04.04.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 27 / Tagesordnungspunkt 19

Uwe SchummerCDU/CSU - Programm für Barrierefreiheit

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Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Dass Sie die Bundesregierung zum Handeln auffordern, und zwar endlich, nachdem die Große Koalition jetzt 100 Tage an der Regierung ist, finde ich bemerkenswert.

(Vereinzelt Heiterkeit)

Es gibt keine Koalitionsvereinbarung, in die mehr Handlungsempfehlungen zur Inklusion in allen Politikbereichen aufgenommen worden sind als in die jetzt gültige zwischen Union und Sozialdemokraten. Diese enthält insgesamt zwanzig solcher Handlungsempfehlungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir haben ja bereits am Mittwoch im Ausschuss für Arbeit und Soziales und in anderen Ausschüssen miteinander diskutiert und überlegt, wie wir die ambitionierten Ziele der Koalition gemeinsam umsetzen können. Ein Thema war der neue Teilhabebericht. Wir haben gesagt: Wir wollen wegkommen vom alten Bericht zur Lage der Menschen mit Behinderungen, in dem seit 1982 Defizite aufgeführt und Subventionen dargestellt wurden. – Die Konsequenz war, dass wir im letzten Jahr erstmals einen Teilhabebericht zum Thema Inklusion erstellt haben, in dem auch die sehr unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Menschen mit Behinderungen dargestellt werden. So differenziert wie die Lebenswirklichkeiten sind, so differenziert werden auch die politischen Antworten sein müssen.

Es war ein guter und wichtiger Erfolg des früheren Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, von Hubert Hüppe – er ist heute unter uns –,

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

dass mit diesem neuen Teilhabebericht auch die UN- Konvention umgesetzt werden konnte, verbunden mit der Zielsetzung, für mehr Teilhabe zu sorgen. Der Teilhabebericht ist auch eine Grundlage für weitere Politik-ansätze, die die Große Koalition in den nächsten drei Jahren verfolgen wird, um die Teilhabe insgesamt zu verbessern, und zwar in allen Bereichen des Lebens.

Im Sinne der Grundregel „Nichts über uns ohne uns“ hat der Deutsche Behindertenrat dafür gesorgt, dass an der Erstellung des Teilhabeberichts auch Wissenschaftler beteiligt waren, die selber betroffen sind und daher auch ihre Lebenswirklichkeit mit einbringen konnten; sie machten ein Drittel des gesamten Redaktionsteams aus. Kerstin Tack und ich sind wild entschlossen,

(Kerstin Tack [SPD]: Yes!)

dafür zu sorgen, dass die Mitwirkungsmöglichkeiten der Verbände der Betroffenen auch bei der Erstellung der nächsten Teilhabeberichte noch weiter ausgebaut werden,

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

damit das Motto „Nichts über uns ohne uns“ auch als Grundlage des politischen Handelns verankert wird.

Wir haben damit den Art. 31 der UN-Konvention umgesetzt, der uns in der Politik auffordert, Statistiken und Datensammlungen über die Lebenslagen behinderter Menschen aufzuarbeiten. In diesen Statistiken und Datensammlungen sollen sich auch differenziert die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten und Belange der Menschen mit Behinderungen oder mit Beeinträchtigungen wiederfinden.

Nach dem Teilhabebericht sind 25 Prozent der Bevölkerung über 18 Jahre betroffen. Das sind 17 Millionen Menschen. Davon sind etwa 7 Millionen Menschen anerkannt schwerbehindert. Wir werden aufgrund der Demografie, der Bevölkerungsstruktur, die Frage von Behinderung und Beeinträchtigung, auch von chronischen Krankheiten, in der Zukunft politisch noch weiter aufarbeiten müssen.

Von daher wird es wichtig sein, dass „barrierefrei“ für alle Facetten des Lebens gilt. Wir hatten am Donnerstag dieser Woche eine Initiative mit Gehörlosen aus Thüringen zu Gast, die uns aufgefordert haben, die heutigen technischen Standards zu nutzen, beispielsweise für Gehörlose eine Notruf-App zu entwickeln, mit der man wichtige Informationen, wichtige Nachrichten sofort zuspielen kann, damit auch diese Menschen über ihr iPhone oder ihr iPad schnell über die aktuelle Sachlage informiert werden können. Es sind sehr einfache technische Möglichkeiten, die heute schon existieren, die wir nur nutzen müssen, um auch in der Kommunikation Barrieren zu überwinden und mehr Teilhabemöglichkeiten zu schaffen.

Wir müssen aber auch mentale Barrieren, Barrieren in den Köpfen, Barrieren dadurch, dass wir etwas nicht gelernt haben, überwinden. Wenn man nicht weiß, wie man mit contergangeschädigten Menschen umgeht, wie man ihnen die Hand gibt, dann hat man Bedenken, Schwierigkeiten, zieht sich zurück, geht nicht auf diese Menschen zu. Das sind unsere Barrieren, die wir aufarbeiten müssen, damit wir auf die Menschen zugehen, sie begrüßen, mit ihnen scherzen können, damit wir sehr entspannt sein können, wenn wir auf sie zugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Barrieren haben wir alle miteinander, und wir alle miteinander sind aufgefordert, sie zu beseitigen. Es ist normal, verschieden zu sein, und es ist wichtig, dass wir lernen, offen miteinander umzugehen, in allen Facetten.

Der Teilhabebericht gibt uns auch Handlungsempfehlungen. Dazu gehört – das ist auch in unserer Koalitionsvereinbarung festgelegt worden –, dass wir unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe die verschiedenen Fördermaßnahmen für Eltern, für Kinder, für Jugendliche bündeln, sodass es vor Ort eine Anlaufsituation, eine Struktur gibt, die weiterhilft, wenn Fragen entstehen, weil zum Beispiel Fördermaßnahmen beantragt werden müssen.

Wir werden das familiäre Umfeld und die Familien selbst durch eine Kultur der Nachbarschaft stärken müssen – durch die Vernetzung mit begleitenden Hilfen, Tagesstätten, Beratung und Betreuung. Wir wollen verstärkt die betreuten Werkstätten nutzen. Sie sollen auch Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der betreuten Werkstätten organisieren. Wir sagen: so viel inklusive Arbeit wie nur irgend möglich, aber weiterhin so viel Betreuung wie nötig. Ich halte nichts davon, eine Struktur abzuschaffen und zu schauen, was dann passiert. Wir werden Strukturen miteinander vernetzen müssen, aber immer mit der Zielsetzung, für den einzelnen Menschen, an dem wir Maß nehmen, möglichst viel auch inklusive Arbeit zu entwickeln.

In meinem Heimatkreis am Niederrhein fangen auch Kinder mit Downsyndrom an, aus der betreuten Werkstatt rauszugehen.

(Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die hätten da nie reingehört!)

Gemeinsam mit anderen, mit Handwerksmeistern bauen sie in einem offenen Museum eine niederrheinische Lehm- kate. Sie sind sehr stolz darauf, eine solche Leistung zu erbringen. Man sieht auf einmal, wie stark, wie innovativ und wie motiviert sie sind.

Vom Bundesverband der Floristen kam einmal jemand zu mir und beklagte sich über den Fachkräftemangel. Ich habe ihn gefragt: Haben Sie einmal überlegt, beispielsweise verstärkt auch Behinderte einzustellen? Die Antwort war erst einmal: Die Kunden haben es immer so eilig; die haben keine Zeit, zu warten. – Hier geht es um Entschleunigung, um Dinge des Miteinanders und Füreinanders, über die wir miteinander reden müssen. Wir müssen ein Stück weit auch einen Mentalitätswandel, eine Revolution der Herzen erzeugen, damit das Miteinander und Füreinander insgesamt verbessert werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die inklusive Bildung endet in Deutschland heute oft nach der Kindertagesstätte. 60 Prozent der betroffenen Kinder gehen noch gemeinsam mit anderen Kindern in eine Regelkita. In der Grundschule sind es nur noch 34 Prozent. Im weiteren Bildungsverlauf werden es immer weniger, bis hin zu den Restbeständen in der Arbeitswelt. Da müssen wir stärker werden; da müssen wir besser werden.

Auch mit dem Bundesteilhabegesetz wird diese Zielsetzung verfolgt werden. Es geht hier eben nicht nur um ein Sparprogramm für die Kommunen; es geht darum, dass für die betroffenen Menschen eine Verbesserung, ein Mehrwert an Teilhabe in der Gesellschaft entwickelt wird. Sowohl die Kommunen als auch die Länder als auch der Bund werden zusammen mit den Trägern weiterhin aktiv sein müssen. Es kann nicht nur um ein Sparprogramm zwecks Ausgabenentlastung der Kommunen gehen, es muss letztendlich um mehr Teilhabe für die betroffenen Menschen gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Leitidee dieser Großen Koalition – das haben wir auch in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben – ist die inklusive Gesellschaft, in der wir gemeinsam lernen, arbeiten, spielen, wohnen und mit allen Facetten leben. Das wird unser Anspruch sein. Daran, wie wir das miteinander umsetzen werden, können Sie uns gerne in drei Jahren – nicht nach 100 Tagen – messen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist Katrin Werner für die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3274891
Wahlperiode 18
Sitzung 27
Tagesordnungspunkt Programm für Barrierefreiheit
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