25.06.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 42 / Tagesordnungspunkt II.9

Anton HofreiterDIE GRÜNEN - Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Kanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist ein Land, das sehr viel kann. Es hat engagierte und solidarische Bürgerinnen und Bürger. Deutschland hat innovative Unternehmen, die in der ganzen Welt wirtschaftlich erfolgreich tätig sind. Wir haben kreative Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die bereits heute an den Lösungen von morgen und übermorgen arbeiten.

(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Es ist ein wohlhabendes, ein kreatives Land.

Deutschland könnte erheblich zur Lösung der großen Probleme unserer Zeit beitragen,

(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Machen wir!)

sei es die Klimakatastrophe, sei es die Ungerechtigkeit in Europa und auch in Deutschland selbst oder seien es die humanitären Katastrophen in Syrien und im Irak. Warum, Frau Merkel, machen Sie und Ihre Regierung so wenig aus diesen Möglichkeiten?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Warum nutzen Sie die Potenziale unseres Landes, um die großen Zukunftsherausforderungen zu bewältigen, nicht? Das ist schlicht unverständlich. Aus dieser Regierung kommt Deutschland schwächer heraus, als es hineingegangen ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Fangen wir beim Bundeshaushalt an. Sie finden gute Ausgangsbedingungen vor: Die Steuereinnahmen sind hoch, und die Zinsen sind auch dank der vielgescholtenen EZB historisch niedrig. Sie haben alle Möglichkeiten, den Haushalt strukturell zu konsolidieren und mit den nötigen Zukunftsinvestitionen zu beginnen.

Doch wie wenig machen Sie daraus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie treten auf der Stelle, Sie verwalten, Sie verharren, Sie schummeln wie Schulbuben. Kein Drive, keine Visionen, kein Mut: Das ist der Sound dieser Koalition.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wegen Steuerrückzahlungen und Mindereinnahmen mussten Sie unerwartet 3 Milliarden Euro finanzieren – weniger als 1 Prozent des Bundeshaushaltes. Sie haben aber nicht einmal den Mut, dieses 1 Prozent durch Sparen oder bessere Einnahmen solide zu finanzieren. Nein, Sie wetten auf niedrige Zinsen und eine rosige Konjunktur. Das ist das Gegenteil von solider Haushaltspolitik. Das ist schlicht das Prinzip Hoffnung.

Da das alles noch nicht reicht, ziehen Sie in einer nächtlichen Sitzung wie ein billiger Zauberer einfach 800 Millionen Euro aus dem Hut. Das ist ein 800-Millionen-Euro-Kaninchen. Sie biegen sich die Steuerschätzung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zurecht. So einen billigen Trick gab es noch nie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben hier eine Mehrheit von 80 Prozent und schaffen es nicht, 1 Prozent zu sparen. Je größer die Koalition, desto kleiner sind offensichtlich ihre Entscheidungen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Hofreiter Toni, mehr Niveau!)

Stattdessen verplempern Sie, Herr Kauder, munter das Geld der Bürgerinnen und Bürger. Können Sie sich noch erinnern? Gleich zu Beginn haben Sie sich diverse zusätzliche Staatssekretärsposten gegönnt und das Bundestagspräsidium aufgebläht. Jetzt schauen Sie einfach zu, Herr Dobrindt, wie Milliarden im märkischen Sand versickern beim Versuch, einen Flughafen zu bauen. Subventionen, erwiesenermaßen kontraproduktiv, die unserer Umwelt schaden, lassen Sie einfach weiterlaufen. Das ist pure Ideologie statt Vernunft. Sie gehen schlicht unverantwortlich mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler um.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dank all dieser Verschwendung haben Sie nicht mehr ausreichend Geld für Sinnvolles. Wo bleibt eine Offensive zur Reparatur unserer maroden Straßen und Brücken? Das schaffen Sie nicht. Es ist auch nicht drin, die internationalen Zusagen zur Entwicklungszusammenarbeit einzuhalten. Kriegen Sie es hin, mehr Geld für den Kampf gegen rechts zur Verfügung zu stellen? Laut Verfassungsschutzbericht nimmt die brutale Gewalt stark zu. Hier geht es um sage und schreibe 20 Millionen Euro. Nein, nicht einmal das kriegen Sie hin. Sie bleiben sehr weit unter den Möglichkeiten, die Ihnen dieser Haushalt bieten würde.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist sogar noch schlimmer: Sie hinterlassen allen nachfolgenden Regierungen riesige Probleme. Denn ungeniert plündern Sie unter Ihrer rot-schwarzen Fahne die Sozialkassen. Sie packen mal eben 160 Milliarden Euro an neuen Ausgaben auf die Schultern der Beitragszahler und Rentner. Für Ihr Rentenpaket zahlen die jungen Menschen am Ende doppelt: durch höhere Beiträge und niedrigere Renten.

