Peter WeißCDU/CSU - Renten aus Beschäftigung in einem Ghetto
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat unvorstellbar für uns, für die heute lebende Generation, was das Leben in Ghettos, in die die Nazidiktatur und ihre Helfershelfer Menschen gepfercht haben, wirklich bedeutet hat. Deswegen möchte ich noch einmal daran erinnern, dass vor zwei Jahren, am 27. Januar 2012, Marcel Reich-Ranicki von dieser Stelle aus uns allen mit seiner Rede einen sehr beeindruckenden und tiefen Einblick in die Situation des Warschauer Ghettos damals gegeben hat.
Dass wir im Deutschen Bundestag 2002 ein Gesetz beschlossen haben, mit dem wir den Menschen, die im Ghetto einer Arbeit nachgingen, um zu überleben, einen eigenen Rentenanspruch zugesprochen haben, war, wie ich finde, eine richtige, gute und nicht nur symbolträchtige Entscheidung. Ich glaube, wir können gemeinsam ein Stück stolz darauf sein, dass wir das geschafft haben. Ja, die Menschen, die im Ghetto einer Arbeit nachgingen, erhalten einen eigenen Rentenanspruch: Das war die Entscheidung des Bundestages. Sie war richtig, gut und wegweisend.
(Beifall im ganzen Hause)
Auf das, was anschließend geschehen ist, können wir nicht wahnsinnig stolz sein; das ist richtig. Die Deutsche Rentenversicherung hat die Bestimmungen des Ghettorentengesetzes in der Praxis nämlich so eng ausgelegt, dass rund 90 Prozent der Anträge abgelehnt worden sind. Ich will ganz klar sagen: Es war 2002 nicht die Absicht der deutschen Parlamentarier, ein Gesetz zu verabschieden, bei dem 90 Prozent der Betroffenen anschließend gar keine Leistung bekommen, weil die meisten Anträge durch die Behörden abgelehnt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die damalige rot-grüne-Bundesregierung, die ich als CDU-Abgeordneter nicht unbedingt verteidigen muss – in diesem Fall tue ich das aber gerne –, hat damals übrigens schnell reagiert, indem sie eine eigene Entschädigungsleistung in Höhe von 2 000 Euro eingeführt hat, die jeder, dessen Antrag abgelehnt wurde, beantragen konnte und auch unbürokratisch und schnell erhalten hat. Um das deutlich zu machen: Es gab anschließend also kein Nichtstun, sondern es ist schnell reagiert worden.
Dann kam im Jahr 2009 – das ist schon erwähnt worden – die wegweisende Entscheidung des Bundessozialgerichts, mit der die Möglichkeit eröffnet wurde, dieses Gesetz praxisnäher umzusetzen und wesentlich mehr Anträge zu genehmigen. Deswegen richte ich noch einmal einen Dank für diese wegweisende Entscheidung an die damaligen Sozialrechtler, mit der sie unser Gesetz so zur Anwendung gebracht haben, wie es eigentlich gedacht war.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Im deutschen Sozialrecht gibt es aber eine Bestimmung, die für alle Sozialleistungen gilt, nämlich dass man eine Sozialleistung nur vier Jahre rückwirkend genehmigt bekommen kann. Das führt im Fall der Bezieher einer Ghettorente ab 2005 allerdings dazu, dass deren monatliche Rente wesentlich höher ist – um bis zu 45 Prozent höher – als die Rente, die ab dem Jahr 1997 monatlich ausgezahlt wird.
Man ging davon aus, dass das, was einem entgangen ist, weil der ursprüngliche Rentenantrag nicht genehmigt wurde, durch diesen höheren monatlichen Zahlbetrag der Rente ungefähr ausgeglichen wird. In vielen Gesprächen mit Betroffenen haben wir allerdings feststellen müssen, dass das subjektive Gerechtigkeitsbefinden trotzdem massiv gestört ist,
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja auch objektiv falsch!)
weil sich die Betroffenen fragen: Warum bekommt der eine die Rente rückwirkend ab 1997 ausgezahlt und ich erst ab 2005?
Wir haben dann darüber diskutiert, ob man denjenigen, die erst ab 2005 eine Rente erhalten, für den Zeitraum von 1997 bis 2005 nicht einfach einen Einmalbetrag als Entschädigung zahlen könnte. Wir haben das sehr ernsthaft erwogen, aber feststellen müssen, dass die Betroffenen auch mit einer solchen Regelung nicht zufrieden gewesen wären, sondern das nach wie vor als relativ ungerecht empfunden hätten.
Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt eine klare Regelung treffen. Mit der Änderung machen wir Folgendes möglich: Derjenige, der damit einverstanden ist, dass er erst ab 2005 diese Rente bekommt – dafür erhält er aber einen höheren monatlichen Zahlbetrag –, kann dabei bleiben. Wer dagegen eine Neuberechnung seiner Rente möchte, die dann rückwirkend ab 1997 ausgezahlt wird – dafür erhält er aber einen niedrigeren monatlichen Zahlbetrag –, der kann diese Lösung wählen.
