06.06.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 40 / Tagesordnungspunkt 27

Markus PaschkeSPD - Sanktionen bei Hartz IV und Sozialhilfe

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Nur noch nicht von mir. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es macht keinen Sinn, wenn wir uns über den Prozentsatz der Betroffenen streiten. Gerade bei diesem Thema geht es um Recht, Gerechtigkeit und Gerechtigkeitsempfinden. Da zählt für mich im Zweifel jeder Einzelne.

Als ich Ihren Antrag gelesen habe, habe ich sofort den Eindruck gewonnen – auch wenn Sie das in der heutigen Debatte immer wieder abstreiten –: Es geht darum, das bedingungslose Grundeinkommen light einzuführen.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Diskussion in der Gesellschaft darüber ist erst am Anfang. Es gibt aber auch viele, die behaupten, sie sei schon zu Ende. Jedenfalls finde ich, dass die Einführung eines solchen Einkommens durch die Hintertür gegen die gesellschaftlichen und politischen Mehrheiten erfolgen würde. Das ginge auch meilenweit an den Interessen der Menschen vorbei.

Stattdessen sollten wir uns die Frage stellen: Was wollen wir denn mit dem SGB II und den Sanktionen erreichen? Wollen wir Erwachsene erziehen, oder wollen wir alle motivieren und befähigen, am gesellschaftlichen Leben – dazu gehört maßgeblich auch die Erwerbsarbeit – teilzuhaben? Das führt wiederum zu der Frage: Wie erreichen wir dieses Ziel am besten? Sind Sanktionen das beste Mittel, und wenn ja, wann und in welcher Höhe sind sie angemessen und akzeptiert?

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zumindest einmal die richtigen Fragen!)

Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels verdeutlichen. Ein junge Frau unter 25 Jahren bezieht seit Jahren ununterbrochen Leistungen nach dem SGB II. Trotz Hauptschulabschluss stellt das Amt immer wieder fest, dass sie keine Ausbildungsreife hat. Verschiedene Fördermaßnahmen konnten sie weder in eine Ausbildung noch in eine Anstellung bringen. Hinzu kam, dass die Mutter sie aus dem gemeinsamen Haushalt geworfen hatte und die junge Frau daraufhin zu ihrem Vater in eine Einzimmerwohnung zog. Die Geschichte der jungen Frau lässt vermuten, dass sie Schwierigkeiten hat, Inhalt und Bedeutung amtlicher Schreiben zu verstehen und den Aufforderungen Folge zu leisten.

Zwischen ihr und dem Jobcenter wurde dann eine Eingliederungsvereinbarung getroffen. Die darin enthaltenen Auflagen hat sie nicht vollständig erfüllt. Als Reaktion gab es seitens des Jobcenters eine Sanktion: Der Leistungsanspruch wurde gemindert; die junge Frau bekam weniger Geld. Für sie brach die Welt zusammen. Sie hat keinen Widerspruch eingelegt, aber auch keine Einladung des Jobcenters mehr angenommen. Kurz und gut: Es dauerte nicht lange, und ihr Leistungsanspruch wurde auf null herabgesetzt. Sie bekam also nicht nur weniger, sondern gar kein Geld. Auch die Mittel zur Deckung der anteiligen Miete für die Einzimmerwohnung und der Heizkosten wurden gekürzt. Damit drohten Vater und Tochter als Bedarfsgemeinschaft die Wohnung zu verlieren.

Das ist zwar ein Einzelfall, aber wir finden sicher in jedem Wahlkreis ähnliche Fälle. Es ist eine völlig unangemessene Bestrafung eines Vaters, der seinen Beitrag leisten wollte, um seiner Tochter zu helfen. Deswegen ist das für mich ein gutes Beispiel, das zeigt: Es gibt Bedarf, das bestehende System zu verändern.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein erster Schritt hierzu wäre für mich eine verständliche Sprache in den Schreiben an die Betroffenen.