Die Finanzierung Ihres Rentenpakets ist schlicht unverantwortlich. Mit dem vielen Geld erreichen Sie dann auch noch so wenig. Denn an denjenigen, die bereits heute mehr Geld benötigen, also an den heutigen und künftigen armen Rentnerinnen und Rentnern, fließt Ihr schöner schwarz-roter Geldstrom komplett vorbei; sie bleiben leider arm. Das Gleiche gilt für die Menschen, die sich krankgearbeitet haben. Diese Menschen bräuchten unsere Solidarität. Für sie ist in Ihrem Rentenpaket aber praktisch nichts enthalten. Ihre Politik ist teuer und unsozial.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In unserem reichen Land lebt jedes fünfte Kind in Armut. Der Kinderschutzbund nennt das: „Arm dran in einem reichen Land.“ Diese Kinder haben schlechtere Chancen auf einen guten Bildungsabschluss. Ja, unser Bildungssystem verstetigt und verfestigt diese Ungerechtigkeit sogar noch. Das ist richtig skandalös. Was aber noch schlimmer ist, ist, wie wenig Chancen diesen Kindern geboten werden. Dreimal mehr Kinder aus Akademikerhaushalten machen Abitur als Kinder aus Nichtakademikerfamilien. Statt einer Bildungsrepublik, Frau Merkel, erleben die Kinder aus armen Schichten einen Ständestaat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deutschland als eines der reichsten Länder dieses Planeten sollte doch wohl in der Lage sein, Kinderarmut und Chancenungleichheit zu beseitigen. Ihre Regierung aber verschenkt die Zukunft dieser Kinder mit erschreckender Gleichgültigkeit. Jedes Kind hat eine Chance verdient. Wir wollen gute Schulen und gute Kitas für alle Kinder. Es gibt zwar einen großen Konsens in dieser Gesellschaft und in diesem Haus, dass wir mehr Geld für Bildung ausgeben müssen, aber wir erreichen noch nicht einmal den Durchschnitt aller OECD-Länder. Ihre Antwort darauf ist ein Bildungspäckchen; mehr ist es nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie speisen die Länder am Ende mit Brosamen ab. Rechnen wir einmal aus, was Ihr Bildungspäckchen für ein Bundesland wie Bremen konkret bedeutet: Für Bremen kommen 2 Millionen Euro mehr für Kitaplätze heraus. Damit kann Bremen sein Personal um 1 Prozent aufstocken. Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst. Das ist doch kein Bildungspaket. Das ist absolut lächerlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nirgendwo ist die Diskrepanz zwischen warmen Worten von Ihnen, Frau Merkel, und bescheidenen Taten größer. Sie knausern bei der Bildung und setzen so Deutschlands Zukunft aufs Spiel. Frau Merkel, Sie reden immer davon, dass Deutschland seine Innovationskraft erhalten müsse. Dafür müsste die Große Koalition aber endlich einmal ihre Möglichkeiten nutzen und einen großen Schritt in Richtung Bildungsrepublik gehen. Stattdessen machen Sie ein paar Trippelschritte – mehr nicht. Sie verramschen de facto die Potenziale unseres Landes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Völliger Unsinn!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Energiewende, der ökologische Umbau unserer Wirtschaft, ist eine historische Aufgabe. Hier wird die Zukunftsvision einer nachhaltigen Lebensweise konkret: kein Raubbau mehr an den Schätzen unseres Planeten, keine Verschwendung mehr von Energie und endlichen Ressourcen, stattdessen Riesenchancen für die Wirtschaft, für die Menschen, für unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen. Wir wollen 100 Prozent erneuerbare Energien, statt Öl, Gas und Kohle von Putin und Saudi-Arabien zu kaufen. Wir wollen Wertschöpfung hier vor Ort statt Milliarden für Diktatoren.