Ich glaube, damit kann jeder Betroffene für sich persönlich eine Entscheidung treffen, und ich hoffe, dass das subjektive Ungerechtigkeitsempfinden, das mit der bisherigen Praxis verbunden ist, damit der Vergangenheit angehört. Das ist ein wichtiger Schritt, um dem Gerechtigkeitsempfinden der Betroffenen nach ihrem schweren Schicksal, das sie erlebt haben, ein Stück weit zu entsprechen.
Wir eröffnen die Möglichkeit, Anträge jetzt oder auch erst in Zukunft zu stellen. Diejenigen, die bislang zum Beispiel aufgrund der Befürchtung, bei der bisherigen Genehmigungspraxis ohnehin keine Chance zu haben, keinen Antrag gestellt haben, sollten jetzt den Mut aufbringen – dazu möchte ich sie auch ausdrücklich auffordern –, einen Antrag auf eine Ghettorente zu stellen, wenn die Voraussetzungen bei ihnen vorliegen.
Bei selbstkritischer Betrachtung – so müssen wir sagen – hat es viel zu lange gedauert, bis bei der Auslegung dieses Gesetzes die Erkenntnis Platz gegriffen hat, dass eine Ghettobeschäftigung nicht mit den Maßstäben eines allgemeinen versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses klassischer Art gemessen werden kann.
Ich glaube, dass wir jetzt insgesamt eine Regelung treffen, die dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen tatsächlich entspricht und mit der dafür gesorgt wird, dass jeder für sich selbst ermessen kann, mit welcher Regelung er gerne seine Ghettorente beantragt und mit welcher finanziellen Regelung er glaubt, besser zu fahren. Logischerweise spielt auch die Frage, wie hoch der Zahlbetrag ist, eine große Rolle, auch wenn es, ehrlich gesagt, mehr um geringe Rentenansprüche geht. Es sind keine Riesensummen, die da monatlich ausbezahlt werden.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Gesamtbetrag ist schon vierstellig! Das ist für die Leute schon was!)
Ich finde, dass man bei einer solchen Debatte auch auf Folgendes hinweisen sollte. Der finanzielle Beitrag einer Ghettorente ist nur der eine Aspekt. Der andere Aspekt ist ein eher moralischer. Ich darf seit einigen Jahren Präsident des Maximilian-Kolbe-Werks sein, einer Institution, die aus der katholischen Versöhnungsarbeit heraus entstanden ist. Dieses Werk steht mit den heute noch unter uns lebenden Menschen, die einst von den Nazis in KZs, Ghettos oder in Lager verbracht worden waren, im Dialog und gewährt ihnen Hilfe.
Für mich ist beeindruckend: Dass die Frauen und Männer, die sich nach den schrecklichen Erfahrungen in der Nazidiktatur einstmals geschworen hatten, nie mehr deutschen Boden zu betreten, nie mehr die deutsche Sprache zu benutzen, die zusammengezuckt sind, wenn irgendwo Deutsch gesprochen worden ist, weil sie sich dadurch automatisch an die Nazischergen erinnert fühlten, heute – hochbetagt! – bereit sind, nach Deutschland zu kommen, an Universitäten und Schulen als Zeitzeugen für Gespräche zur Verfügung zu stehen und ihre Gastgeber in Deutschland als „unsere Freunde“ bezeichnen, ist für mich das eigentliche Wunder der Aussöhnung. Für dieses Wunder der Aussöhnung können wir Deutsche nur dankbar sein.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Als nächster Redner hat der Kollege Beck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst mit einem Dank an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD dafür beginnen, dass sie durchgesetzt haben, dass dieses wirklich ungute Kapitel jetzt hoffentlich ein gutes Ende findet. Wir als Opposition haben in der letzten Wahlperiode wiederholt gemeinsam gefordert, dass der gesetzgeberische Wille, der 2002 zu dem Ghettorentengesetz geführt hat, endlich von Verwaltung, Gerichten und Gesetzgeber umgesetzt wird.
Wir hatten von Anfang an gesagt, man solle die Leistungen rückwirkend ab 1997 bekommen. Durch die skandalöse Rechtspraxis sowohl der zuständigen Behörden als auch einiger Sozialgerichte wurde das gemacht, was leider paradigmatisch für die Praxis und Geschichte des deutschen Entschädigungsrechts steht: Man hat mit den Opfern immer gerechtet, hat Opfergruppen herausargumentiert, hat Leistungen gekürzt, hat Verfolgungsschicksale nicht in ihrer vollen Dimension wahrhaben wollen und nicht anerkannt. Das ist im Praxisvollzug dieses Gesetzes auch passiert.
Wie kann ein Sozialgericht auf die Idee kommen, dass die Arbeit in einem Ghetto quasi die gleichen rechtlichen Strukturen haben soll wie ein Normalarbeitsverhältnis in der Bundesrepublik Deutschland? Natürlich waren das Zwangsverhältnisse. Niemand war freiwillig im Ghetto. Natürlich war es aus der Not geboren, dass die Menschen dort gearbeitet haben: um eine Suppe mehr zu haben, um ein paar Zloty zu bekommen, um sich etwas zu essen kaufen zu können oder um die Masse zu erhöhen, über die der Judenrat verfügen konnte, um für die Menschen zu sorgen.
