21.02.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 18 / Tagesordnungspunkt 17

Annalena BaerbockDIE GRÜNEN - Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 2013

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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher! Frau Gleicke, erst einmal herzlichen Dank dafür, dass Sie zu diesem Jubiläum auch so deutliche Worte zur Ukraine gefunden haben. Gestern waren einige von uns doch ziemlich erschüttert, weil aus den Reihen der Linken die Frage gestellt wurde, warum man in der Ukraine überhaupt für Verfassungsänderungen auf die Straße gehen müsse. Daher nochmals vielen Dank für Ihre deutlichen Worte zu diesem Bereich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Zuruf von der LINKEN)

– Die Zwischenfrage von Ihrem Kollegen aus NRW können Sie ja im Protokoll noch einmal nachlesen.

Es freut mich zudem sehr, dass es dieser Bericht heute nicht nur auf die Tagesordnung geschafft hat, sondern auch darauf geblieben ist; denn was es bedeutet, wenn man Debatten über Berichte immer wieder vertagt, sieht man an dem Thema Heimkinderfonds. In dem Bericht von 2012 lesen wir Zahlen, die leider gar nicht mehr zutreffen. Ursprünglich wurde der Fonds mit 40 Millionen Euro ausgestattet; heute sind die Kassen leer. Nun warten Zehntausende von Opfern des SED-Regimes, die in diesen Heimen gelebt haben und zum Teil misshandelt wurden, auf ihre Entschädigungszahlungen. Es ist gerade in einem Jubiläumsjahr wie diesem wirklich beschämend, dass hier weiter Pokerverhandlungen geführt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])

Ich hoffe sehr, dass das ständige Verschieben der Debatte über den Bericht kein Omen für das weitere Bemühen um den Stand der deutschen Einheit und auch kein Omen für Sie ist, Frau Gleicke; denn es freut uns als Bündnisgrüne wirklich sehr, dass Sie dieses Amt jetzt innehaben und wir somit eine sehr intensive Streiterin für ostdeutsche Belange haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern wurde schon darauf hingewiesen – auch der Bericht macht das mehr als deutlich –, dass es sehr viele positive Entwicklungen gibt. Gerade in puncto Wirtschaftskraft, Löhne und Arbeitslosenquote bestehen aber noch immer sehr große Unterschiede.

Herr Hauptmann, ja, es hat deutliche Verbesserungen bei den Arbeitslosenzahlen gegeben; aber von blühenden Landschaften kann man zumindest bei mir in Brandenburg definitiv nicht überall sprechen.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In Potsdam schon!)

– In Potsdam schon, aber nicht in Regionen der Uckermark mit 16 Prozent Arbeitslosigkeit und in Städten mit über 20 Prozent Arbeitslosigkeit. – Bei diesen Zahlen sollte man auch einmal bedenken: Die Jobs, die seit 2011 neu entstanden sind, sind durch die Bank neue sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigungen, aber keine Vollzeitbeschäftigungen.

(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Das, was Sie da erzählen, stimmt nicht! Völliger Unsinn!)

Daran müssen wir weiter arbeiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen ist für uns Grüne die Laufzeit der Solidarpaktmittel bis 2019 einwandfrei klar. Ich stimme Ihnen zu: Das muss man gerade in Richtung der Bundesländer sagen, die hier Klagen führen wollen. Gerade die Korb-II-Mittel müssen auf jeden Fall weiter zum Tragen kommen, weil diese Investitionsmittel auch in den weiteren Jahren für die ostdeutschen Bundesländer essenziell sind. Das bedeutet auch, dass wir nach 2019 die Regionen Ostdeutschlands weiter im Blick haben müssen, ohne natürlich die strukturschwachen Regionen in Westdeutschland außer Acht zu lassen.

Es freut uns sehr, Frau Gleicke, dass Sie in Ihren Presseäußerungen sehr deutlich gemacht haben, dass wir diese Probleme und Herausforderungen in Ost und West, Nord und Süd gemeinsam angehen müssen. Wir hoffen sehr, dass die Frage der finanziellen Ausstattung im kommenden Bericht eine ganz andere Bedeutung bekommen wird. Jetzt steht in diesem Bericht dazu lediglich ein ganz kleiner Absatz. Aspekte wie Kommunalaufsicht, Kommunalverschuldung und Kassenkredite fehlen in diesem Bericht völlig, obwohl es für die Regionen in Ostdeutschland genauso wie für die in Westdeutschland eine Herausforderung ist, dass die Kommunen gewisse Aufgaben einfach nicht mehr erfüllen können.

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Patzelt?

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bitte eine nette Frage!)

Ja.

