Michelle MünteferingSPD - Demokratie verteidigen
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung vorab: Ich bin gerade etwas mehr als 100 Tage hier, und das ist meine erste Rede an diesem Pult. Ich habe mich aber im Plenarsaal umgesehen. In diesen kleinen Schubladen vor Ihnen kann man nicht nur gut Bonbonpapiere verschwinden lassen, sondern darin findet sich auch das vielleicht stärkste Stück deutscher Demokratie. Darin liegt ein Buch, so groß wie eine Postkarte, das Stück Papier, das nichts von seiner Kraft und von seiner Stärke eingebüßt hat seit dem Tag, an dem es von unseren Müttern und Vätern verabschiedet wurde; ich müsste wohl eher sagen: von unseren Großmüttern und Großvätern. Das Grundgesetz zu beschützen, dazu haben wir uns gemeinsam verpflichtet. Um nichts weniger geht es auch in dieser Debatte heute hier: die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter.
(Beifall bei der SPD)
„Ungefährdet ist Demokratie nie“ – so formulierte es Heinz Westphal, ehemals Bundestagsvizepräsident und Abgeordneter meiner Heimatstadt Herne. Er sprach aus den Erfahrungen einer anderen Zeit, einer Zeit fernab der Demokratie, die uns ewig Mahnung bleiben muss, auch meiner Generation. Heute ist Demokratie in Deutschland – bei allen Abstrichen – ein gelungener Teil unseres Zusammenlebens. Ungefährdet jedoch ist sie auch heute nicht, auch nicht in einer veränderten, in einer digitalisierten Welt. Das gilt insbesondere mit Blick auf Möglichkeiten der Überwachung, der Aufzeichnung, Speicherung und Analyse durch die von Menschen gemachten Maschinen. Das hat uns Edward Snowden schmerzvoll vor Augen geführt.
Dass zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller jetzt aufschreien: „Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei; und eine Gesellschaft unter ständiger Beobachtung ist keine Demokratie mehr“, muss uns zum Handeln bewegen. Aufklärung muss der erste Schritt sein. Für diese Aufklärung allerdings gilt der Satz einer deutschen Schriftstellerin, die diesen Aufruf nicht mehr unterzeichnen konnte, Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“
Als Parlamentarier brauchen wir den Mut, den Menschen nichts vorzumachen und uns selbst auch nicht. Meine Generation ist mitten in die digitale Revolution hineingeboren. Die Schallplattensammlung tragen wir täglich im Handy mit uns herum. Wir zoomen Bildschirme per Fingerzeig, und wir fragen nicht nach dem Weg, sondern programmieren das Navigationssystem. Wenn wir Fragen stellen, dann antworten manchmal auch Wikipedia oder Siri; das ist die digitale Gesprächspartnerin aus dem iPhone.
Aber Digitalisierung ist viel mehr. Sie verändert wirtschaftliche Zusammenhänge. Sie eröffnet neue Geschäftsmodelle, sie wirkt sich auf das staatliche Handeln aus, und sie reicht auch tief in die Privatheit des Einzelnen. Wir sind in der Verantwortung dafür, ob wir unser Wissen für ein selbstbestimmtes Leben und für den Fortschritt nutzen, ob wir die Chancen erkennen und die Risiken in den Griff kriegen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Unsere Aufgabe ist es, wieder eine Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu finden. Das geht; das kann man hinkriegen.
Es ist offensichtlich: Der Missbrauch durch Geheimdienste, auch durch Unternehmen und staatliche Institutionen hat zu großem Vertrauensverlust geführt. Wenn ich schon von Generationen spreche: Nicht nur meine Generation hat in den letzten Jahren einen tiefen Vertrauensverlust in Bezug auf demokratische Prozesse, rechtsstaatliches Handeln und den Primat der Politik erlitten.
Doch gerade für die jungen Menschen im Land ist die tiefe Bindung zwischen Deutschland und den USA längst nicht mehr selbstverständlich, auch nicht selbst erlebt. Weil aber Amerika nicht nur in der Beziehung zu Deutschland ein besonderes Land ist, muss man es ansprechen: Es gibt sie noch, die Hoffnung auf die Zukunft der Demokratie. Deswegen ist es fatal, wenn diese Hoffnung Risse bekommt.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat an dieser Stelle ein Völkerrecht für das Internet gefordert. Ich will einen Schritt weitergehen: Es braucht multilaterale Verabredungen darüber, wie man miteinander umgeht, und darüber, was man nicht tut.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Eine Cyberrechtskonvention etwa müsste von Deutschland aus in der Welt vorangetrieben werden. Sie könnte von anderen Ländern – nicht nur in Europa – unterstützt und ratifiziert werden. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.
