Iris GleickeSPD - Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 2013
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann diese Debatte zum Stand der deutschen Einheit nicht eröffnen, ohne ein Wort zu den Ereignissen in der Ukraine zu sagen. Wir erleben in diesen Tagen wieder, wie Menschen um Freiheit und Demokratie ringen und sich der Unterdrückung entgegenstellen. Sie stehen in der Tradition all derer, die dazu beigetragen haben, die Teilung Europas und damit auch unseres Landes zu überwinden. Diese Menschen verdienen unsere uneingeschränkte Solidarität.
(Beifall im ganzen Hause)
Ich möchte ein Wort des Dankes an meinen Vorgänger richten. Sehr geehrter Herr Kollege Bergner, Ihre Arbeit verdient Dank und Respekt. Ich denke, ich spreche da im Namen des ganzen Hauses.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
In diesem und im kommenden Jahr gibt es mit Blick auf die deutsche Einheit einiges zu feiern. Ich will den Festreden hier und heute nicht vorgreifen. Ich werde mich als Beauftragte der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer in den kommenden Jahren ganz bestimmt nicht darauf beschränken, feierliche Reden zu halten; das dürfen Sie mir glauben. Nein, ich gehe dieses Amt mit ganzer Kraft an, mit viel Optimismus und voller Zuversicht, etwas zu bewegen, auch wenn es nach meiner Ernennung Kritik daran gab, dass nur eine „halbe Staatssekretärin“ zur Ostbeauftragten ernannt worden sei. Sagen Sie dem Kollegen Gysi einen schönen Gruß! Mich hat schon lange niemand mehr als halbe Portion bezeichnet.
(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)
Scherz beiseite! Mich treibt natürlich die Sorge um, dass der eine oder die andere der Versuchung erliegt, die vor uns liegenden Jubiläen als willkommene Gelegenheit für einen Schlussstrich zu betrachten. Aber wir brauchen 25 Jahre nach der friedlichen Revolution alles andere als einen Schlussstrich. Wir brauchen keinen Schlussstrich unter eine Vergangenheit, die vielleicht nicht für alle, wohl aber für viele noch sehr lebendig ist, auch wenn manch einer sie am liebsten vergessen oder vergessen machen möchte. Wir brauchen auch keinen Schlussstrich unter die deutsche Einheit als solche, weil sie eben noch nicht vollendet ist. Genau deshalb wird jedes Jahr ein Bericht zur deutschen Einheit vorgelegt: damit wir einigermaßen genau wissen, wo wir bei der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland stehen.
Wir haben wirklich viel erreicht. Die Lebensverhältnisse und der materielle Wohlstand in den ostdeutschen Bundesländern haben sich kontinuierlich verbessert. Aber der Abstand zum Westen bei der Wirtschaftskraft liegt noch immer bei rund 30 Prozent. Die Einkommensunterschiede liegen im Durchschnitt bei knapp 20 Prozent. In manchen Branchen dümpeln die Einkommen sogar noch immer bei 45 Prozent unter Westniveau. Wenn wir daran etwas ändern wollen, müssen wir die ostdeutsche Wirtschaftskraft stärken und dafür sorgen, dass sich bei den Löhnen etwas tut.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Unser Ansatz für die ostdeutsche Wirtschaft besteht unter anderem darin, den Mittelstand bei den notwendigen Innovationen zu unterstützen, damit er wachsen und im europäischen und internationalen Wettbewerb bestehen kann. Das tun wir etwa mit Programmen wie dem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand, ZIM, des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie.
Aber machen wir uns nichts vor: Bereits heute ist absehbar, dass die neuen Bundesländer und Berlin auch nach Auslaufen des Solidarpakts II auf die Unterstützung des Bundes und die gemeinsame Solidarität aller Länder angewiesen sein werden. Genau deshalb muss eine verlässliche und gerechte Anschlussregelung im Rahmen der Neuverhandlungen der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ganz oben auf der wirtschafts- und finanzpolitischen Agenda stehen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Künftig müssen sich alle strukturschwachen Regionen in ganz Deutschland auf ein verlässliches und aufgabengerechtes Finanzierungssystem stützen können. Das müssen wir erreichen, und deshalb ist ein festes Bündnis Ostdeutschlands mit den strukturschwachen Regionen im Westen eines meiner erklärten politischen Ziele.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir brauchen dieses Bündnis angesichts der jetzt schon sichtbaren und für die Zukunft absehbaren Verteilungskämpfe. Entweder tun wir uns zusammen und sind gemeinsam stark, oder wir gehen getrennt voneinander unter.
Wir dürfen uns nicht damit begnügen, die ostdeutsche Wirtschaft zu unterstützen. Wir müssen auch etwas bei den Löhnen und Gehältern tun. Die Unterschiede bei den Löhnen und Gehältern sind nicht nur ungerecht und eine der wesentlichen Ursachen für die Abwanderung, sondern sie führen auch zu einer geringeren Binnennachfrage. Auch deshalb ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns besonders für Ostdeutschland wichtig und richtig.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das wird eine Premiere. Damit wird erstmals bundesweit ein einheitlicher Verdienst festgeschrieben, und damit setzen wir ein wichtiges Signal; damit zeigen wir, dass wir es mit der Angleichung der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland ernst meinen.
Ich weiß, dass wieder Bedenkenträger unterwegs sind. Da wird zum Teil der Teufel an die Wand gemalt. Trotzdem bin ich strikt gegen Ausnahmeregelungen, die über das im Koalitionsvertrag Vereinbarte hinausgehen. Natürlich wird die Einführung des Mindestlohns einige Betriebe vor Probleme stellen, im Osten, aber auch im Westen; kein Mensch leugnet das. Natürlich werden die Preise im Dienstleistungssektor zum Teil steigen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Und Jobs verloren gehen!)
