Rüdiger KruseCDU/CSU - Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von einigen Vorrednern wurden die Haushälter ja gelobt; da haben Sie natürlich recht. Es ist aber so, dass wir im Rahmen zwischen dem Wünschbaren und dem Vertretbaren geblieben sind. Das ist auch die Aufgabe von Haushältern.
Bei Kultur fällt es leicht, mit relativ wenig Geld gute Akzente zu setzen. Für mich ist das vielzitierte Denkmalschutzprogramm die Einstiegsdroge in die Kulturförderung. Man muss ja mit irgendetwas anfangen, und es ist am leichtesten, mit diesem Thema Zustimmung zu gewinnen; denn es gibt eine breite Zustimmung – nicht nur hier im Hause, sondern in der ganzen Republik –, dass wir das Vergangene vor dem Vergehen bewahren wollen.
Darin darf sich Kulturpolitik aber nicht erschöpfen. So haben wir auch andere Akzente gesetzt, zum Beispiel beim Reformationsjubiläum, mit dem wir über ein die deutsche Geschichte prägendes Thema reflektieren.
Neu ist der Akzent, den wir mit „100 Jahre Gegenwart“ setzen. Wenn 100 Jahre zur Gegenwart erklärt werden, kommt man ins Nachdenken, wie das denn gehen soll. Damit ist nicht gemeint, dass wir uns nach langen Sitzungen so fühlen, als wären wir 100 Jahre alt. 100 Jahre können jedem Menschen tatsächlich gegenwärtig sein; denn das ist der Zeitraum, aus dem er direkte Informationen bezieht. Meine Großmutter zum Beispiel ist 1903 geboren; somit war sie am Ende des Ersten Weltkriegs 15 Jahre alt. Das heißt, ich hatte einen Zugang zu einer direkten Zeitzeugin aus dieser Zeit. Was sie mir erzählt hat, ist ganz anders in meinem Bewusstsein verankert als der mir natürlich auch bekannte Krieg von 1870/71; das ist für mich ein geschichtliches Datum, bei dem ich nur auf geschichtliche Quellen zurückgreifen kann, weil niemand mir davon direkt berichten konnte. So geht es jeder Generation: Die Dinge in einem Erlebnisraum von etwa 100 Jahren sind uns tatsächlich gegenwärtig und prägen damit unser aller Entscheidungen.
Das Narrativ der Europäischen Union setzt bei der Jahrhundertkatastrophe des Ersten Weltkriegs und den Veränderungen in der Gesellschaft auf. Es war übrigens auch der Erste Weltkrieg, der als Erster mit der Armbanduhr geführt worden ist; erst dadurch konnte er überhaupt so werden, wie er war, das heißt, die Industrialisierung war dort angekommen. Dies zu reflektieren und die Entscheidungen zu sehen, die wir vor diesem Hintergrund treffen, ist eine spannende Aufgabe.
