09.05.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 34 / Tagesordnungspunkt 19

Dietmar NietanSPD - 10 Jahre "EU-Osterweiterung"

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gehrcke hat recht:

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das höre ich gern!)

Wenn wir über die Wiedervereinigung Europas sprechen, ist es gut, den 8. Mai 1945 als Ausgangspunkt zu nehmen, den Untergang des Faschismus, der letztlich so groß werden konnte, weil sich Staaten, Menschen, Ideologen in einen nicht enden wollenden Nationalismus verstiegen hatten. Deshalb sollte vielleicht die erste Lehre aus 1945 sein, dass wir all denen, die, um von eigenen Fehlern abzulenken, dumpfen Nationalismus schüren, mit aller Klarheit entgegentreten.

(Beifall im ganzen Hause)

Wenn wir 1945 als Ausgangspunkt nehmen, dann sollten wir uns daran erinnern, dass sich zumindest ein Großteil der Deutschen, diejenigen, die im Westen lebten, nach 1945 auf den Weg in die Demokratie, in eine freie und offene Gesellschaft machen konnten, dass aber ein anderer Teil der Deutschen und mit ihnen viele Völker Mittel- und Osteuropas weitere 44 Jahre, bis 1989, in einer Diktatur leben mussten. Auch das gehört dazu, wenn man an 1945 erinnert.

Es ist der Mut dieser Menschen hinter dem Eisernen Vorhang gewesen, der das Unglaubliche geschafft hat, nämlich die friedliche Revolution, die am Ende gezeigt hat, dass ein noch so perfides Unterdrückungssystem den Drang der Menschen nach Freiheit nicht für immer stoppen kann.

(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!)

Manchmal erinnere ich mich zurück und frage mich, ob wir im Westen, also vor dem Eisernen Vorhang, in einer Zeit, in der die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang ihren Mut zusammengenommen haben, ein nicht allzu gutes Beispiel waren, weil bei uns vielleicht eher Kleinmut herrschte, weil viele von uns selbst nicht mehr daran geglaubt haben, dass es eine solche Wiedervereinigung Europas in absehbarer Zeit gibt. Auch das sollte eine Lehre sein: Kleinmut ist nicht der richtige Ansatz, um die Wiedervereinigung Europas voranzutreiben. Frau Kollegin Baerbock hat es schon angesprochen: Kleinmut oder Populismus, das sei dahingestellt, herrschte zum Beispiel auch in der Frage der Öffnung des Arbeitsmarktes. Auch das sollte ein Lehre sein: Es ist nicht die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die in Europa eine Bedrohung darstellt. Es geht vielmehr um die Frage: Was passiert, wenn es die Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber keine fairen Regeln auf dem Arbeitsmarkt wie zum Beispiel einen Mindestlohn gibt

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DE GRÜNEN)

oder wenn ganz einfache Prinzipien, zum Beispiel dass auf dem Arbeitsmarkt gelten muss: „Wer am gleichen Ort die gleiche Arbeit macht, bekommt den gleichen Lohn“, nicht gelten?

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn es solche Prinzipien überall in Europa gäbe, dann müssten die Menschen vor der Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Angst haben. Das darf an dieser Stelle schon gesagt sein: Bei aller Freude über die Erweiterung – innerhalb der Europäischen Union haben wir noch viele Reformen vor uns, bei denen wir genau diese Dinge beachten müssen und eben nicht dem neoliberalen Zeitgeist frönen dürfen.

Bei einem Prozess wie der europäischen Integration bzw. Erweiterung gibt es Gewinner und Verlierer. Ich glaube, an dieser Stelle sollte man bei allem Erfolg auch daran erinnern, dass viele Menschen in den neuen EU-Ländern – und das nicht aus eigener Schuld – zu den Verlierern der Transformation gehört haben, weil es bisher noch nicht gelungen ist, die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern, starke Gewerkschaften zu etablieren und die Regeln auf dem Arbeitsmarkt in allen Mitgliedstaaten so umzusetzen, wie wir uns das wünschen. Wir sollten auch an die Menschen erinnern, für die diese Transformation, jedenfalls ökonomisch und sozial, kein Erfolg war.

Dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, zu den eindeutigen ökonomischen Gewinnern zählen, das muss ich, glaube ich, an dieser Stelle nicht betonen. Es ärgert mich deshalb, wenn ich manche Debatten erlebe, in denen so getan wird, als wäre die EU-Osterweiterung für uns eine Belastung gewesen. Wenn es ein Land gibt, das der ökonomische Gewinner des Ganzen ist, dann ist es die Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht sollten wir als Politikerinnen und Politiker lernen, dies den Bürgerinnen und Bürgern etwas öfter zu sagen und zu erklären, statt in Stammtischmanier populistisch mit der Angst vor Integration und Öffnung des Arbeitsmarktes zu spielen, wenn es uns vor Wahlen gerade passt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt noch einen anderen Punkt, den ich an dieser Stelle betonen möchte. Ich habe bei der EU-Osterweiterung manchmal das Gefühl gehabt, dass ich etwas erlebe, was man zumindest in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung auch in Deutschland erleben konnte: Ich hatte den Eindruck, dass die alten politischen Eliten in Westdeutschland und in Westeuropa gar nicht begriffen haben, welch ein Geschenk die Erweiterung ist. Ich habe sehr oft die Attitüde erlebt, als müssten uns die „armen Brüder und Schwestern aus dem Osten“ dankbar sein, dass wir sie in die Europäische Union aufgenommen haben. Ich glaube, eine weitere Lehre aus der Geschichtesollte sein, dass sich Europa grundlegend verändert hat. Wir sollten dankbar sein, dass uns die Menschen, die noch 44 Jahre länger als wir hinter dem Eisernen Vorhang leben mussten, bereichern: mit ihrer Kultur, aber auch mit ihrem unbedingten Willen zur Freiheit, von dem wir uns manchmal auch eine Scheibe abschneiden könnten, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bei vielen dieser Menschen handelte es sich um große Persönlichkeiten – ich nenne Vaclav Havel, Lech Walesa, Tadeusz Mazowiecki oder auch Alexander Dubcek –, die uns stellvertretend für die Menschen in ihren Ländern bereichert haben. Deshalb sollten wir uns deutlich vor Augen führen: Die Erweiterung der Europäischen Union war nicht der Anschluss der Ostgebiete, sondern eine Veränderung. Diese Veränderung sollten wir wirklich verinnerlichen, und zwar als eine große Chance, von den Menschen in Mittel- und Osteuropa etwas zu lernen, und wir sollten sie nicht bevormunden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte zum Schluss meiner Ausführungen sagen: Ich würde mir wünschen, dass uns die positiven Erfahrungen mit der EU-Erweiterung und die Tatsache, dass die Menschen in den Transformationsländern zu uns wollten, weil sie wussten, dass hier die Werte von Demokratie und Freiheit gelebt werden, etwas mehr Mut geben. Sie können uns nämlich deutlich machen, dass es Demokratie und Freiheit nicht umsonst gibt, dass man für sie kämpfen muss und dass man für sie manchmal – daran sollte man in diesen Tagen denken – auch Opfer bringen muss.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Nietan. – Nächster Redner: Dr. Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3394323
Wahlperiode 18
Sitzung 34
Tagesordnungspunkt 10 Jahre "EU-Osterweiterung"
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