(Daniela Kolbe [SPD]: Das stimmt!)

Anträge und Bescheide sind rechtlich einwandfrei, aber für Laien häufig völlig unverständlich verfasst.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wie sollen Menschen darauf reagieren, wenn sie nicht oder nur teilweise verstehen, was man eigentlich von ihnen will? Haben Sie schon einmal das Vergnügen gehabt, ein solches Schreiben jemandem erklären zu müssen, der es nicht verstanden hat? Manche Sätze muss auch ich zwei- oder dreimal lesen. Das ging mir allerdings bei dem vorliegenden Antrag ähnlich.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber Ihnen droht keine Streichung der Diäten um 30 Prozent! Keine Angst! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt aber nicht nur für Anträge der Linken!)

Zweitens. Bei der Ausgestaltung der Sanktionen besteht für mich Handlungsbedarf. Ich finde, Gelder für Miete und Heizung dürfen nicht gekürzt werden.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen Teilhabe organisieren, nicht Wohnungslosigkeit.

Drittens. Die Verhältnismäßigkeit des bürokratischen Aufwands müssen wir überprüfen. Macht es denn wirklich Sinn, alle sechs Monate einen neuen Antrag zu stellen? Ich finde, wir sollten weniger verwalten und mehr unterstützen und fördern.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Viertens. Wir brauchen mehr Klarheit und Verständlichkeit in den Regeln zum SGB II. Wir wollen nicht Richter und Rechtsanwälte beschäftigen, sondern Menschen zur Teilhabe befähigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich stelle also fest: Die Sanktionspraxis bedarf einer gründlichen und nachhaltigen Überprüfung. Ich sage bewusst: Überprüfung. Denn bei den Leistungen nach dem SGB II handelt es sich um einen Interessenausgleich zwischen Leistungsempfängern und Leistungsgebern. Die Leistungsgeber sind wir alle; das ist unsere Gesellschaft. Ich denke, unsere Gesellschaft hat einen Anspruch darauf, dass sich jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, diese Unterstützung zu beenden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben aber auch die Pflicht, diejenigen, die sich bemühen, zu unterstützen, egal in welchem Bereich diese Unterstützung benötigt wird. Ich persönlich habe den Eindruck, dass in den vergangenen Jahren das Fordern gegenüber dem Fördern deutlich die Oberhand gewonnen hat.

(Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Hier muss wieder eine Balance geschaffen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb packen wir die Themen in der Großen Koalition an.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, das warten wir mal ab!)

Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, in einem ersten Schritt die gesonderten Sanktionen für junge Menschen bis 25 Jahre zu überprüfen. Unterschiedliche Strafen für jemanden, der 25 Jahre alt ist, und jemanden, der 26 Jahre alt ist, sind für mich und für ganz viele Betroffene überhaupt nicht nachvollziehbar.

Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe erarbeitet bereits seit letztem Jahr sowohl für den Bereich Rechtsvereinfachung als auch für den Bereich Sanktionen konkrete Vorschläge für Verbesserungen. Erste Ergebnisse erwarten wir noch in diesem Sommer. Danach werden wir uns hier im Bundestag mit diesen Vorschlägen auseinandersetzen. Ich finde, es ist ein gutes parlamentarisches Verfahren, wenn man erst einmal den Rat der Experten abwartet, bevor man politische Entscheidungen trifft.

Gute politische Arbeit bedeutet für uns: motivieren und fördern statt alleinlassen, einfache und verständliche Regeln statt Bürokratiemonster – und vor allem: kümmern statt verwalten. Bei allem, was wir hier in die Wege leiten, sollten wir immer die Menschen in den Mittelpunkt stellen.

In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit und wünsche allen frohe Pfingsten.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])

Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Kai Whittaker, CDU/CSU, dem ich hiermit das Wort erteile.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3492446
Wahlperiode 18
Sitzung 40
Tagesordnungspunkt Sanktionen bei Hartz IV und Sozialhilfe
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