04.04.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 27 / Tagesordnungspunkt 19

Waltraud WolffSPD - Programm für Barrierefreiheit

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren auf den Zuschauerrängen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben übereinstimmend festgestellt: Alle Menschen haben den Anspruch und das Recht auf eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das hört sich sehr groß an; darüber ist ja schon vielfältig diskutiert worden. Vor fünf Jahren wurde dieses Ziel in der UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten. Deutschland war das erste Land, das diese Konvention unterzeichnet und ratifiziert hat, aber wir sind natürlich noch nicht am Ende des Weges. Auch unser Ziel ist eine inklusive Gesellschaft. Jeder Mensch soll seine eigene Lebenssituation so weit wie möglich selbst gestalten können.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das ist unser Anspruch. Eines kann ich Ihnen sagen, so wie ich hier stehe: Bis zum Ende dieser Legislaturperiode werden wir auf diesem Weg ein großes Stück vorangekommen sein.

Die Behindertenrechtskonvention beschreibt die Einschränkungen von Menschen mit Behinderungen als abhängig von der Wechselbeziehung zwischen den individuellen Fähigkeiten eines Menschen und den Barrieren, auf die er trifft. Aufgrund einer Beeinträchtigung ist man also nicht per se dafür prädestiniert, dass man nicht uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Oft ist es doch die Umwelt, die aus einer Beeinträchtigung erst eine Behinderung macht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hier gilt es, den Finger in die Wunde zu legen. Beispiel: Wenn Fußgänger die Welt planen würden, könnte das durchaus eine Welt voller Stufen und Treppen sein. Natürlich hätte das für einen Rollifahrer gravierende Auswirkungen. In dieser Welt ist aber nicht der Rollstuhl die Barriere, sondern die Barriere sind die Treppen. Darum müssen diese Treppen weg.

(Beifall bei der SPD)

Aus solchen und aus vielen anderen Gründen haben wir im Koalitionsvertrag ein zutiefst sinnvolles und menschliches Ziel definiert:

(Beifall bei der SPD)

An circa 20 Stellen im Koalitionsvertrag gibt es dazu Aussagen. Als ich diese gefunden habe, war ich etwas erstaunt, aber ich habe mich natürlich sehr darüber gefreut. Es gibt größere und kleinere Baustellen, die zu bearbeiten sind. Diese betreffen im Grunde genommen alle Fachgebiete.

Wir haben festgestellt: Wir wollen die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhabegesetz machen. Wir wollen eine gemeinsame Bildung vorantreiben und einen Arbeitsmarkt schaffen, der auch Menschen mit Behinderungen offensteht. Wir wollen Barrieren abbauen. Wir brauchen einen leichteren Zugang für Menschen mit Behinderungen zu Transportmitteln. Jeder kennt das: Ein Rollstuhlfahrer muss erst bei der Bahn anrufen, damit er überhaupt in den ICE kann. Wir brauchen einen besseren Zugang zu Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten. Wir werden in der Gesundheitsversorgung viel ändern und gerade bei der Vorsorge mehr tun.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Mir ist eines ganz besonders wichtig: Wir wollen das Selbstbestimmungsrecht hilfebedürftiger Erwachsener stärken. Willy Brandt hat in den 70er-Jahren von Menschen mit Behinderungen als Erster von Mitbürgern gesprochen. Warum, frage ich, dürfen Menschen mit Behinderungen, die unter voller Betreuung stehen, heute nicht zur Wahl gehen? Diese Diskriminierung muss ein Ende haben.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Barrierefreiheit verknüpfen wir immer mit einem Rolli. Klar, wir wollen da sehr viel tun. Aber Barrierefreiheit fängt im Kopf an, und zwar bei uns allen. Als Opposition kann man zwar sagen, dass die Regierung nicht genug tut, aber zum Beispiel für einen inklusiven Arbeitsmarkt können wir nur den Rahmen setzen. Wir brauchen auch Arbeitgeber, die bereit sind, Menschen mit Behinderungen einzustellen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir müssen den Rahmen auch machen!)

Barrierefreiheit hat also auch etwas mit Bildungsarbeit, mit dem Abbau von Vorurteilen zu tun. Hierbei müssen wir alle mithelfen.

Wenn ich von gemeinsamem Lernen und einem gemeinsamen Arbeitsmarkt rede, heißt das nicht gleichzeitig, dass es keine Werkstätten für Behinderte und keine Sonderschulen für Kinder mit Förderbedarf geben soll. Diese werden wir auch in der Zukunft brauchen. In diesem Punkt müssen Eltern Sicherheit haben.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU])

Wir wollen Teilhabe statt Fürsorge. Wir wollen ein gemeinsames Spielen, Lernen, Wohnen und Arbeiten ermöglichen. Wir tun etwas. Lassen Sie uns das auch gemeinsam mit der Opposition tun.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Danke, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist Gabriele Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man gegen Ende einer Debatte ans Rednerpult tritt, dann ist schon viel gesagt worden. Wir haben heute Morgen schon sehr viele wunderbare Beispiele für gelungene Inklusion, für Aktionen im Interesse der Menschen mit Behinderungen und für Leistungen der Menschen mit Behinderungen, zum Beispiel in Sotschi, aber auch lokal, gehört. Ich werde daher nicht noch weitere Beispiele nennen, sondern versuchen, das Ganze aus meiner Sicht zusammenzufassen:

Wir wollen die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vorantreiben und den Nationalen Aktionsplan gemeinsam mit den Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln. Die Konvention ist durch die Ratifizierung geltendes Recht und eine wichtige Leitlinie für die Behindertenpolitik in Deutschland. Das Ziel des Übereinkommens ist, die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Deutschland zu fördern, Diskriminierung zu unterbinden und den Inklusionsprozess in der Gemeinschaft weiter anzustoßen und zu fördern. Es geht um Chancengleichheit in der Bildung, um berufliche Integration und um die gesamtstaatliche Aufgabe, Menschen mit Behinderungen einen selbstbestimmten Platz in einer barrierefreien Gesellschaft zu sichern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dabei steht der Zugang für Menschen mit Behinderungen zu Transportmitteln, Informationen, Diensten und Einrichtungen im Vordergrund. Wir nehmen diese Aufgabe sehr ernst, auch wenn uns von der Opposition manchmal etwas anderes unterstellt wird.

Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet Vertragsstaaten, politische Konzepte zur Durchführung auszuarbeiten und umzusetzen. Genau dieser Verpflichtung ist die Bundesregierung in der Zwischenzeit mit der Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans nachgekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Nationale Aktionsplan wurde 2011 beschlossen. Er leistet unserer Überzeugung nach einen wichtigen Beitrag zur Förderung einer gleichberechtigten Teilhabe von den rund 7 bis 8 Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Behinderung. Dieser Aktionsplan trägt nicht nur die Handschrift der Bundesregierung, sondern, wie wir bereits gehört haben, von Anfang an auch die von Menschen mit Behinderung. Er umfasst über 200 Einzelmaßnahmen und hat einen Zeithorizont von zehn Jahren. Darüber hinaus sind Länder und Kommunen dazu angehalten, eigene Aktionspläne zu erarbeiten. Das passiert in vielgestaltiger Hinsicht; davon haben wir heute schon gehört.

In dieser Legislaturperiode im Deutschen Bundestag sind die Fortentwicklung und auch die Verbesserung der Beteiligungsmöglichkeiten erklärtes Ziel. Von September 2013 bis Juni dieses Jahres wird der Nationale Aktionsplan im Auftrag des BMAS von der Prognos AG wissenschaftlich evaluiert. Schwerpunkt dabei ist die Beteiligung der Zivilgesellschaft. In diesem Zusammenhang sollte noch einmal der von allen Fraktionen begrüßte Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen erwähnt werden. Dieser Teilhabebericht ist im Übrigen auch von der Fachöffentlichkeit sehr positiv aufgenommen worden. Sie sehen also: Wir kommen unseren Verpflichtungen nach.

Mit der Schaffung des SGB IX, des Behindertengleichstellungsgesetzes, der Gleichstellungsgesetze aller 16 Bundesländer und des am 18. August 2006 in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes wurde in den letzten zehn Jahren die Grundlage für mehr Selbstbestimmung und Teilhabe geschaffen. Die Ergebnisse der Evaluation des Nationalen Aktionsplans und die Erkenntnisse des Teilhabeberichts werden in die Weiterentwicklung einfließen. Die Erkenntnisse der Staatenprüfung werden ebenfalls Berücksichtigung finden.

Im September 2014 soll der von der Bundesregierung eingereichte erste Staatenbericht aus dem Jahr 2011 vom UN-Vertragsausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen abschließend geprüft werden. Die Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes und der drei auf seiner Grundlage ergangenen Rechtsverordnungen ist ebenfalls eine Aufgabe, die sich aus dem Nationalen Aktionsplan ergibt. Dabei sollen möglicher Anpassungsbedarf und Regelungslücken aufgezeigt werden. Die Bewertung des Gesetzes hat zum Ziel, verlässliche Erkenntnisse darüber zu erhalten, ob alle Gruppen von Menschen mit Behinderungen ausreichend berücksichtigt sind und ob sich die Instrumente dieses Gesetzes in der Praxis bewährt haben. Hier geht es insbesondere um leichte Sprache, Zielvereinbarungen und Verbandsklage. Der Abschlussbericht soll, wie zu vernehmen ist, schon im Mai dieses Jahres vorliegen.

Zum Schluss möchte ich noch auf die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach einer Anpassung des Behinderungsbegriffs eingehen. Wie bereits erwähnt, ist die Konvention geltendes Recht. Diese Forderung ist nach meiner Ansicht überflüssig und in der Sache nicht zielführend. Denn der im SGB IX und im Behindertengleichstellungsgesetz definierte Behinderungsbegriff stellt eben nicht nur auf gesundheitliche Funktionsbeeinträchtigungen ab, sondern er nimmt auch die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben in den Blick und entspricht somit den Anforderungen der Konvention.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Im Übrigen wird derzeit vom Arbeitsministerium im Rahmen der bereits angesprochenen Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes geprüft, ob der Begriff angepasst werden muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, lassen Sie uns da bitte nicht um Begriffe streiten, sondern in der Sache arbeiten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Schmidt. – Nächste Rednerin in der Debatte: Heike Baehrens für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3276642
Wahlperiode 18
Sitzung 27
Tagesordnungspunkt Programm für Barrierefreiheit
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