Heike BaehrensSPD - Entgeltsystem in der Psychiatrie
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne, ganz besonders die Gruppe von der Kaufmännischen Schule in Göppingen – herzlich willkommen!
(Heiterkeit – Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das PEPP hat nicht wirklich Pep. Das hat, glaube ich, diese Debatte schon gezeigt. Das Vergütungssystem braucht systematische Veränderungen, damit schwerst psychisch Erkrankte nicht benachteiligt, die sektorenübergreifende Zusammenarbeit gefördert und Drehtüreffekte verhindert werden – genau so haben wir es im Koalitionsvertrag miteinander verabredet. Deshalb brauchen wir und auch das Gesundheitsministerium in dieser Frage, denke ich, eigentlich nicht unbedingt Nachhilfe von linker oder grüner Seite.
In der Praxis im Bereich der psychiatrischen Hilfe zeigt sich, dass schwer chronisch kranke und mehrfach belastete Patientinnen und Patienten in Deutschland noch immer wenig Zugang haben zu ambulanten, personenzentrierten und gemeindenahen Versorgungsangeboten. Obwohl diese Zielsetzung bereits durch die Psychiatrie-Enquete 1971 formuliert wurde, stagnieren die Hilfestrukturen. Darum ist es dringend notwendig, parallel zur Reform des Entgeltsystems im stationären Bereich den ambulanten Bereich im Rahmen des SGB V – dazu zählen zum Beispiel die Psychotherapie oder die Soziotherapie – in den Blick zu nehmen und ambulante und mobile Rehabilitationsangebote auszubauen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wer hier maßgeblich etwas in Bewegung bringen möchte, wird die starke Fragmentierung unserer Versorgungsstrukturen grundlegend auf den Prüfstand stellen müssen; denn sie hat nachweislich negative Auswirkungen auf die Versorgungsqualität für Patientinnen und Patienten. Die Zahl der Brüche und Doppelungen in den Behandlungen und die Zahl der Klinikaufenthalte könnten deutlich verringert werden, wenn flexiblere, kontinuierliche Pfade der Behandlung, der Rehabilitation und der Teilhabeförderung tatsächlich ausgestaltet und verlässlich finanziert würden sowie die Selbsthilfe gefördert würde.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Es muss uns alarmieren, wenn laut Deutscher Rentenversicherung fast jede zweite Frühverrentung wegen einer psychischen Erkrankung erfolgt und das Durchschnittsalter inzwischen bei 49 Jahren liegt. Das ist für jeden Einzelnen und seine Angehörigen eine persönliche Tragödie. Für die Solidargemeinschaft muss es als Herausforderung verstanden werden zur Weiterentwicklung unserer Hilfe- und Angebotslandschaft.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Maria Klein- Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Es gilt, den Grundsatz „Reha vor Rente“ nicht nur politisch zu fordern, sondern durch konkrete Maßnahmen anzugehen. So ist es beispielsweise äußerst ärgerlich, wenn nach wie vor Rentenversicherung und Krankenversicherung im Einzelfall darüber streiten, ob eine Rehaleistung bewilligt wird und welcher Rehaträger die Kosten zu tragen hat. Das baut Hürden auf und führt bei nicht wenigen Betroffenen dazu, dass sie auf eigentlich notwendige Leistungen verzichten, anstatt sich für ihre Rechte und die notwendige Therapie einzusetzen. Dabei wäre es gerade zu diesem frühen Zeitpunkt wichtig, den Verlust des Arbeitsplatzes durch Rehamaßnahmen zu verhindern.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Was hat das mit PEPP zu tun? In der Praxis zeigt sich, dass durch die aktuelle Ausgestaltung des PEPP die dringend erforderliche bessere Verzahnung von Ambulant und Stationär gerade nicht gefördert wird.
(Beifall bei der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vielmehr kommen aufgrund der verkürzten akutstationären Behandlungszeiten rehabilitative Aspekte in der Behandlung zu kurz. Wer gerade noch in einer akuten Episode seiner psychischen Erkrankung steckte, ist schnell überfordert. Wenn der oder die Betroffene Glück hat, engagiert sich die entlassende Klinik unentgeltlich für Folgemaßnahmen. Da diese aber regional sehr unterschiedlich und meist unzureichend zur Verfügung stehen, kommt es oft zu belastenden Wartezeiten, womöglich zu neuen akuten Krisen oder gar zur Chronifizierung der Krankheit. Darum braucht es klare Zuständigkeiten und die entsprechende Vergütung für ein patientenzentriertes Übergangs- und Case-Management.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Problematische Verschiebungen in andere Leistungsbereiche wie beispielsweise SGB XI – Pflegeeinrichtungen –, die diesen Zielgruppen nicht annähernd gerecht werden können, sind keine angemessene Antwort. In Baden-Württemberg erleben wir gerade, dass Träger der Sozialpsychiatrie aufgefordert werden, neue, zusätzliche – insbesondere geschlossene – Wohngruppen aufzubauen. Allein in Stuttgart sind in den letzten zwei Jahren drei geschlossene Wohnheime neu entstanden, weil bereits jetzt die Verweildauern in der klinischen Behandlung deutlich abgenommen haben. Wollen wir diesen Rückfall in die Zeit vor der Psychiatrie-Enquete wirklich?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Maria Klein- Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zurufe von der SPD: Nein! Nein!)
Nein, wir sind nämlich herausgefordert, die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention ernst zu nehmen und für mehr Selbstständigkeit und Teilhabe einzutreten.
Ich hatte eingangs gesagt: Die Regierungskoalition hat das Thema auf der Agenda. Was dabei aus SPD- Sicht zentral ist, will ich abschließend kurz skizzieren. Die Schieflagen des jetzigen Systems müssen beseitigt werden durch eine angemessene Ressourcenverteilung. Ein zukunftsfähiges Vergütungssystem im Psychiatriebereich muss die Krankenhäuser darin unterstützen, im lokalen Verbund Versorgungsverantwortung zu übernehmen. Wir brauchen flexibler nutzbare, integrierte Hilfsangebote für die Betroffenen und fließende Übergänge zwischen dem stationären, teilstationären und ambulanten Bereich. Das Recht und der Anspruch von psychisch kranken Menschen auf Selbstbestimmung und Teilhabe sind anzuerkennen. Darum brauchen wir die ideelle und die materielle Förderung von personenzentrierten Behandlungskonzepten.
Darum sagen wir als SPD heute: Sorgfalt vor Schnelligkeit. Es bringt nichts, ein System vom Kopf auf die Füße und dann wieder auf den Kopf zu stellen. Lassen Sie uns die Einführung des PEPP weiter aufmerksam- kritisch begleiten und an den richtigen Stellen den Hebel zur Korrektur ansetzen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Kollegin Baehrens, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Dazu möchte ich Ihnen gratulieren. Ich möchte Ihnen gleichzeitig mit auf den Weg geben, dass Sie jetzt keinen Kredit aufgenommen haben. Vielmehr gilt in Zukunft: Wenn das Minuszeichen vor der Zahl erscheint, dann ist tatsächlich die Redezeit abgelaufen.
(Heiterkeit und Beifall)
Das Wort hat der Kollege Lothar Riebsamen für die Unionsfraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU – Hilde Mattheis [SPD]: Die zwei Minuten gehen jetzt bei Ihnen ab, Herr Riebsamen!)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3148269 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 18 |
Tagesordnungspunkt | Entgeltsystem in der Psychiatrie |