Bitte schön, Herr Patzelt.

Meine Wortmeldung ist leider sehr spät wahrgenommen worden. Ich komme zurück auf Ihre erste Einlassung zur Frage der Entschädigung oder, wie wir es sagen, der Hilfen für ehemalige Heimkinder in Ost und West. Haben Sie sich persönlich die Zahlen einmal angeschaut, oder sind sie Ihnen von irgendjemandem kolportiert worden? Sie stimmen nämlich nicht mit den Zahlen und der Situation überein, die wir auch im Ausschuss, in dem Ihre Fraktionskollegen anwesend waren, diskutiert haben und in dem wir auch von einem Vertreter des Ministeriums die entsprechenden Antworten bekommen haben, die deutlich machen, dass alles auf einem guten Weg ist und dass in drei Wochen damit zu rechnen ist, dass der Fonds in der bisherigen Weise weiterarbeitet.

Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie mit Ihren Äußerungen hier im Parlament, die auch in die Öffentlichkeit getragen werden, diese ehemaligen Heimkinder erneut verunsichern? Wir bringen das Ganze auf einen guten Weg, und Sie äußern sich hierzu in einer Weise, als läge hier alles im Argen, was gar nicht stimmt.

Ich weiß nicht genau, welche Zahlen Sie meinen. Meinen Sie die Zahl von 40 Millionen Euro, die seit 2012 im Topf sind? Oder beziehen Sie sich auf die 10 000 Menschen, die auf der Warteliste stehen, weil die Mittel aufgebraucht sind und es keine neuen Gelder für den Fonds gibt? Sie haben gesagt, ich hätte falsche Zahlen genannt. Diese Zahlen habe ich genannt. Wenn Sie diese als falsch ansehen, dann können Sie das vielleicht einmal darstellen.

Ich habe auf die Problematik hingewiesen, dass die Mittel – das war klar – zur Neige gingen. Das hätte hier diskutiert werden können, hätten wir den Bericht aus dem Jahre 2012 nicht erst im Jahre 2014 debattiert, sondern schon ein bisschen früher. Frau Gleicke hat eingangs noch einmal erwähnt, dass dieses Problem in den letzten Wochen und Monaten immer wieder erörtert wurde und dass man nicht zu einer Lösung gekommen ist und dass es dazu auch in Ihrem Koalitionsvertrag keine klare Aussage gab.

(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Sie haben keine Ahnung, Frau Kollegin!)

Das wurde jetzt im Bundestag diskutiert.

Wenn das in den nächsten Monaten auf den Weg gebracht wird, ist das gut. Aber derzeit ist es so, dass viele Menschen verunsichert sind, weil gesagt wurde: Diejenigen, die nach dem Windhundprinzip schon etwas bekommen haben, können sich freuen. Diejenigen, die später kommen, werden wohl weniger erhalten.

(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nicht, was Sie da erzählen!)

Darüber wurde in den letzten Wochen immer wieder diskutiert: vor Ort, in der Presse und auch sonst. Es ist wichtig, dass da Druck erzeugt wurde, um dieses Problem endlich anzugehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD])

Erlauben Sie eine Nachfrage oder Nachbemerkung?

Ja.

Bitte schön.

Sie haben davon gesprochen, dass in dieser Sache gepokert wird. Das ist doch schon eine sehr merkwürdige Behauptung, wenn alle Äußerungen, die sowohl vom Ministerium als auch von Fachpolitikern kamen, eindeutig waren und nie Zweifel daran ließen, dass diese Entschädigungen in gleicher Höhe weitergezahlt werden. Worüber Journalisten spekulieren, ist eine andere Frage, aber das ist nicht Gegenstand unserer Diskussion hier. Eine Diskussion kann es nur auf der Grundlage verlässlicher Aussagen vonseiten der Bundesregierung und auch der Politiker geben.

Ich bitte Sie noch einmal: Es geht mir darum, dass diejenigen, die schon viel Leid erfahren haben, nicht durch solche Diskussionen und Behauptungen wieder verunsichert werden.

Danke.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich glaube nicht, dass die Menschen dadurch, dass dieses Thema in einer Plenarsitzung des Bundestages einen hohen Stellenwert hat, verunsichert werden und sie den Eindruck gewinnen, dass wir dieses Thema nicht ernst genug nehmen. Es ist nach wie vor unklar, wie die Gelder zwischen Bund und Ländern verteilt werden. Es wird derzeit diskutiert, wer welchen Anteil zahlt. Dass es nach wie vor Diskussionen zwischen Bund und Ländern über die Aufteilung gibt, bestreiten Sie sicherlich auch nicht.

