22.05.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 36 / Tagesordnungspunkt 3

Norbert Lammert - Berufliche Bildung

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Berufsbildungsbericht 2014

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thomas Feist, Uda Heller, Albert Rupprecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase, Rainer Spiering, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Berufliche Bildung zukunftssicher gestalten – Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung stärken

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Das Recht auf Ausbildung umsetzen

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Walter-Rosenheimer, Brigitte Pothmer, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Berufliche Bildung sichern – Jungen Menschen Zukunftschancen bieten

Hierzu soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Aussprache 96 Minuten betragen. – Auch das ist offensichtlich einvernehmlich. Wir können also so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Professor Wanka.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, wir können stolz auf unser Ausbildungssystem sein. Die Jugendarbeitslosenquote in Deutschland liegt unter 8 Prozent. Nur Österreich hat ebenfalls eine einstellige Prozentzahl. Alle anderen europäischen Länder haben ansonsten zum Teil sehr hohe zweistellige Prozentzahlen, wie wir wissen.

Das hohe Qualifikationsniveau, das wir in Deutschland haben, ist ein großer Wettbewerbsvorteil. Jetzt als Bundesministerin erlebe ich es mehr als noch als Landesministerin, dass ausländische Wirtschaftsvertreter – zum Beispiel aus Italien oder aus den USA – sagen, dass die Fachkräftesituation in Deutschland ein großer Wettbewerbsvorteil ist. An verschiedenen Stellen wird auch versucht, es in ähnlicher Weise zu machen. Zuletzt hat uns sogar – man höre und staune – die OECD dafür gelobt.

Die berufliche Ausbildung ist also ein wichtiges Rückgrat unseres Wirtschaftssystems. Man darf es aber keinesfalls nur in volkswirtschaftlicher Hinsicht betrachten, indem man sagt: Wir brauchen Fachkräfte etc. – Wir müssen auch sehen, dass jedem Einzelnen ein Berufsabschluss ein ganzes Leben lang nutzt. Er ist für seinen Lebensweg, für seine individuellen Perspektiven und für seine gesellschaftliche Teilhabe außerordentlich wichtig. Berufsbildung ist deswegen sowohl im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit als auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht sehr wichtig.

Der Berufsbildungsbericht enthält viele Tabellen und Darstellungen. Er zeigt viel Positives. Er zeigt aber auch, dass wir in diesem Bereich Probleme haben: Es zeigen sich schon jetzt Tendenzen hin zu einer Veränderung der Ausbildungsmarktsituation. Darauf haben wir zum Teil schon reagiert, müssen aber auch noch weiter reagieren. Der Bericht zeigt deutlich auf, welche Punkte für unser Handeln in Zukunft sehr wichtig sind. Ich möchte Sie Ihnen nennen:

Erstens. 2013 wurden weniger Ausbildungsverträge neu abgeschlossen als im Vorjahr und noch weniger als in den Jahren zuvor. Das Minus gegenüber dem Vorjahr beträgt 3,5 Prozent.

Zweitens. Die Unternehmen haben zunehmend Probleme, geeignete Bewerber oder überhaupt Bewerber für ihre freien Ausbildungsplätze zu finden. Das heißt, wir haben in Deutschland im Moment einen Höchststand an unbesetzten Ausbildungsstellen.

Drittens. Es gelingt trotzdem nicht, dass alle von der Schule direkt in die Ausbildung gehen. Wir haben in dem Bereich über 20 000 unversorgte Bewerber. Das sind zwar von der Zahl her weniger, als es freie Plätze gibt, aber wir haben auch bei denen, die eine Alternative zur Ausbildung begonnen haben, die also ein Praktikum oder etwas anderes machen, einen Anstieg.

Viertens. Analog zu den eben genannten Punkten zeigen auch viele Untersuchungen, dass es zunehmend schwieriger wird, dafür zu sorgen, dass betriebliches Angebot und Nachfrage von Jugendlichen zusammenpassen. Wir haben da also – so wird bei uns im Haus gesagt – ein Matchingproblem; auf Deutsch könnte man vielleicht Passproblem sagen. Dieses Passproblem stellt sich nach Beruf und auch nach Region sehr unterschiedlich dar; aber es ist ein generelles Problem.

Fünftens. Es zeigt sich im Bericht deutlich, dass immer weniger Betriebe ausbilden. In den letzten Jahren – nehmen wir einmal die Zahlen ab 1990 – ist sowohl die Zahl der Betriebe insgesamt als auch die Zahl der Betriebe, die ausbilden, gewachsen. Das heißt, dass es eine relativ parallele Entwicklung gab. Jetzt gibt es eine prozentuale Absenkung. Gemessen an der Zahl der Betriebe bilden nur knapp über 21 Prozent aus. Das ist prozentual der tiefste Stand an ausbildenden Betrieben seit 1990.

Ein letzter Punkt, der die Berichte über dieses Thema in den Zeitungen sehr stark bestimmt: Die Zahl der Studienanfänger war 2013 zum ersten Mal höher als die Zahl derer, die eine berufliche Ausbildung begonnen haben.

