06.06.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 40 / Tagesordnungspunkt 27

Sabine ZimmermannDIE LINKE - Sanktionen bei Hartz IV und Sozialhilfe

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Zimmer, es geht in unserem Antrag nicht um das bedingungslose Grundeinkommen. Ich glaube, da haben Sie etwas falsch verstanden; denn beim bedingungslosen Grundeinkommen sollen alle Geld bekommen, egal ob sie arbeiten, ob sie nicht arbeiten, ob sie Millionäre sind oder sonst was. Es geht hier einfach darum, die Aussage von Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ umzusetzen. Um nichts anderes geht es hier.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, über 1 Million Sanktionen wurden im letzten Jahr wieder gegenüber Hartz-IV-Bezieherinnen und -Beziehern verhängt. Das sind alles Einzelschicksale; davon, wie es diesen Menschen geht, haben die meisten hier im Saal allenfalls eine vage Vorstellung. Wie ist es denn, wenn von einem Betrag, der als Existenzminimum gilt, noch etwas weggenommen wird? Was heißt denn das überhaupt: Leben unterhalb des Existenzminimums? Ich frage Sie hier: Kann man denn mit weniger als dem Existenzminimum überhaupt noch ein Leben in Würde führen?

Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich kenne viele Menschen – zum Beispiel Frauen über 50 –, die vor dem Jobcenter stehen, zittern und Angst haben, dort hineinzugehen. Ich habe letztens erst einen alleinerziehenden Mann getroffen, der Aufstocker ist und 150 Euro gestrichen bekommen sollte. Der hat nächtelang davor nicht geschlafen. Wissen Sie, wie es den Kolleginnen und Kollegen geht?

(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Warum kriegt er die denn gestrichen?)

– Die sollte er ungerechtfertigerweise gestrichen bekommen, das ist dann später herausgekommen, was ich richtig finde. Danach konnte der Kollege wieder richtig schlafen. Vorher hatte er nur noch 700 Euro verdient und konnte sein Kind nicht mehr ernähren. Das war nämlich das ganze Problem dabei.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Mit den Sanktionen sollen – so das angebliche Ziel – Erwerbslose dazu angehalten werden, sich um Arbeit zu bemühen. Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen sagen, dass das ziemlicher Unsinn ist. Ich will es Ihnen auch belegen. Vor etwas längerer Zeit hat die Bundesagentur für Arbeit Arbeitslosengeld-II-Bezieher befragt. Danach stimmten 76 Prozent der Aussage zu: Arbeit zu haben ist das Allerwichtigste im Leben. 86 Prozent erklärten sogar: Arbeit ist wichtig, weil sie einem das Gefühl gibt, dazuzugehören. Meinen Sie wirklich, diesen Arbeitslosen müsste man noch mit Sanktionen drohen, damit sie sich um Arbeit bemühen? – Ich glaube das eher nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Denn sie bewirken zudem das Gegenteil: Sie entmutigen die Betroffenen, und das kann so weit gehen, dass manche den Kontakt zu den Jobcentern total abbrechen. Sie fördern keine Motivation, im Gegenteil, sie machen sie kaputt. Und das, meine Damen und Herren, ist Ihre Politik.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Warum das alles? – Die Antwort ist einfach. Sanktionen drangsalieren nicht nur Erwerbslose, sie zwingen auch dazu, schlechte, unsichere Jobs anzunehmen. Damit üben Sie auch Druck auf die Löhne aus. Erwerbslose im Hartz-IV-System sind bei der Jobsuche meist zu Zugeständnissen bereit. Meine Kollegin Katja Kipping hat es gesagt. Dazu sagt auch die erwähnte Befragung der Agentur für Arbeit: acht von zehn Hartz-IV-Beziehern sind bereit, eine Arbeit unterhalb ihrer Qualifikation anzunehmen. Zwei Drittel würden ungünstige Arbeitszeiten in Kauf nehmen und knapp die Hälfte ein geringeres Einkommen.

Dass Sanktionen dazu führen, jede x-beliebige Arbeit anzunehmen, zeigt auch eine aktuelle Studie des Arbeitsministeriums aus Nordrhein-Westfalen. Dort heißt es: Harte Sanktionen führen häufig nicht zu einem „kontinuierlichen Beschäftigungsverhältnis“, sondern nur zu einer „kurzfristigen Beschäftigung zur Verbesserung der finanziellen Situation“.

Wenn Sie glauben, dass ohne Sanktionen Erwerbslose zumutbare Arbeit ablehnen würden, dann muss ich Ihnen sagen, dass nur jede achte Sanktion zustande gekommen ist, weil Arbeit, Ausbildung oder eine Maßnahme abgelehnt oder abgebrochen wurden. Wenn Sie sich diese Fälle einmal ganz genau anschauen, dann erkennen Sie, dass in vielen Fällen Erwerbslose missbraucht und ihre Rechte mit Füßen getreten werden. Das ist der Ist-Zustand.

Aber Sanktionen sind nicht nur ein Problem der Erwerbslosen. Wer einmal Betriebe besucht hat, die in wirtschaftlich schwierigen Situationen stecken, weiß, welches Drohpotenzial auch Arbeitgeber damit besitzen, welche Angst unter den Kolleginnen und Kollegen geschürt wird, auf Lohn zu verzichten, damit sie nicht in kürzester Zeit in Hartz IV landen; das will nämlich keiner.

Auch der DGB merkte erst kürzlich in einer Stellungnahme zu den Sanktionen an, mit Hartz IV und anderen Maßnahmen der Hartz-Gesetze sollte erklärtermaßen der Niedriglohnbereich ausgebaut werden. – Das, meine Damen und Herren, ist Ihnen wirklich gelungen.

Deutschland hat nach Litauen den zweitgrößten Niedriglohnsektor Europas. Sogar die internationale Wirtschaftsorganisation OECD hat die Bundesregierung inzwischen aufgefordert, das Problem des Niedriglohnbereichs zu bekämpfen. Das geht nicht, wenn man Hartz IV außen vorlässt. Nach den derzeitigen Mindestlohnplänen sollen die Langzeitarbeitslosen – das sind 1,1 Millionen Menschen – für Löhne unterhalb des vorgesehenen Mindestlohns von 8,50 Euro arbeiten. Für uns gilt aber auch hier das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition und hier insbesondere von der SPD, wenn es Ihnen wirklich ernst damit ist, Niedriglöhne zu bekämpfen und für gute Arbeit zu sorgen, kommen Sie nicht daran vorbei, die Sanktionen abzuschaffen. Das liegt im gemeinsamen Interesse der Erwerbslosen und der Beschäftigten. Die Linke bleibt dabei – jetzt, Frau Pothmer, kommt mein Satz –: Hartz IV muss weg, und auch das Sanktionssystem muss weg. Es ist nichts anderes als ein Programm zur Drangsalierung der Erwerbslosen und zur Disziplinierung der Beschäftigten. Wir brauchen eine sanktionsfreie, armutsfeste Mindestsicherung.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Für die Sozialdemokraten spricht jetzt der Kollege Matthias Bartke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3492394
Wahlperiode 18
Sitzung 40
Tagesordnungspunkt Sanktionen bei Hartz IV und Sozialhilfe
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