Wir müssen darauf achten, dass sich in einer digitalisierten Welt ein Ideal nicht durchsetzt: „Je berechenbarer, desto gesünder, effizienter und funktionsfähiger der Mensch“; denn das können unsere Großväter und Großmütter nicht gemeint haben mit „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das Grundgesetz verbietet es, den Menschen zum Informationsobjekt zu machen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Herausforderungen stammen aus der analogen Welt; aber sie sind geblieben. Es gilt, sie zu übertragen. Wir müssen darüber entscheiden, wie ein digitaler Markt auch ein demokratiekonformer Markt sein kann, wie der Staat die Rechte der Bürger auch im weltweiten Netz gewährleistet, wie Eingriffe in die Privatsphäre geahndet werden. Dann kann es gelingen, die Demokratie in der digitalisierten Welt nicht bloß zu verteidigen, sondern sie durch Mitbestimmung, Aufklärung und Bildung für eine neue Generation, für eine digital mündige Generation zu stärken.
Deswegen noch ein paar Worte zu den Forderungen der Bündnisgrünen. Ja, wir müssen Menschen schützen, die ihr Leben einsetzen, um Rechtsstaatlichkeit zu bewahren. Diejenigen, die Grundrechte verletzen, müssen sich erklären und verantworten. Ein Parlament, das Grundrechte schützen soll, muss auch über Risiken informiert sein. Hier gilt es aber auch, unseren selbstgewählten Vertretern im Parlamentarischen Kontrollgremium zu vertrauen. Bezüglich der Vorratsdatenspeicherung kann man Minister Maas nur unterstützen, die Unterscheidung des EuGH jetzt abzuwarten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie erwecken hier den Eindruck, als würden wir nichts oder das Falsche tun. Aber wir haben einen ersten Schritt gemacht – wir haben einen NSA-Untersuchungsausschuss eingesetzt –, und einen zweiten Schritt machen wir mit dem Einsetzen des Ausschusses Digitale Agenda. Einen dritten machen wir mit der Überführung der Stiftung Datenschutz in die Stiftung Warentest, und einen vierten, indem wir auch Datenschutz und Bürgerrechte vor dem Hintergrund eines Marktwächters „digitale Welt“ stärken.
Ich sage Ihnen auch, wo in Ihrem Antrag Verbesserungsbedarf besteht: Auf dem verbraucherpolitischen Auge nämlich ist er blind. Der Bürger als Verbraucher wird in Ihrem Antrag kein einziges Mal erwähnt. Es sind aber die Verbraucher, die Bücher, Filme und Reisen im Internet kaufen, die über das Netz private Beziehungen pflegen und ihrem Computer sensible Daten anvertrauen. Sie müssen wir vor Missbrauch schützen. Deswegen muss es zukünftig auch eine gesetzliche Regelung dazu geben, dass Unternehmen, die etwa im Scoringverfahren mit Daten handeln, verpflichtet werden, gegenüber einer Behörde anzuzeigen, welche Daten sie verwenden. Hier ist der Gesetzgeber gefordert.
Klagen und Anklagen stellen nicht Vertrauen wieder her. Verbraucherbildung, Verbraucherinformation und Verbraucheraufklärung kommen bei Ihnen jedoch überhaupt nicht vor.
Techniken zum Schutz der Privatsphäre zu fördern, kann ein richtiger Ansatz sein; ganz sicher werden der verstärkte Einsatz von Verschlüsselungstechniken, hohe Datenschutzstandards und eine Technikfolgenabschätzung für Infrastrukturen wichtiger.
Klare Regeln braucht es ebenfalls: Persönliche Daten zu missbrauchen, muss ebenso bestraft werden, wie eine Tonne mit Chemikalien in den Wald zu schmeißen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel zu tun im digitalen Zeitalter, auch wenn wir dem Antrag der Bündnisgrünen heute so nicht zustimmen. Wir werden aber im Ausschuss noch im Detail darüber sprechen, mit welchen Mitteln wir unsere Demokratie im digitalen Zeitalter verteidigen. Einen ersten Aufschlag hat die GroKo gemacht.
Ich freue mich, dass ich mithelfen darf, bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und schließe mit einem traditionell analogen Gruß aus meiner Heimat, dem Bergmannsgruß: Glück auf!
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Kollegin Müntefering, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit.
(Beifall)
Das Wort hat die Kollegin Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3128809 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 15 |
Tagesordnungspunkt | Demokratie verteidigen |