04.06.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 38 / Tagesordnungspunkt 1

Klaus BarthelSPD - Regierungserklärung zu EU-Treffen und G7-Gipfel

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich hat uns heute das Thema Ukraine besonders beschäftigt und vieles andere überlagert. Ich will aber darauf hinweisen, dass die Regierungserklärung darüber hinaus viele andere Facetten hatte; Kollegin Barley und Kollege Hahn haben schon einiges angesprochen.

Ich will mich jetzt, auch wenn es vielleicht auf Anhieb nicht sehr emotional erscheint, ein bisschen mit den wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigen. Die Kanzlerin hat darauf hingewiesen, dass es bei dem bevorstehenden G-7-Treffen auch um die Vorbereitung des G-20- Gipfels gehen soll. Insofern lohnt sich ein Blick auf die Lage der Weltwirtschaft.

Die Kanzlerin – sie musste das Plenum leider schon verlassen – hat ein eher rosiges Bild von der Weltwirtschaft gezeichnet und gesagt, dass das Wachstum relativ hoch ist. Wir alle können nur hoffen, dass sie recht hat. Aber ich mahne zur Vorsicht. Wir haben nämlich eine äußerst labile Situation der Weltwirtschaft. Russland zum Beispiel ist schon ohne die Sanktionen ökonomisch unter starkem Druck, etwa durch den Kapitalabfluss, um nur ein Beispiel zu nennen. In der derzeitigen Sanktionsdebatte bedrohen wir uns gegenseitig mit wirtschaftlichem Schaden.

Aber nicht nur dieser Konflikt belastet die Weltwirtschaft, sondern in fast allen Schwellenländern wie China, Indien, Brasilien und Südafrika kriselt es vor sich hin. Die Wachstumsraten sind rückläufig. In den USA war das Wachstum im ersten Quartal negativ. Wie es in Japan weitergeht, weiß man nicht genau. Die Verschuldung steigt, und wir wissen nicht, ob die Abenomics wirklich zum Ziel führen.

Die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation, kommt in ihrem aktuellen Weltarbeitsbericht zu dem Ergebnis, dass die Arbeitslosigkeit weltweit weiter ansteigen wird, und zwar um zusätzliche 3,2 Millionen Menschen in diesem Jahr und damit auf über 200 Millionen Menschen 2014, und dass sich dieser Anstieg bis auf 213 Millionen Menschen im Jahr 2018 fortsetzen wird.

Der Schwerpunkt dieses Anstiegs wird laut Weltarbeitsreport der ILO in Nordafrika, in Nahost und in Zentral-, Ost- und Südosteuropa liegen. Ich komme später darauf zurück. Die ILO, die ich zitiert habe, ist übrigens keine arbeitspolitische Organisation, sondern sie arbeitet tripartistisch mit Unternehmen, Regierungen und Gewerkschaften.

Deswegen soll und muss auf dem G-7-Gipfel auch über die Weltwirtschaft geredet werden. Der Europäischen Union kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, die wir uns noch einmal klarmachen müssen.

Wir haben uns insbesondere in Deutschland, aber auch in der EU in den letzten zehn Jahren ziehen lassen. Unsere Exportkonjunktur war auf das Wachstum in den Ländern gestützt, die ich gerade genannt habe: in den Schwellenländern und in anderen Ländern dieser Welt. Aber es ist klar: Das kann und wird nicht so weitergehen. Alle, die sich mit Prognosen beschäftigen, sagen: Für Europa sind keine Impulse mehr aus der restlichen Welt zu erwarten.

Die Europawahl – auch das müssen wir an dieser Stelle sagen – war eine Absage der Wählerinnen und Wähler an die bisherige Wirtschaftspolitik in Europa. Deswegen sind Äußerungen aus der Bundesregierung wie die von Staatsminister Roth, die EU müsse sich um Wachstum kümmern, ausdrücklich zu unterstreichen. In Italien formuliert Herr Renzi das ähnlich. Selbst in Spanien legt Ministerpräsident Rajoy jetzt ein Konjunkturprogramm auf. Darüber kann man zwar durchaus streiten, aber vielleicht findet die Europäische Zentralbank mehr Gehör,

(Detlef Seif [CDU/CSU]: Quatsch!)

die vorletzte Woche ihren Finanzstabilitätsbericht veröffentlicht hat. Ich will nur einige Stichworte nennen. Darin ist die Rede von der „Möglichkeit eines scharfen und ungeordneten Abbaus der jüngsten Kapitalflüsse“. Zu Deutsch: Es existieren Spekulationsblasen. Wir haben es mit einer Überhitzung der Finanzmärkte zu tun. Es gibt zu viele faule Kredite. Der Wendepunkt sei nicht erreicht, heißt es. Es gebe unsichere konjunkturelle Perspektiven und ein signifikantes Risiko einer weiteren Verschlechterung der Kreditqualität. Des Weiteren wird festgestellt, dass der Schattenbanksektor und die Derivatemärkte noch nicht im Griff sind, sondern weiter wachsen. Selbst Musterländer in Europa wie Finnland und die Niederlande erleben einen Rückgang ihrer Wirtschaftsleistung.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir es nicht noch einmal darauf anlegen dürfen, dass die Europäische Zentralbank – da stehen morgen Beschlüsse an – die europäische Konjunktur und Finanzmarktstabilität retten muss. Vielmehr müssen wir sehen, dass das eine politische Aufgabe ist. Ich hoffe, dass von den bevorstehenden Gipfeln klare Signale zum Handeln ausgehen.

