04.04.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 27 / Tagesordnungspunkt 19

Peter WeißCDU/CSU - Programm für Barrierefreiheit

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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die UN-Behindertenrechtskonvention hat einen Prozess ausgelöst, im Zuge dessen auch unser eigenes Denken eine Veränderung erfährt.

Zum Schluss dieser erfreulichen Debatte kann man feststellen: Die Idee einer inklusiven Gesellschaft ist mittlerweile bei uns angekommen. Sich daran zu gewöhnen, war – wenn man sich die Tradition und die bisher geleistete Arbeit in der Behindertenpolitik in Deutschland vor Augen führt – eine echte Revolution, aber sie ist gelungen. Unser Bekenntnis ist klar: Ja, wir wollen eine inklusive Gesellschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das bedeutet vor allen Dingen, die Kompetenzen und auch den Sachverstand der Menschen mit Behinderungen ernst zu nehmen. Was heißt das? Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Im Inklusionsbeirat der Bundesregierung sitzen nicht nur Menschen, die Sachverstand haben und über Behinderte reden, sondern dort sitzen Menschen mit Behinderung, um ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zu artikulieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das wichtigste Instrument ist der Nationale Aktionsplan. All die Forderungen und Wünsche, die vorgetragen worden sind, müssen jetzt in den Nationalen Aktionsplan aufgenommen werden. Wir brauchen einen Arbeitsplan, mit dem uns Schritt für Schritt die Umsetzung hin zu einer inklusiven Gesellschaft gelingt. Es geht nun darum, dass nicht Politiker über Behinderte schreiben, sondern in dem Aktionsplan muss sich das wiederfinden, was Menschen mit Behinderung selber eingebracht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Eine Anpassung der Gesetzgebung im Zuge der Reform der Eingliederungshilfe hin zu einem neuen Bundesteilhabegesetz ist der entscheidende Schritt. Die Opposition kann sich jetzt natürlich hinstellen und fragen: Warum gibt es das nicht schon längst? Legt endlich einen Entwurf vor! – Verehrte Kolleginnen und Kollegen, um Ihr Kurzzeitgedächtnis etwas aufzufrischen: Seit Jahren reden wir in Deutschland über die Reform der Eingliederungshilfe. Wir haben einen mühsamen, aber interessanten Prozess angestoßen. In einer Bund-Länder- Arbeitsgruppe haben sich Bund und Bundesländer zusammen hingesetzt und aufgeschrieben, wie eine solche Reform inhaltlich aussehen soll. Jetzt ist es in der Tat an der Zeit, die Reform der Eingliederungshilfe anzupacken. Das haben wir uns als Große Koalition vorgenommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

In der Debatte gerieten ein paar Dinge durcheinander. Gestern ist mehr über die Entlastung der Kommunen in Höhe von 5 Milliarden Euro gesprochen worden als über den Inhalt der Eingliederungshilfe selbst. Ich will klipp und klar sagen: Ja, der Bund, wir als Große Koalition, stehen zu unserer Zusage, im Rahmen der Reform die kommunale Seite um insgesamt 5 Milliarden Euro zu entlasten und uns an den Kosten der Eingliederungshilfe zu beteiligen. Aber bevor es zu einer Entlastung kommt, müssen die Inhalte stimmen. Das ist das Wesentliche: Wir wollen eine inhaltliche Reform der Eingliederungshilfe. Das ist unser Ziel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn wir über eine inklusive Gesellschaft sprechen, dann sprechen wir natürlich über unterschiedliche Arten von Behinderungen. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass der Personenkreis der Menschen mit psychischen Behinderungen oft vergessen wird. Unter den rund 7,3 Millionen schwerbehinderten Menschen, die in der Bundesstatistik verzeichnet sind – ich sage das ausdrücklich einschränkend –, befindet sich – amtlich festgestellt – 1 Million Menschen mit seelischen Behinderungen. Wir wissen, dass langfristig psychisch kranke Menschen von sich aus vielfach keine Anerkennung als Schwerbehinderte beantragen.

