Andrea NahlesSPD - Tarifautonomie
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute ein Gesetzesvorhaben, das eine tiefe und grundlegende Bedeutung für unser Land hat: das Tarifpaket. Nicht ohne Grund haben wir das Gesetz „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie“ genannt. Denn dass Deutschland wirtschaftlich stark ist, verdanken wir gerade auch der guten Tradition verlässlicher Tarifpartnerschaft und Tarifautonomie.
Dass wir besser als andere in Europa durch die Krise gekommen sind, dazu hat das gemeinsame verantwortliche Handeln von Arbeitgebern und Arbeitnehmern einen wesentlichen Beitrag geleistet. Die Tarifautonomie ist von zentraler Bedeutung für unser Arbeits- und Wirtschaftsleben. Sie ist ein Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zwei gleich starke Partner handeln den Wert der Arbeit in ihrer Branche aus. Damit sind wir über viele Jahrzehnte gut gefahren. Die Tarifautonomie sichert verantwortliche Abschlüsse und hat eine partnerschaftliche kompromiss- und konsensorientierte Wirtschaftstradition begründet. Sie hat sozialen Frieden im Land und damit auch Stabilität für die gesamte Wirtschaft gesichert. Sie hat den Arbeitgebern Wettbewerbssicherheit gegeben, da in den Branchen für alle die gleichen Lohnbedingungen gelten, und sie hat für Friedenspflicht gesorgt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bietet sie Schutz, Einkommenssicherheit und gleichzeitig die Chance zur Mitbestimmung.
Gerade wegen dieser Erfolge dürfen wir die Augen aber nicht vor den Problemen verschließen, die in den letzten Jahren parallel zu den genannten Erfolgen immer deutlicher geworden sind. Die Tarifautonomie hat Risse bekommen.
Gestatten Sie mir, einige Zahlen dazu zu nennen:
Lag der Anteil der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben in Westdeutschland 1980 noch bei 91 Prozent, so waren es 1998 nur noch 76 Prozent, und heute liegen wir in Westdeutschland bei 60 Prozent, während es in Ostdeutschland sogar nur 48 Prozent sind. Betrachtet man die Betriebe, dann stellt man fest, dass im Osten nur noch jeder fünfte Betrieb einem Tarifvertrag unterliegt. Das ist eine dramatische Entwicklung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Im europäischen Vergleich ist Deutschland von einer Spitzenposition ins Mittelfeld zurückgefallen. Österreich etwa, die skandinavischen Staaten, Frankreich und Italien verzeichnen auch weiterhin eine hohe Tarifbindung von 85 bis 97 Prozent. In diesen Staaten gibt es, wie es in Deutschland traditionell auch der Fall ist, meist keinen nationalen, sondern lediglich auf einzelne Wirtschaftszweige beschränkte Mindestlöhne. In Ländern mit einer niedrigeren Tarifbindung hingegen wird überwiegend über ein allgemeines nationales Mindestlohnregime eine Lohngrenze nach unten verbindlich festgelegt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mit sinkender Tarifbindung in Deutschland auch die Debatte über einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn begann.
Der Weg sollte – darüber waren wir uns in der letzten Großen Koalition einig – zunächst über branchenbezogene Mindestlöhne gehen. Inzwischen sind durch Branchenmindestlöhne über 3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Lohndumping geschützt – übrigens ohne dass es zu dem von manchen im Land befürchteten Verlust von Arbeitsplätzen gekommen ist.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Bei allen Erfolgen von branchenbezogenen Mindestlöhnen: Es bleiben große weiße Flecken. Dort haben branchenbezogene Mindestlöhne nicht gegriffen, und sie würden auch in Zukunft nicht greifen.