Wenn wir uns in diesem Hause alle darin einig sind, zu einer guten Lösung zu kommen, ist das umso besser. Aber ein gewisser Druck ist immer wieder wichtig, damit das nicht auf die lange Bank geschoben wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Danke, Herr Kollege. – Jetzt geht es mit der Rede weiter.

Wenn wir uns in den nächsten Jahren in Ost und West, Nord und Süd gemeinsam aufstellen wollen, dann ist es, glaube ich, wichtig, dass der Bericht in Zukunft eine andere Struktur erhält, als nur eine Aneinanderreihung von Zahlen zu sein. Im Anhang gibt es eine lange Tabelle mit allen Maßnahmen, was durch die Bank weg gemacht wurde. Es gibt keine Evaluation, was wie gewirkt hat, sondern man hat alles aneinandergeklatscht.

Dabei war eigentlich der Arbeitsauftrag – das steht auf Seite 3 des Berichtes –, „ihre Politik“ – also die Politik der Bundesregierung – „zur Angleichung der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Lebensbedingungen der Menschen im vereinten Deutschland“ darzustellen. In dem Bericht wird aber nicht die Politik dargestellt. Es wurde nicht gefragt: Was wurde gemacht? Wie hat das gewirkt? Was haben wir daraus gelernt? Stattdessen wurden nur Zahlen dargestellt, ohne sie irgendwie auszuwerten.

Wenn wir jetzt gemeinsam daran arbeiten wollen, ist es, glaube ich, auch mit Blick auf die Zeit nach 2019 wichtig, zu fragen: Was lernen wir aus den letzten 25 Jahren? Statt nur Zahlen aneinanderzureihen, sollten wir fragen: Was ist die Wirkungskontrolle unserer Politik? Es gibt zahlreiche Beispiele, bei denen das gerade mit Blick auf Ostdeutschland dringend notwendig gewesen wäre.

Nehmen wir zum Beispiel die Extremismusklausel. In dem Bericht wird zwar das Thema Demokratie angesprochen, aber zu dem Stichwort „Extremismusklausel“ ist darin nichts enthalten. Was ist denn passiert, als man diese Klausel eingeführt hat? Wie hat man die Organisationen gerade in Ostdeutschland verunsichert, ob sie mit ihrer politischen Arbeit noch wirken können? Dazu steht in dem Bericht nichts.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber loben Sie mal, dass wir das ändern!)

– Darauf komme ich gleich.

Dann hat man von SPD-Seite versprochen, das zu ändern. Jetzt hat Frau Schwesig einen Vorschlag gemacht, der an der eigentlichen Tatsache in der Substanz nicht viel ändert.

(Zurufe von der SPD: Was? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Man muss auch loben können!)

Genau solche Punkte sollte man auch in solchen Bereichen selbstkritisch diskutieren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Dass Sie auch den Mindestlohn wieder infrage gestellt haben, hat mich sehr überrascht, Herr Bergner, obwohl Sie das im Koalitionsvertrag richtigerweise festgeschrieben haben.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ist nicht relevant!)

Ich bitte Sie, sich auch beim Mindestlohn kurzzufassen, weil Sie Ihre Redezeit schon überschritten haben.

In Brandenburg hat man nach jahrelangem Ringen unter Rot-Rot endlich im Vergabegesetz einen Mindestlohn von 8,50 Euro eingeführt. Ursprünglich waren es übrigens 8 Euro, liebe Linke.

(Katja Kipping [DIE LINKE]: Wer hat denn da auf der Bremse gestanden?)

Die Betriebe, die, wie Sie behaupten, deshalb plötzlich zusammengebrochen sind, gibt es nicht. Dass kleine Betriebe in Brandenburg deshalb zusammengebrochen sind, weil sie diesen Lohn nicht zahlen können, stimmt nicht. Der Hinweis „Kann man sich das im Osten überhaupt leisten?“ ist an den Haaren herbeigezogen. Man kann es sich nicht nur leisten, sondern man muss es sich leisten: zum Wohle der Menschen und der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland.

(Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Wer ist „man“?)

Was man in fast allen europäischen Ländern schafft, wird man wohl auch in der stärksten Wirtschaftsnation Europas schaffen, nämlich endlich einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen.

Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

In diesem Sinne komme ich zum Ende.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Danke schön. Nicht dass Sie denken, der Mindestlohn interessiert uns hier im Präsidium nicht, aber ich muss auf die Einhaltung der Redezeit achten; denn sonst gibt es zumindest Ärger.

Nächster Redner ist Wolfgang Tiefensee für die SPD.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3148073
Wahlperiode 18
Sitzung 18
Tagesordnungspunkt Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 2013
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