Die Analyse des Berichts ist nicht nur von den Koalitionsfraktionen, sondern auch von den Grünen und zum Teil von den Linken sehr ähnlich gehandhabt worden. Alle erkennen die Herausforderungen und Probleme. Aber auch die Vorschläge in Bezug darauf, was verändert werden kann, liegen gar nicht so weit auseinander. Es gibt einige, die unrealistisch sind; aber vieles liegt sehr eng beieinander. Unsere Mitarbeiter sagen, dass sie bei fast 70 Prozent der Vorschläge schon in der Vorhand sind, dass da etwas gemacht bzw. in Angriff genommen wird. Trotzdem muss aber insgesamt gesagt werden, dass niemand – weder hier im Haus noch bei den Kammern und den Sozialpartnern, wie sich in vielen Gesprächen herausstellte – eine einfache Lösung hat.

Wir alle sehen aber, dass es ein großes Problem gibt. Wenn es uns nicht gelingt, entsprechend viele Facharbeiter auszubilden, kann das in den nächsten Jahren eine riesige Innovationsbremse für Deutschland darstellen. Bei all dem, was wir vonseiten der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode schon getan haben, geht es – das haben wir auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben – dezidiert um den Schwerpunkt „Berufliche Ausbildung stärken“. Wir nennen das Initiative „Chance Beruf“.

Der Qualitätsmix, den wir auch immer im Verhältnis zwischen akademischer und beruflicher Ausbildung hatten, ist für Deutschland wichtig. Deswegen muss ein politischer Schwerpunkt – hier geht es noch nicht um die einzelnen Maßnahmen – in dieser Legislaturperiode sein, die Attraktivität der beruflichen Ausbildung zu stärken. Dabei geht es um Qualitätsverbesserung und Gleichwertigkeit. Formal ist die Gleichwertigkeit an vielen Stellen gegeben – zum Beispiel zwischen Bachelor und Meister –, aber nicht in der Wahrnehmung der Menschen. Das gilt für die jungen Menschen, aber vor allen Dingen auch für die Eltern und die Großeltern.

Es ist deswegen wichtig, effektive Maßnahmen zu ergreifen, damit sehr viele junge Menschen von der Schule direkt in die Ausbildung gehen und keine Umwege machen. Wir haben erfolgreiche Modelle erprobt. Ich sage allerdings: In Deutschland kann man Modelle ohne Ende machen; wichtig ist aber immer, dass so etwas auch systematisch in großem Umfang bzw. flächendeckend gemacht wird.

Das heißt, wir müssen aus dem, was wir erprobt haben und was sich bewährt hat, den Regelfall machen.

Als Beispiel nenne ich die Bildungsketten. Dabei handelt es sich um eine Initiative des BMBF. Bei ihr ging es zum einen darum, Schulabbrüche zu verhindern, und zum anderen, für eine Berufsausbildung zu motivieren. Das sollte zum Teil durch Ehrenamtliche begleitet werden, um den Abschluss bzw. den Berufseinstieg zu schaffen. Diese Bildungsketten sind sehr effektiv und werden überall geschätzt. Sie enthalten individuelle und präventive Beratung; das stellt für mich ein Stück weit eine Zauberformel dafür dar, dass es gelingt, die berufliche Ausbildung zu stärken. Es soll also nicht erst dann ein Nachhaken geben, wenn man merkt, dass es bei einem 27-Jährigen nicht funktioniert hat, sondern es soll individuell und präventiv beraten werden. Die Bildungsketten sind dafür ein Beispiel. Wir haben mit verschiedenen Bundesländern – zum Beispiel Thüringen und Hessen – schon Verträge geschlossen. Sie wollen das auch mit eigenen Mitteln in großem Maßstab entsprechend implementieren. Potenzialanalysen und Möglichkeiten zum Ausprobieren gehören dazu.

Wir wollen aber auch die anderen vorhandenen Förderinstrumente wie „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ integrieren sowie neue entwickeln, die wir dann vorstellen werden.

An dieser Stelle eine Bemerkung zum Übergangssystem. Zu diesem Punkt wird später sicher vonseiten der Linken gesagt, dass soundso viele im Übergangssystem sind.

– Ist es nicht so, Frau Hein? Doch, das nehme ich an.

Ich erinnere daran: Das Übergangssystem war wichtig und notwendig, als wir deutschlandweit viel zu wenig Ausbildungsplätze hatten. Die Länder haben sich mit großen finanziellen Mitteln daran beteiligt. Hunderttausende junger Leute sind in diesem Übergangssystem gewesen. Von 2005 bis jetzt ist es gelungen, die Zahl derer, die sich im Übergangssystem befinden, um ein Drittel zu reduzieren. Es gibt die Ansicht, das Übergangssystem abzuschaffen. Das halte ich für völlig verfehlt. Wir brauchen das Übergangssystem zum einen, um die Ausbildungsfähigkeit der Schulabbrecher, die es trotz aller Bemühungen nicht schaffen, zu sichern; zum Glück sind es nur noch 5,9 Prozent und nicht mehr 12 Prozent. Zum anderen ermöglicht das Übergangssystem jungen Leuten, notwendige Voraussetzungen zu erhalten; sie können so beispielsweise, wenn sie Erzieher werden wollen, ein Praktikum absolvieren. Das heißt, wir brauchen ein Übergangssystem, das wirklich zur Ausbildung befähigt bzw. dabei Unterstützung leistet. Weil die Länder dieses System in starkem Maße tragen, wollen wir vonseiten meines Hauses mit ihnen verhandeln, wie man es zurückbauen kann. Hier geht es ja auch um unbefristete Arbeitsplätze für Lehrer und anderes, was sich über die ganze Zeit entwickelt hat.