2012 arbeiteten mehr als 5 Millionen Menschen für einen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro. Was ist unsere Antwort darauf? Ich meine, eine ausgewogene Antwort hat aus zwei Teilen zu bestehen: Zum einen müssen wir alles dafür tun, dass wir aus dem Mittelfeld, in das wir bei der Tarifbindung zurückgefallen sind, wieder zur Spitzengruppe aufschließen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zum anderen brauchen wir eine klare Grenze nach unten, und das geht nur mit dem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Das Tarifpaket, das wir hier heute vorlegen, verbindet vernünftig und wirksam genau diese beiden Teile der Antwort.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Beate Müller- Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Die Stärkung der Tarifautonomie und der Sozialpartnerschaft erreichen wir, indem wir die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtern. Dadurch geben wir den Sozialpartnern wieder das Heft des Handelns in die Hand. Wir sorgen dafür, dass sie wieder mehr Einfluss bekommen und die Arbeitswelt wieder wirksam gestalten können. Die Regeln, die sie in gemeinsamer Verantwortung für Betrieb und Branche aushandeln, werden künftig verstärkt wieder für alle Unternehmen gelten, auch die, die ansonsten nicht tarifgebunden sind. Die Aushöhlung der Tarifpartnerschaft wird unterbunden, die Flucht aus gemeinsam festgelegten vernünftigen Mindeststandards wird erschwert. Das ist Verantwortung und Gestaltungswille.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der am meisten beachtete und diskutierte Teil des Tarifpaketes ist zweifelsohne der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. Auf den ersten Blick sieht es wie ein Eingriff in die Tarifautonomie aus, wenn wir den Mindestlohn gesetzlich festlegen. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Widerspruch zu dem, was ich vorhin gesagt habe und was wir mit der Stärkung der Tarifautonomie in diesem Gesetz erreichen wollen. Die weißen Flecken, von denen ich gesprochen habe, zwingen uns aber dazu, diesen Eingriff vorzunehmen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
5 Millionen Menschen arbeiten zu Dumpinglöhnen. Ohne einen gesetzlichen Mindestlohn würden sie es nicht schaffen, aus diesem Niedriglohnbereich herauszukommen und einigermaßen anständig bezahlt zu werden, und wir könnten ihnen nicht helfen. All diesen Menschen sagen wir: Der Mindestlohn kommt zum 1. Januar 2015. Das haben wir versprochen, und das wird gehalten.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ab dem 1. Januar 2017 gilt für alle Branchen ohne Ausnahme in Ost und West gleichermaßen ein Mindestlohn von 8,50 Euro.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ja, wir müssen eingreifen. Aber auch hier gilt die Prämisse der Tarifautonomie. Mit dem Gesetz sorgen wir dafür, dass die Tarifpartner das Heft des Handelns auch bei der Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohns in der Hand behalten. Für die Übergangszeit bis Ende 2016 liegt es eben in der Hand der Tarifparteien, mit spezifischen Übergangsregelungen eine vernünftige Einphasung in den Mindestlohn für ihre Branche auszuhandeln.
Auch die künftige Entwicklung des Mindestlohns sollen Gewerkschaften und Arbeitgeber bestimmen. Sie kennen die Lage in den Betrieben und Branchen und können so am besten tragfähige und verantwortliche Entscheidungen treffen. Dafür haben wir das Instrument einer unabhängigen Mindestlohnkommission geschaffen. Sie entscheidet in Zukunft über die Erhöhung des Mindestlohns, und die Bundesregierung ist an diese Entscheidung gebunden. Die zukünftige Festlegung des Mindestlohns werden wir nicht der Politik, sondern, wie es in unserem Land gute Tradition ist, den Tarifpartnern überlassen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Insoweit ist der Mindestlohn ein neuer Schritt, den wir aber konsequent in der alten bewährten Tradition gehen. Alte bewährte Tradition – ich habe es schon mehrfach gesagt – heißt für mich soziale Marktwirtschaft. Nach der Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes 1969, nach der Neufassung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972, nach der Einführung des Arbeitssicherheitsgesetzes 1973 und nach der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe 2003 setzt jetzt in diesem Jahr, 2014, der Mindestlohn eine weitere wesentliche Leitplanke für Arbeit in Deutschland.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Beate Müller- Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir geben den Sozialpartnern wieder mehr Einfluss und Gestaltungsmacht. Und wir geben der Arbeit ihren Wert zurück. Der Wert der Arbeit bemisst sich nicht nur, aber vor allem am Lohn.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Am Lohn kann ich ablesen, ob meine Arbeit gewürdigt und wertgeschätzt wird.
Mit dem Tarifpaket setzt die Große Koalition ein klares Zeichen: Arbeit hat in Deutschland ihren Wert.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3488350 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 39 |
Tagesordnungspunkt | Tarifautonomie |