Aber wer selber einigermaßen anständig verdient, der wird auch nichts dagegen haben, beim Friseur oder im Blumenladen etwas mehr zu bezahlen. Es muss doch darum gehen, dass alle vernünftig über die Runden kommen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Derzeit verdient etwa ein Fünftel der ostdeutschen Arbeitnehmer weniger als 8,50 Euro pro Stunde, viele müssen zusätzlich Hartz IV beantragen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Damit muss endlich Schluss sein.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Allen Betrieben, die glauben, die 8,50 Euro nicht bewältigen zu können, sage ich: Ihr habt immer noch die Möglichkeit, vorher einen Tarifvertrag abzuschließen, bei dem der Lohn unter 8,50 Euro liegt. Dann greift der Mindestlohn erst ab Anfang 2017. – In diesem Zusammenhang finde ich es wirklich bemerkenswert, dass allein die Ankündigung des Mindestlohns innerhalb weniger Wochen dazu geführt hat, dass auf einmal Tarifverträge geschlossen werden. Alleine das ist schon ein Erfolg; denn da geht es auch um so elementare Fragen wie Urlaubstage und Arbeitsbedingungen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das alles ist auch von großer Bedeutung für ein in Ost und West einheitliches Rentensystem. Das wird 2019 mit dem Auslaufen des Solidarpakts kommen. Das haben wir so in den Koalitionsvertrag geschrieben. Ob wir bis dahin einen Zwischenschritt in Form einer teilweisen Rentenangleichung brauchen, werden wir 2016 prüfen. Das hängt wiederum davon ab, in welchem Umfang die ostdeutschen Einkommen und damit auch die Renten steigen.
Die Forderung nach einem einheitlichen Rentensystem ist fast 25 Jahre nach der Einheit natürlich berechtigt. Ich habe sie selber oft genug mit Nachdruck erhoben. Und dennoch ist die Rentengeschichte der vergangenen 25 Jahre eine Erfolgsgeschichte. Das Renten-Überleitungsgesetz ist Ausdruck gelebter Solidarität von Ost und West. Niemand im Osten musste nach der Wende von einer DDR-Rente leben. Die Ostrenten sind seither auf fast 92 Prozent des Westniveaus gestiegen. Jetzt arbeiten wir an der vollständigen Angleichung, und die wird kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Jahren seit der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung sind wir ein anderes Land geworden. Wir haben uns weiterentwickelt und werden das auch weiter tun. Wir haben viel erreicht; aber es bleibt auch noch viel zu tun, zum Beispiel bei der entschiedenen Bekämpfung des Rechtsextremismus. Das ist ein Thema, das mich seit vielen Jahren bewegt. Ich versichere Ihnen: Ich werde alle mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um unsere Kinder und Kindeskinder, unsere ganze Gesellschaft vor diesem braunen Pack zu schützen.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Gott sei Dank führt die Generation unserer Kinder ein freies Leben ohne Mauer, Teilung und Diktatur. Dennoch begegnet uns die Teilung mit ihren langandauernden Folgen immer wieder im Alltag und in der Politik. Das ist zum Beispiel so beim Heimkinderfonds Ost, der vom Bund und von den ostdeutschen Ländern getragen wird. Aus diesem Fonds werden Menschen unterstützt, die in sehr jungen Jahren zum Opfer staatlicher Repression geworden sind, und das ist gut und richtig so.
Aber es hat sich herausgestellt, dass das ursprünglich eingeplante Geld wider Erwarten nicht reicht. Es steht fest, dass dieser Fonds erheblich aufgestockt werden muss, und das wird nicht billig. Aber die Vorstellung, hier sparen zu können, indem man den Zugang zu diesem Fonds im Nachhinein stärker beschränkt und den Leistungskatalog verändert, ist einfach abenteuerlich.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Damit hätten wir dann nicht nur unterschiedliche Leistungen in Ost und West, sondern auch innerhalb der Gruppe der ehemaligen ostdeutschen Heimkinder, und das geht nun wirklich überhaupt nicht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Da steht der Bund gemeinsam mit den ostdeutschen Ländern in der Pflicht, eine gute Lösung im Sinne der Betroffenen zu finden. Ich bin durchaus zuversichtlich, was die Beratungen in der kommenden Woche angeht.
Bei diesem und bei anderen Themen wird jedenfalls deutlich, dass es noch immer Folgen der Teilung gibt, die es zu überwinden gilt. Ich bin davon überzeugt, dass uns das gelingen wird. Die deutsche Einheit ist eben nichts Statisches. Sie will und sie muss immer wieder neu gestaltet werden. Dazu will ich meinen Beitrag leisten.
Ich bin in den vergangenen Wochen immer wieder gefragt worden, ob ich stolz darauf bin, aus Ostdeutschland zu kommen.
(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ja!)
Wir Ostdeutsche haben einiges durchgemacht. Wir stehen zu unserer friedlichen Revolution und zur Verantwortung für unsere Geschichte. Wir haben besondere Talente und Ressourcen. Und: Wir können Veränderung. Deshalb ist der Osten in manchen Bereichen unterdessen wirklich Avantgarde. Darauf kann man schon stolz sein; ich bin es jedenfalls. Ich bin stolz darauf, aus Ostdeutschland zu kommen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner erhält der Kollege Dietmar Bartsch das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3148014 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 18 |
Tagesordnungspunkt | Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 2013 |