Deutschland könnte Standort Nummer eins für nachhaltige Technologien sein. Das können unsere Bürgerinnen und Bürger, das können auch unsere innovativen Unternehmen schaffen. Heute gibt es dank des technischen Fortschritts erneuerbare Energien, mit denen Strom billiger produziert werden kann als mit jedem Kohlekraftwerk. Wir haben die technischen Mittel, um von endlichen Ressourcen wegzukommen und so die Grenzen des Wachstums ein Stück weit zu verschieben. Aber Sie, Frau Merkel, Sie, Herr Gabriel, machen aus diesen Möglichkeiten nichts. Im Gegenteil: Sie ignorieren den ökologischen Umbau und sabotieren de facto auch noch die Energiewende.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Gabriel, die EEG-Reform sollte doch Ihr Meisterstück als Superminister werden. Und nun? Nun entpuppt sie sich als handwerklich schlecht gemachtes Stückwerk. Es ist mir wirklich völlig unverständlich, warum Sie es in den letzten vier Monaten nicht geschafft haben, eine vernünftige Beratungsgrundlage zu erarbeiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht doch hier nicht um ein paar Details. Die Regelungen zur Eigenstromumlage haben dramatische Auswirkungen auf eine ganze Branche, auf Tausende von Arbeitsplätzen. Niemals würden Sie es wagen, mit traditionellen Industriebranchen, wie zum Beispiel der Autoindustrie, so umzugehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Aber bei der Photovoltaik sind Sie wenig zimperlich. Mit der spielen Sie einfach russisches Roulette.

Eine Verabschiedung der EEG-Novelle in dieser Woche ist weder parlamentarisch noch fachlich zu verantworten. Ihr Umgang mit dem Parlament, einfach über Nacht 200 Seiten an Änderungsanträgen, die noch nicht einmal vernünftig abgestimmt worden sind, in die Beratung zu geben, ist schlichtweg eine Unverschämtheit. Das sollten auch Sie sich aus den großen Fraktionen nicht gefallen lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Das Schlimme ist, dass dieser handwerkliche Murks nur die Spitze des Eisberges ist. Herr Gabriel, Sie stecken einfach extrem tief im Kohlezeitalter fest. Sie stecken unter Tage fest wie in der Riesending-Höhle. Es wird uns verdammt viel kosten, Sie dort am Ende herauszuholen.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Na, na, na!)

Deutschland kann kein Kohleland bleiben und erfolgreich eine weltweit glaubwürdige Energiewende stemmen. Während der Kohlestrom unsere Netze überschwemmt, fließen Milliardengewinne an die großen Energiekonzerne. Aber diese Milliardengewinne sind schlicht schmutziges Geld; denn RWE, Eon und Vattenfall kassieren diese Gewinne auf Kosten des Klimas und damit auf Kosten unser aller Zukunft – und das mit Ihrer Zustimmung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie, Herr Gabriel, haben einfach dem Lobbydruck aus Gewerkschaften und Industrie nachgegeben. Sie befreien die schmutzige Braunkohle von der EEG-Umlage. Sie waren doch schon einmal weiter. Kommen Sie doch endlich einmal raus aus Ihrem Kohleflöz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ein Niveau wie im Bayerischen Landtag!)

Wissen Sie, der Mai 2014 war der wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Es wird bloß leider nicht bei wärmerem Wetter bleiben.