Es geht aber nicht nur darum, die nicht so leistungsstarken Schüler in die Ausbildung zu bekommen, sondern es geht uns auch darum, dass leistungsstarke Schüler eine Ausbildung aufnehmen, statt dass alle in die Hochschulen drängen und wir dann hohe Abbrecherzahlen zu verzeichnen haben. Wie kann man das erreichen? Auch hier gibt es vielfältigste Ansichten. Auf keinen Fall kann man es durch einfache Verbote erreichen. Das funktioniert nicht. Der NC, also die Zulassungsbeschränkung, ist eine Möglichkeit der Steuerung. Nehmen Sie aber zum Beispiel den Studiengang Psychologie. Bundesweit gibt es an allen Hochschulen Zulassungsbeschränkungen.

Der Effekt ist, dass nun in Innsbruck heftig darüber diskutiert wird, dass 90 Prozent derjenigen, die dort Psychologie studieren, Deutsche sind. Einfach zu beschränken, heißt also nicht, dass sie dann entsprechend eine Ausbildung beginnen,

sondern auch hier gilt: individuell und präventiv.

Es muss also deutlich gemacht werden, dass jeder nur dann ein Studium beginnen soll, wenn er die Chance hat, es wirklich erfolgreich abzuschließen, und dafür gesorgt werden, dass nicht so viele nur aus Statusgründen ein Hochschulstudium aufnehmen.

Etwas, was wir dafür tun können, ist, die Durchlässigkeit, das Hin und Her zu erhöhen, sodass man mit einer guten beruflichen Ausbildung an die Hochschule gehen kann, sodass aber auch die, die abbrechen – die wird es immer geben –, von der Wirtschaft als kluge junge Leute gut aufgenommen werden. Dass wir diese Durchlässigkeit in Deutschland nicht haben, hielt ich immer für einen Mangel. Daran, dass es zu dieser geringen Durchlässigkeit kam, waren wir zum Teil selbst schuld. Viele Jahre galt in Deutschland die These: Bei uns ist das Abitur die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung und nichts anderes. Das ist jetzt rechtlich aufgebrochen; Möglichkeiten gibt es jetzt. Damit funktioniert es aber nicht ohne Weiteres. Es gehören viele flankierende Maßnahmen dazu, um zu erreichen, dass aufgrund der Durchlässigkeit Betriebe eher junge Leute bekommen, weil sie wissen: Ich kann weiter, wenn ich will. – Aber zugleich sollen auch nicht alle diesen Weg gehen; denn auch die Betriebe brauchen gute Leute.

Ich appelliere auch an die Betriebe, bei den Ausbildungsanstrengungen nicht nachzulassen. Wenn Sie sich den Berufsbildungsbericht genau anschauen, dann stellen Sie fest, dass wir einen Rückgang der Ausbildungsplatzangebote nicht bei den großen und mittleren Unternehmen, sondern vor allen Dingen bei den kleinen Firmen zu verzeichnen haben. Zum Teil ist es auf die Frustration zurückzuführen, dass sie jahrelang keine Auszubildenden bekommen haben. Deswegen ist ein Schwerpunkt unserer Arbeit, gerade die kleinen und mittleren Unternehmen sowie von Migranten geführte Unternehmen dazu zu befähigen, dass sie Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. Im Rahmen von Jobstarter wollen wir bald eine neue Initiative verkünden.

Meine Damen und Herren, wir haben bei der Initiative „Chance Beruf“ viele Komponenten, die hier nicht erwähnt werden können, und sprechen die unterschiedlichsten Zielgruppen an, zum Beispiel Alleinerziehende und andere. Die vor uns liegenden Herausforderungen werden wir mit der nationalen Allianz für Aus- und Weiterbildung, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, thematisieren und anpacken. Wir brauchen übergreifende Lösungsansätze – Bund, Länder, Arbeitgeber, Sozialpartner, Schulen –, um einen systematischen Effekt zu erzielen und nicht in diesen Engpass zu geraten, vor dem uns allen graut. Alle, die an diesem Berufsbildungssystem beteiligt sind, müssen sich aktiv einbringen. Wir wollen dafür sorgen, dass jeder in diesem Land eine Chance hat und von dem System profitieren kann. Deshalb gibt es dieses umfassende Bildungspaket. Damit wird es uns gelingen, die berufliche Ausbildung zukunftsfähig zu machen.

Danke schön.

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Rosemarie Hein das Wort.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3437705
Wahlperiode 18
Sitzung 36
Tagesordnungspunkt Berufliche Bildung
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta