04.04.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 27 / Tagesordnungspunkt 19

Katrin WernerDIE LINKE - Programm für Barrierefreiheit

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit fünf Jahren gilt in unserem Land eine Konvention, die man die modernste Menschenrechtskonvention nennt. Was hat sich für 7 Millionen schwerbehinderte Menschen, für mehr als 17 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen oder chronischen Erkrankungen im Alltag praktisch verbessert, verschlechtert, oder was blieb, wie es war?

Übereinstimmend sagen viele: Es wird schwieriger, den Alltag zu organisieren. Es fehlt an inklusiven Infrastrukturen. Mittelfristig fehlen 3 Millionen barrierefreie Wohnungen in Deutschland, Defizit steigend. Nur jede dritte Arztpraxis ist wenigstens rollstuhlgerecht. Noch immer blüht eine Landschaft von Sonderwelten: Heime, in denen im Minutentakt verrichtet wird, Werkstätten, in denen für Dumpinglöhne auch für Rüstungsunternehmen, wie zum Beispiel in Bremerhaven, gearbeitet wird, und Förderschulen, die 75 Prozent der Schüler ohne Abschluss verlassen.

Nach der UN-Behindertenrechtskonvention jedoch muss Politik Menschen mit Behinderungen absichern, fördern und ermutigen, selbstbestimmt zu leben; sie muss also Räume für Selbstentfaltung öffnen – wie für alle anderen Menschen auch.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Inklusion braucht deshalb „angemessene Vorkehrungen“ für den Einzelfall im Zusammenspiel mit vielen „geeigneten Maßnahmen“ im Großen.

Art. 4 der UN-Behindertenrechtskonvention spricht davon, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen“. Deshalb unterstützen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, zunächst das Behindertengleichstellungsgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zu novellieren.

Denn es geht in dieser Wahlperiode nicht isoliert um ein Bundesteilhabegesetz. Die Gültigkeit des SGB IX steht – sagen Wissenschaftler – zu 80 Prozent nur auf dem Papier. Auch in diesem Gesetz ist der Behinderungsbegriff zu ändern. Es geht auch um den arbeitnehmerähnlichen Status und ein Recht auf bedarfsgerechte Assistenz in allen Lebensphasen und Lebenslagen, und zwar unabhängig von Einkommen und Vermögen.

(Beifall bei der LINKEN)

Gebraucht wird eine soziale Umwelt, an der alle Menschen mit Beeinträchtigungen teilhaben können. Das sind auch ältere Menschen und Menschen mit chronischen Erkrankungen, Familien mit Kleinkindern und Kinder selbst, nicht nur Menschen mit einem Behinderungsgrad. Es geht um alle Menschen mit dauerhaftem oder zeitweiligem Unterstützungsbedarf.

Es gibt eben auch thematische Focal Points. Einer davon ist in der UN-Behindertenrechtskonvention die Barrierefreiheit. Aus Sicht der betroffenen Menschen heißt das: im Alltag – zu jeder Zeit – nahezu jeden Ort, jede Einrichtung, jedes Angebot und jede Information erreichen, nutzen und verstehen zu können, ohne Bittgänge, Kostenvorbehalte oder Vermögensanrechnung.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Schon 2011 forderten die Landesbehindertenbeauftragten in ihrer Dresdner Erklärung energischere Schritte. Der Teilhabebericht von 2013 zeigt, dass diese fehlen. Aber inklusive Strukturen wird es ohne Barrierefreiheit nicht geben. Ein bisschen Barrierefreiheit ist leider exklusiv.

Einzel- und Pilotprojekte reichen nicht. Barrierefreie Lösungen im Alltag müssen leider immer wieder eingefordert, erstritten oder sogar eingeklagt werden. Zuletzt kritisierte der Bundesrechungshof, dass vom Bundesverkehrsministerium und der Deutschen Bahn AG „die Bahnsteige an mehr als 3 900 kleineren Bahnhöfen … pauschal als stufenfrei bewertet werden, selbst wenn die Bahnsteige ausschließlich über Treppen erreichbar sind“. Zwei Drittel aller Bahnhöfe werden so indirekt als barrierefrei ausgegeben, obgleich sie für Rollstuhlfahrer oder Menschen mit größeren Mobilitätseinschränkungen kaum nutzbar sind.

Deshalb fordert die Fraktion Die Linke ein Sofortprogramm zur Beseitigung bestehender Barrieren in Höhe von jährlich 1 Milliarde Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen konkrete Taten, die die Lebenslagen von Menschen mit Unterstützungsbedarf praktisch verbessern. Wir wollen ein Signal, dass Teilhabe mehr ist als ein einzelner Leistungsanspruch, nämlich Wert und Wirklichkeit für alle, ein soziales Gut. Wir wollen diese Beseitigung von Barrieren bewusst als Zusatzprogramm, neben dem Bundesleistungsgesetz. Dabei betonen wir, dass mit dem Teilhabegesetz keine und keiner schlechtergestellt werden darf. Aber wir sehen auch: Die Entlastung der Kommunen von den Kosten der Eingliederungshilfe räumt keine einzige Barriere fort. Wir wollen ein Programm, das in den Kommunen wirkt: dort, wo Menschen zum Arzt gehen oder rollen; dort, wo sie in der Schule oder im Theater hören können, was sie nicht sehen, oder in Bildern verstehen, was Buchstaben ihnen nicht verraten;

(Beifall bei der LINKEN)

dort, wo sie ihr Recht selbst vertreten, im Rathaus oder im Gericht; dort, wo sie arbeiten und Freunde am Stammtisch treffen; dort, wo sie wohnen, daheim statt im Heim.

Wir wollen von Anfang an eine fachkundige Begleitung durch das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit und eine Evaluation dieses Programms, damit es nachhaltig wird. Wir wollen eine Regierung mit menschenrechtlichem Tatendrang und beantragen deshalb geeignete Maßnahmen, wie sie die UN-Konvention versteht. Wir wollen nicht mehr und nicht weniger.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort hat Kerstin Tack für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3274892
Wahlperiode 18
Sitzung 27
Tagesordnungspunkt Programm für Barrierefreiheit
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