(Unruhe)

– Es würde Ihnen von der Union nicht schaden, einmal zuzuhören. Gerade bei dem Thema Klimakatastrophe könnten Sie verdammt viel lernen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dann muss die Rede besser sein! Wenn Sie eine vernünftige Rede halten, dann hört man auch zu!)

Es würde Ihnen verdammt noch mal wirklich nicht schaden, wenn Sie einmal etwas Verantwortung für die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder übernehmen würden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Warum habt ihr euch eigentlich gedrückt? Warum koaliert ihr denn nicht mit denen? – Volker Kauder [CDU/CSU]: „Verdammt noch mal“ ist auch keine Sprache!)

Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, das auch Ihre Bundesregierung berät – es sollte auch einmal die Regierungsfraktionen beraten –, stellte kürzlich fest: Im weltweiten Klimasystem sind bereits erste Kipppunkte überschritten worden: Das Eis der Westantarktis schmilzt unwiederbringlich ab. Das hat zur Folge, dass der Meeresspiegel weiter steigen wird und wir für Millionen von Menschen eine neue Heimat finden müssen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Oh Gott, oh Gott!)

Die Stürme werden heftiger werden und die Landwirtschaft auch in Europa durch Extremwetter massiv erschwert. Wir gefährden durch die Klimakatastrophe unsere eigenen Lebensgrundlagen und die Lebensgrundlagen unserer Kinder und Kindeskinder.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber Sie, Frau Merkel, schenken dem Klimaschutz kaum noch Aufmerksamkeit. Wie sieht denn Ihre Schwerpunktsetzung aus? Für das hochproblematische TTIP-Abkommen setzen Sie sich mit voller Kraft ein. Dafür haben Sie Zeit. Dafür sind Sie sogar bereit, beim Datenschutz gegenüber den USA nachsichtig zu sein.

Für den Klimaschutz dagegen finden Sie keine Energie. Dafür haben Sie keine Kraft. Ja, Sie schlagen sogar die Einladung des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon zum Klimagipfel einfach aus. Das ist bezeichnend für Ihre Prioritäten, die in einer Welt von gestern und vorgestern verharren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ähnlich bezeichnend ist, wen Sie für Deutschland nach Brüssel schicken wollen: ausgerechnet Günther Oettinger, den Mann, der für Atom und Kohle steht, der Fracking einführen will und den Ausbau erneuerbarer Energien und die Energieeffizienz bekämpft. Das ist eine verräterische und gleichzeitig grausam falsche Personalentscheidung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

Das ist keine Entscheidung für die Politik von gestern, sondern für die Politik von vorgestern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen wir die Vorhaben Ihres ersten Halbjahres: vom Rentenpaket über die EEG-Reform bis zum Bildungspäckchen. Hinter plakativen Überschriften verbergen sich mikroskopisch kleine Schritte, wo große Sprünge nötig wären. Sie regieren unser Land weit unter seinen Möglichkeiten, Frau Merkel. „ Deutschland kann mehr.“ – Können Sie sich noch daran erinnern, Frau Merkel?

Sie lassen die Potenziale unseres Landes brachliegen. Um sie auszuschöpfen, müsste diese Regierung sich anstrengen. Sie bräuchte den Mut zur Gestaltung, den Mut zur Veränderung und auch den Mut, Widerstände zu überwinden. Aber genau der Mut fehlt Ihnen. Trauen Sie sich doch endlich einmal etwas! Das gilt ganz besonders für die Damen und Herren der Union.

Konsequente Energiewende? Sie sind dagegen. Gerechte Finanzierung unseres Gemeinwesens? Sie sind dagegen. Subventionsabbau? Sie sind dagegen. Hauptsache, keine Veränderungen. Das ist im schlechtesten Sinne konservativ.

Wissen Sie, was Sie sind, meine Damen und Herren von der Union? Sie sind eine 40-Prozent-Dagegenpartei.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Haha! Haha! Haha!)