Aktuell leben in Deutschland 1,4 Millionen Menschen mit der ärztlich gestellten Diagnose Demenz unter uns. Aber nur etwa ein Drittel dieser Personen beantragt von sich aus, dass amtlich eine Schwerbehinderung festgestellt wird.

Ein zweiter Hinweis: Im Zusammenhang mit der wachsenden Anzahl der Menschen mit seelischen Behinderungen muss man die dramatisch steigende Zahl der Menschen berücksichtigen, die wegen psychischer Erkrankungen, wegen psychischer Störungen auf eine Erwerbstätigkeit verzichten müssen und Erwerbsminderungsrente beantragen. Deshalb ist es wichtig, auch an die seelisch behinderten Menschen zu denken, wenn man von Menschen mit Behinderungen spricht.

Natürlich haben Menschen mit psychischen Störungen andere Probleme als zum Beispiel Menschen mit einer Gehbehinderung oder einer Sinnesbehinderung. Sie brauchen auch andere Formen von Unterstützung. Ich will das kurz an drei Punkten verdeutlichen.

Erstens: Teilhabe. Die gesellschaftliche Teilhabe ist ein zentrales Thema. Um erwerbstätig sein zu können, benötigen Menschen mit psychischen Behinderungen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Arbeitsbedingungen und Unterstützungsangebote.

Zweitens: Barrierefreiheit. Bezogen auf einen Rollstuhlfahrer können wir Barrierefreiheit sehr leicht definieren. Bezogen auf einen Menschen mit seelischen Behinderungen fällt uns das sehr schwer. Menschen mit seelischer Behinderung haben oft Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen. Sie reagieren vielleicht besonders sensibel auf bestimmte Stressfaktoren. Sie haben vielleicht Ängste, die die Alltagsbewältigung, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erschweren.

Drittens: Selbstbestimmung. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist Selbstbestimmung ein wichtiges und spezifisches Thema, weil sie oft große Schwierigkeiten haben, eine für sie sinnvolle Entscheidung zu treffen. Dann müssen Betreuer oder Gerichte für sie entscheiden. Wir haben in der letzten Legislaturperiode das Betreuungsrecht reformiert und die Schwelle für Zwangsmaßnahmen, also für Unterbringung oder Zwangsbehandlung, deutlich erhöht. Auch das war ein wichtiger Beitrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.

Neben dem, was wir rechtlich oder durch finanzielle Unterstützung regeln können, ist, wie ich finde, für die Idee einer inklusiven Gesellschaft von großer Bedeutung, dass sich die vielen guten Beispiele, die wir in unserem Land haben, vervielfältigen. Deshalb fand ich die Idee des früheren Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Hubert Hüppe, sehr gut, eine sogenannte inklusive Landkarte ins Leben zu rufen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Für all die tollen Beispiele, die wir in unserem Land haben, gilt: Man konnte beantragen, in dieser Landkarte verzeichnet zu werden. Nicht der Behindertenbeauftragte hat entschieden, wer aufgenommen wird, sondern Menschen mit Behinderung haben den Auswahlprozess mitgestaltet und entschieden, wer in die Landkarte aufgenommen wird. Die besten Beispiele wurden ausgezeichnet. Ich glaube, in den kommenden Jahren wird es entscheidend darauf ankommen, dass wir dafür sorgen, dass die vielen guten Beispiele für eine inklusive Gesellschaft in Deutschland sich möglichst rasch vervielfältigen, sodass wir in einigen Jahren sagen können: Auf dieser inklusiven Landkarte gibt es keine weißen Flecken mehr.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. Es ist gut, dass Sie Herrn Hüppe erwähnt haben. – Herr Hüppe, ich glaube, das ganze Haus dankt Ihnen für das, was Sie in diesem Bereich geleistet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Seien Sie mal nicht so bescheiden! Wir danken Ihnen nicht nur für die Landkarte.

Nächste Rednerin: Waltraud Wolff für die SPD.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3276641
Wahlperiode 18
Sitzung 27
Tagesordnungspunkt Programm für Barrierefreiheit
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