Stalin-Pakt!)
Die Zeit von 1914 bis 1918 ist als Feld politischen Lernens
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Rapallo!)
– bei Ihnen ist es vielleicht Rapallo, bei uns nicht, Frau Beck – aktuell wieder interessant geworden. Das bedeutet aber, dass die Neuordnung dieses Teiles Europas nicht ohne die Beteiligung Russlands gelingen kann. Das muss uns klar sein,
(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: August 1939, Herr Wellmann!)
und wir müssen sehr aufpassen, dass wir uns nicht wie die sprichwörtlichen Schlafwandler bewegen.
Die EU ist nicht identisch mit Europa. Die Mitte Europas hat sich seit der Wende nach Osten verschoben. Das sollten wir uns auch immer wieder vor Augen halten, wenn wir über die Ukraine reden.
Das mag aus der Perspektive eines Portugiesen vielleicht anders aussehen, aber es bleibt ein schwerer politischer Fehler, dass Barroso in Vilnius erklärt hat, die Russen hätten bei dieser Neuordnung Osteuropas nicht mitzureden.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Linkspartei klatscht, Herr Wellmann!)
Wenn wir die Probleme in der Ukraine im Konflikt mit Russland lösen würden – wir gegen Russland oder Russland gegen uns –, dann würde es politisch und finanziell sehr teuer; das kann man an den russischen Überweisungen erkennen, die jetzt getätigt werden. Außerdem würden wir ein gespaltenes Land und Unfrieden hinterlassen. Das kann man täglich auch empirisch auf den Straßen der Ukraine feststellen.
Was tun? In der Ukraine demonstriert in der Tat vor allem die Jugend auf den Straßen. Sie will eine europäische Perspektive und kämpft für europäische Werte. Diese müssen wir den Menschen geben können, wenn wir sie nicht schwer enttäuschen wollen. Es droht die große Gefahr, dass wir diese junge Generation enttäuschen, und deshalb ist es in der Tat wichtig, ganz schnell über eine Liberalisierung des Visaregimes nachzudenken.
(Beifall im ganzen Hause)
Zweitens. Es fällt ins Auge, dass die Ablösung eines Präsidenten alleine noch kein Konzept für die Zukunft ist und dass stabile Mehrheiten im Parlament für etwas ganz Neues in der Ukraine im Moment auch nicht richtig erkennbar sind. Wir brauchen deshalb für die Ukraine ein umfassendes Reformkonzept, und zwar in einer dreiseitigen Absprache, die nicht ohne Beteiligung Russlands stattfinden kann. Es muss um Investitionen gehen, das heißt, auch um Jobs und Perspektiven für die Menschen in der Ukraine, um die Modernisierung der Indus- trie, um Strukturreformen, um mehr Rechtssicherheit
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dabei soll Moskau helfen?)
und um weniger Korruption.
Wir haben mit Russland viel zu besprechen, so viel, dass es in der Tat, wie Außenminister Steinmeier vor einigen Tagen gesagt hat, einem europäischen Offenbarungseid gleichkommt, dass sich der EU-Russland-Gipfel in Brüssel vor drei Tagen schon nach wenigen Stunden erschöpft hat. Hier kann ich Herrn Steinmeier nur vollständig recht geben.
(Beifall bei der SPD)
– Danke.
(Mechthild Rawert [SPD]: Machen wir gerne!)
Das Wichtigste ist: Wir brauchen einen soliden und vor allem gewaltfreien Prozess in der Ukraine. – Ich kann es nicht anders sagen: Hier fallen mir die Transparente in der zu Ende gehenden DDR ein. Sie können sich noch an den Aufdruck erinnern: „Keine Gewalt!“
(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])
– Ich weiß, das versetzt Ihnen einen Stich ins Herz, Herr Gehrcke, aber ich sage es trotzdem:
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ich erleide es!)
Keine Gewalt, weder vom Staat noch von den Demonstranten.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Unterstützung dieses politischen Reformprozesses ist die wichtigste Aufgabe für uns alle und für die Bundesregierung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)
Als Nächster erteile ich der Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3089779 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 12 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte zur Situation in der Ukraine |