– Es ist schon ärgerlich, Herr Kauder, wenn man die Kanzlerin stellt und sich trotzdem mit nichts anderem brüsten kann als damit, dass man einige Dinge verhindert hat. Aber, wie gesagt, das ist Ihr Problem und leider auch das des Landes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Mit Ihnen könnten wir uns sowieso nicht brüsten!)

Das Problem ist nur: Die Zeche für diese vermurkste Politik zahlen am Ende unsere Kinder. Ihre Politik ist ein Schlag ins Gesicht der nachfolgenden Generationen.

Sie machen wirklich wenig aus den Möglichkeiten unseres Landes. Ebenso sehr vernachlässigen Sie die Verantwortung, die das Potenzial und die Stärke unseres Landes mit sich bringen. Unsere gemeinsame Heimat Europa steckt nach wie vor in der Krise. Mit den Europawahlen ist deutlich geworden: Es ist nicht nur eine ökonomische Krise, sondern auch eine Krise der Legitimation.

So viele wie nie haben Europagegner gewählt: AfD, Front National, FPÖ. Diese Leute haben nichts Gutes vor mit unserer gemeinsamen Heimat Europa. Es gilt mehr denn je, den Kampf gegen sie aufzunehmen, statt das Problem einfach auszusitzen, wie Sie, Herr Kauder, es vorgeschlagen haben. Doch statt Demokratie und Transparenz nach vorne zu stellen, mauscheln Sie einfach weiter im Hinterzimmer.

Es ist beinahe absurd, dass ich als Grüner Sie dazu drängen muss, Ihren konservativen Spitzenkandidaten zum EU-Kommissionspräsidenten zu machen. Hören Sie endlich auf, das Wahlergebnis zu missachten! Hören Sie endlich auf mit dieser Mauschelei und Hinterzimmerpolitik!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ausgang der Europawahlen war ein Ausdruck eines tiefen Zweifels daran, dass es in Europa gerecht und solidarisch zugeht. Sie zeigen ein zunehmendes Misstrauen gegenüber Deutschland. Frau Merkel, Sie haben die Gräben in Europa größer werden lassen. Wir brauchen endlich einen Kurswechsel für Europa. Wir müssen endlich beginnen, neue Brücken in Europa zu bauen. Aber von einem Kurswechsel – nicht einmal von einem ernsthaften Nachdenken über den bisherigen Kurs – ist von Ihnen nichts zu hören.

(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)