(Beifall bei der SPD)

Das heißt, wir brauchen eine Kurskorrektur, auch vonseiten der Europäischen Kommission. Es geht nicht um irgendwelches personelles Geplänkel, sondern um die inhaltliche Ausrichtung. Der Kurs von Barroso und Konsorten muss beendet werden. Die wirtschafts- und sozialpolitische Geisterfahrt, die noch immer stattfindet – die Europäische Kommission polemisiert beispielsweise gegen unsere Rentenpolitik und den Mindestlohn und fordert, dass in den Krisenländern noch mehr gespart wird und in den öffentlichen Haushalten noch mehr Kürzungen vorgenommen werden –, führt überhaupt nicht zum Ziel. Deswegen brauchen wir auf europäischer Ebene ein neues Programm, das sowohl zur Bewältigung der eigenen Krise als auch zur Vorbeugung einer weltweiten Wirtschaftskrise beiträgt. Dabei müssen wir eine wichtige Rolle spielen.

Wir müssen uns in der Bundesrepublik auch selber ehrlich machen. Wir in der Großen Koalition haben diesen Kurswechsel doch längst vollzogen. Wir geben mehr für Bildung und Forschung aus. Daher kann man von Spanien, Griechenland, Italien und Frankreich nicht das Gegenteil verlangen. Wir geben mehr für öffentliche Investitionen aus, wie unser Bundeshaushalt zeigt, den wir in der nächsten Sitzungswoche verabschieden. Wir sorgen dafür, dass die Löhne steigen, die Gewerkschaften gestärkt werden und der Mindestlohn eingeführt wird. Wir geben mehr für soziale Leistungen, für Pflege und Renten aus.

Der Kollege Schlecht von der Fraktion Die Linke würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Mögen Sie das zulassen?

Ja.

(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre sonst auch Austeritätspolitik mit Blick auf das Zeitbudget!)

Herr Kollege Barthel, die Andeutungen hören sich, so wie ich sie verstehe, ganz gut an. Sie sind offenbar der Meinung, dass ein europäisches Konjunktur- oder Investitionsprogramm notwendig ist. Sehen Sie denn Chancen, dass die Austeritätspolitik, über deren Sinn nun in Italien, Frankreich und Spanien diskutiert wird und die diesen Ländern maßgeblich von Deutschland aufoktroyiert wurde, zurückgenommen wird und dass die Bundesregierung ein Zukunfts-, Investitions- oder Marshallprogramm für die südeuropäischen Länder auflegt? Sehen Sie denn tatsächlich eine Chance, dass diese Regierung und diese Große Koalition hier in Deutschland einen entsprechenden Kurswechsel in der Europapolitik vornehmen?

Ich habe gerade versucht, darzulegen, dass ich dafür nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Chance sehe; sonst hätte ich das nicht erwähnt. Der eine Ansatzpunkt ist, dass wir diesen wirtschaftspolitischen Wechsel bereits vollzogen haben. Aber auch die Mehrheiten in Europa haben sich verändert. Bei dem Programm der Kommission geht es nicht um Herrn Schulz oder Herrn Juncker, sondern um eine andere europäische Politik.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir von der Großen Koalition streiten für Wachstumsimpulse, die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und für mehr Investitionen. Ohne Investitionen wird auch das, was die Kanzlerin erwähnt hat – Industrie 4.0, digitale Gesellschaft und Energiewende –, nicht zustande kommen. Für ein entsprechendes Umdenken lassen sich inzwischen Anzeichen in ausreichender Zahl finden. Ich würde mich freuen, wenn es dafür nicht nur vonseiten der Grünen, sondern auch von Ihrer Seite, Herr Schlecht, Unterstützung gäbe und wenn nicht immer alles in Bausch und Bogen verdammt würde.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, da meine Redezeit sowieso fast abgelaufen war, als die Zwischenfrage gestellt wurde.

Das stimmt zu 100 Prozent.

Ich möchte nur darauf hinweisen: Es lohnt sich, sich diese Studien der Internationalen Arbeitsorganisation mit Blick auf die Weltwirtschaft und die Verarmungsprozesse, die gerade in Europa ablaufen, anzuschauen, und es lohnt sich, über das angesprochene Freihandelsabkommen zu debattieren; denn, Kollege Hahn, wenn wir wollen, dass dieses Abkommen wirklich etwas für Beschäftigung und Wohlstand bringt, dann müssen wir dafür sorgen, dass es nicht einfach nur freien Handel gibt, sondern dass die sozialen Standards, an denen wir hier arbeiten, nämlich die Lebensqualität, die Einkommenssituation, die Mitbestimmung usw., verbessert werden. Das müssen wir über solche internationalen Handelsabkommen absichern.

Wir sollten nicht sagen, dass wir das Freihandelsabkommen auf jeden Fall abschließen, weil Freihandel per se gut ist. Dafür braucht es Regeln auf dem Weltmarkt, und dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen. Ich hoffe, dass wir in Europa an einem Strang ziehen. Ich glaube, dass die Koalition es tut. Aber wir müssen auch innerhalb Europas und im Rahmen der G 7 und G 20 schon noch ein Stück Überzeugungsarbeit leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3485208
Wahlperiode 18
Sitzung 38
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zu EU-Treffen und G7-Gipfel
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