Natürlich war das nicht freiwillig in unserem Sinne, auch wenn es zum Teil freie Entscheidungen waren. Dass man das rückblickend nicht erkannt hat, halte ich für einen Skandal.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Für einen Skandal halte ich auch, dass man oftmals nach Aktenlage entschieden und einfach Formalien zur Grundlage der Entscheidungen gemacht hat.
Ich finde, in diesem Zusammenhang gebührt dem Sozialrichter von Renesse, der auch bei den Anhörungen des Parlamentes zugegen war, großer Dank. Er hat gesagt: Nein, ich höre mir das Lebensschicksal der Menschen an, das will ich kennen, statt mich nur auf die Formulare zu stützen, die die Menschen in ihrer Dimension nicht voll durchschaut haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich hoffe, dass ihm für sein Engagement in dieser Hinsicht noch Recht widerfährt.
Es ist gut, dass wir heute die Gesetzgebung korrigieren und in Rechnung stellen, dass das Bundessozialgericht eine neue Praxis vorgegeben hat, sodass diejenigen, die Opfer einer falschen Rechtsprechung waren, im Ergebnis nicht weniger Leistungen bekommen als diejenigen, denen der Anspruch von Anfang an gewährt wurde.
Ich möchte aber auf ein Problem aufmerksam machen, das der Gesetzentwurf der Bundesregierung noch enthält und eine bestimmte Personengruppe betrifft. In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es zu Recht:
einen Antrag stellen. – Das ist richtig. Manche dieser Antragsteller, die wussten, dass sie, weil sie kein Gehalt, sondern nur Lebensmittelmarken bekommen haben, nach bisheriger Praxis keinen Anspruch hatten, können den Antrag nicht mehr stellen, weil sie inzwischen verstorben sind bzw. vor 2009 verstorben waren.
Die Hinterbliebenen dieser Ghettorentenberechtigten, die oftmals selber auch NS-Verfolgte sind, aber womöglich nicht im Ghetto waren, sondern gleich von ihrem Wohnort in ein KZ verschleppt worden sind, erhalten jetzt nach dem Ghettorentengesetz Leistungen in Form der Hinterbliebenenrente nur ab dem Todestag des Ghettorentenberechtigten. Damit leiden sie mit darunter, dass jemand in dem Wissen, dass er keinen Anspruch hat, auf Antragstellung verzichtet hat, weil er sich von einer deutschen Behörde nicht auch noch diese Ablehnung schriftlich geben lassen wollte.
Ich finde – das sage ich auch an meine konservativen Freunde von der CDU gerichtet –, wenn wir den Schutz der Ehe ernst nehmen, dann müssen wir auch daran festhalten, dass die Ehe eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. Die Hinterbliebenen stehen heute unter Umständen ökonomisch schlechter da – im Zweifelsfall macht das 7 000 Euro aus –, als wenn ihr verstorbener Ehegatte oder seine verstorbene Ehegattin den Antrag gestellt hätte. Es geht wahrscheinlich um wenige Menschen. Lassen Sie uns diese kleine Ungerechtigkeit im Gesetzgebungsverfahren im Ausschuss noch bereinigen. Ich hoffe, wir kriegen das gemeinsam hin.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, ich möchte mich zum Schluss dafür bedanken, dass wir heute so weit gekommen sind. Angesichts dessen, dass heute der 9. Mai ist, dass man in Russland, in der Ukraine und in Weißrussland heute des Waffenstillstandes, der Kapitulation
(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Befreiung)
und der Befreiung Deutschlands durch die Rote Armee gedenkt, möchte ich aber auch daran erinnern, dass wir, wie ich denke, noch ein offenes Kapitel in der Erinnerungspolitik haben, und zwar in der Frage der Entschädigung bzw. der humanitären Gesten gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen. Sie waren die zweitgrößte Opfergruppe nach den Juden. Millionen von Soldaten sind in den Russenlagern ausgehungert, zu Tode gequält und umgebracht worden. Es gibt keinen Ort, an dem wir dieses Unrechts und der Opfer gedenken, die oftmals, wenn sie überlebt haben, unter Stalin als angebliche Kollaborateure weiter gelitten haben. Demgegenüber hat Deutschland bis heute keine Geste des humanitären Ausgleichs angeboten.
Ich finde, wir sollten uns in dieser Legislaturperiode, solange noch betroffene Menschen leben, auch diesem Kapitel widmen. Ich glaube, gerade in der aktuellen Situation wäre es ein gutes Signal an die Völker der ehemaligen Sowjetunion, dass wir ihnen dankbar sind, dass sie uns vom Hitlerfaschismus und von den Nationalsozialisten befreit haben und dass Konflikte, die wir außenpolitisch an anderer Stelle haben, nichts damit zu tun haben, dass wir ihnen diesen Dank auch in Zukunft schulden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kerstin Griese das Wort.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3394491 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 34 |
Tagesordnungspunkt | Renten aus Beschäftigung in einem Ghetto |