„Die EU ist keine Sozialunion“: Das haben Sie selbst, Frau Merkel, den Menschen zugerufen, die sich nach einem gerechteren Europa sehnen. Das war Ihre Ansage an die Verlierer des Wettbewerbs in Europa, ein Satz, wie ihn die AfD nicht kälter hätte formulieren können. Europa baut aber auf ökonomische Stärke sowie auf Solidarität und Ausgleich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist die historische Lehre aus den barbarischen Kriegen im 20. Jahrhundert. Die Idee der Europäischen Union ist, den Wettstreit, den Wettbewerb durch eine gemeinsame Politik der Solidarität und des Ausgleichs in eine menschlichere Richtung zu lenken. Die Menschen wollen ein anderes Europa, ein sozialeres Europa.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit und des Absturzes der Mittelschicht in vielen Ländern Europas kann man nur sagen: Man kann sich nicht aus der Krise heraussparen. Man kann allerdings auch nicht einfach ziellos Schulden machen und weiterhin Geld für irgendwelche Strohfeuer zum Fenster hinauswerfen, wie es leider alte sozialdemokratische Tradition war. Was wir stattdessen brauchen, ist ein Green New Deal, also Investitionen in Branchen und Technologien der Zukunft. Das würde den Krisenländern auf Dauer helfen und die Wirtschaft unseres Kontinents auf einen nachhaltigen Kurs bringen. Dafür brauchen wir keine neuen Schulden. Wir müssen den Stabilitätspakt noch nicht einmal aufweichen. Aber wir brauchen das Geld, das den Staaten Europas sowieso zustehen würde. Wir brauchen einen europäischen Steuerpakt gegen Steuertricks, damit sich Starbucks, Amazon, Ikea oder BASF nicht länger vor ihrem Beitrag zum Gemeinwesen drücken können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es kann ja wohl nicht sein, dass das Café hier bei uns um die Ecke bald mehr Steuern zahlt als der gesamte Starbucks-Konzern.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Frau Merkel, der europäische Steuerpakt wäre ein solidarisches Projekt. Setzen Sie sich doch endlich einmal dafür ein, die Kosten der Krise gerecht zu verteilen! Nutzen Sie doch endlich einmal Ihre große Macht in Europa für mehr Solidarität und Fairness!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unser Bundespräsident Joachim Gauck hat immer wieder die internationale Verantwortung betont, die sich aus unserem Wohlstand ergibt. Wer auf das Leid und die Konflikte der Welt schaut, kann ihm nur zustimmen. Bevor Sie, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, wieder laut „Imperialismus!“ schreien, hören Sie noch zwei Minuten zu. Es ist von Herrn Gysi oder Frau Wagenknecht genauso unsinnig wie von Frau von der Leyen, daraus zuallererst wieder einmal eine Debatte über Militäreinsätze abzuleiten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Solche Einsätze können und dürfen nur das allerletzte Mittel sein, genauso wie wir das hier im Bundestag in den letzten zehn Jahren gemeinsam und verantwortungsvoll diskutiert haben. Aber wie ist es sonst um Deutschlands internationale Verantwortung bestellt? Richter, Polizisten und Justizberater sind Fachkräfte, die die UN zur Prävention und zur Lösung von Krisen braucht. Nehmen wir als Beispiel nur die Zahl der deutschen Polizisten im UN-Einsatz: 19! Ich danke jedem einzelnen von ihnen für seinen schwierigen Einsatz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Aber gemessen an Deutschlands Möglichkeiten sind es viel zu wenige.

Bei der Entwicklungshilfe liegt Deutschland weit unter dem Schnitt der reichen Industrieländer. Deutschland liegt an zwölfter Stelle. Es ist ein reiches Land. Aber diese Regierung unternimmt so wenig für eine gerechtere Welt. Das ist einfach beschämend für uns alle.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ja, Deutschland engagiert sich bei der Flüchtlingshilfe in Syrien. Aber wir könnten viel mehr tun. Aktuell sind mehr als 9 Millionen Syrer auf der Flucht. Allein der Libanon mit 4 Millionen Einwohnern nimmt 1 Million Flüchtlinge auf. Die Nachbarstaaten Syriens drohen unter dieser Last zusammenzubrechen. Wenn nun auf Initiative der Bundesländer – wohlgemerkt: nicht auf Initiative des Bundes – weitere 10 000 Menschen aus Syrien legal nach Deutschland einreisen dürfen,

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Das ist eine glatte Fehlinformation!)

dann ist das für jeden einzelnen Betroffenen eine gute Nachricht. Aber mehr als 60 000 Frauen, Männer und Kinder haben einen Antrag gestellt. Diese lassen Sie einfach in den Flüchtlingslagern zurück. Nehmen Sie sich doch ein Beispiel an Schweden. Dieses Land nimmt – in Relation zur Bevölkerung – zehnmal mehr Flüchtlinge auf. Die Aufnahme weiterer 10 000 Flüchtlinge ist angesichts der Möglichkeiten Deutschlands kein Zeichen großer Verantwortungsbereitschaft. Deutschland kann auch auf diesem Feld deutlich mehr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus großer Kraft folgt große Verantwortung – für unseren Planeten, für ein nachhaltiges Wirtschaften, für Menschen, denen das Schicksal nicht so hold war wie uns hier, für eine gute Zukunft für unsere Kinder. Dieser Verantwortung stellen sich viele Bürgerinnen und Bürger. Sie tun das nicht. Unser Land kann mehr. Ob Ihre Regierung mehr kann, bezweifle ich.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Thomas Oppermann.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3563116
Wahlperiode 18
Sitzung 42
Tagesordnungspunkt Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
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