Ein wichtiger Akzent ist auch, dass wir zum zweiten Mal – nachdem wir das Anthropozän-Projekt gemacht haben, also die Frage, inwieweit der Mensch die Erde inzwischen so dominiert, dass es rein geologisch schon ein Zeitalter des Menschen geben müsste – einen offenen Diskurs anregen. Es ist ja nicht üblich, dass Politiker Sachen in Auftrag geben, bei denen sie vorher noch keine Meinung haben, was hinterher dabei herauskommt. Aber bei beiden Prozessen machen wir das so. Wir haben einen offenen Prozess für vier Jahre gestaltet, und wir haben ihn jetzt sehr auskömmlich ausgestattet: mit 15 Millionen Euro. Das Ganze findet statt im Haus der Kulturen der Welt, das nicht zufällig in absoluter räumlicher Nähe zu diesem Haus liegt und zum Bundeskanzleramt. Das heißt, wir haben hier eine Möglichkeit, einen Denkraum zu fördern, zu entwickeln, der uns Impulse liefert und dem wir Impulse geben können, in dem wir einen gesellschaftlichen Diskurs führen können. Ich glaube, es steht dieser Republik sehr, sehr gut an, dass wir in dieser Art und Weise mit Themen umgehen, die auch internationales Interesse berühren.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Ich glaube, dass dieser Prozess auch etwas verändert, so wie in dieser langen Linie seit der Wiedervereinigung das Verhalten dieser Nation sich verändert hat: dass wir jetzt – das muss man sich ja einmal vorstellen! –, nach 100 Jahren, eine neue Debatte über den Ersten Weltkrieg führen. Wenn wir es schaffen, dass wir eine Institution haben, der wir als Parlament uns, der sich aber auch die Bundesregierung und alle Bürger dieses Landes und auch die Bürger anderer Länder bedienen können, um sich intellektuell den Themen der Zeit zu nähern, dann haben wir etwas geleistet, was über unsere sonstige Vierjahresplanung weit hinausgeht. Das ist die eigentliche Leistung: dass aus diesem Haus, dass vom Parlament dieser Impuls ausgegangen ist, dass wir uns diese Möglichkeit schaffen, wir gleichzeitig aber gute Haushälter und gute Abgeordnete sind, die die Nachhaltigkeit des Haushaltes nicht infrage stellen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der letzte Redner oder die letzte Rednerin vor einer namentlichen Abstimmung steht immer vor besonderen Herausforderungen, weil sehr viel Bewegung entsteht.
Das Wort hat jetzt Annette Schavan, die sich mit ihrer Rede von uns verabschieden möchte. Ich muss sagen, nicht nur mich erfüllt das mit Wehmut; denn wir alle kennen sie als eine engagierte, streitbare, geradlinige, aufrichtige und immer faire Kollegin. Wir bedauern das und wünschen alles Gute für die Zukunft. Wir werden uns sicher wiedersehen.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Regierung und Opposition haben in einer Debatte wie der heutigen – das liegt in der Natur der Sache – unterschiedliche Bilder von dem Land, in dem sie leben. Irgendwie fand ich auch heute morgen, wie an vielen Tagen der letzten Jahre, dass diese Unterschiedlichkeit nicht nur in dem manchmal so kritisierten Sinn Streit ist, sondern auch den Esprit der Politik und der Parlamentsarbeit ausmacht.
Wir haben hier in diesem Hause in solchen Debatten ganz unterschiedliche Bilder von Deutschland, aber das eine oder andere Thema zog sich durch den ganzen Vormittag, zum Beispiel der Paradigmenwechsel, den wir nach vielen Jahren bei der Konsolidierung des Haushalts erreicht haben. Er ist ein starkes Signal an die junge Generation
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
und macht dieses Land noch zukunftsfähiger und attraktiver für junge Leute. Es gilt nicht nur für Berlin, aber hier erleben wir es besonders: Deutschland ist für junge Leute aus aller Herren Länder immer attraktiver geworden.
Wenn es so etwas wie politische Ziele eines ganzen Parlamentes gibt, dann ist es doch ein solches Ziel, dass Deutschland mit seinen 16 Ländern und vielen attraktiven Standorten besonders attraktiv für junge Leute und Talente aus aller Welt ist. Deutschland muss auch in den nächsten Jahren Talentschmiede sein. Dafür legt dieser Haushalt das Fundament.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
In mancher Rede ist gefragt worden – zuletzt auch in der Rede über die Kulturpolitik –, ob wir uns nicht besser mehr in Deutschland als international engagieren sollten. Durch unser nationales und internationales Engagement in vielen Politikbereichen wissen wir – auch das zeigt dieser Haushalt in vielen Ressorts –: Das, was wir in Deutschland und international tun – ich persönlich habe es in der Bildungs- und Forschungspolitik erlebt –, sind nur zwei Seiten einer Medaille. Das sind keine Alternativen. Deutschland ist ein Motor nicht nur in Europa, Deutschland ist Motor für Innovationen in vielen Bereichen auch international, im globalen Dialog und in den globalen Verhandlungen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wie in den letzten Jahren auch ist dieser Haushalt wieder einmal ein Haushalt, der die Zukunftschancen der jungen Generation verbessert. Wenn man mich fragt, was ich in all den Jahren in der Politik getan habe, dann antworte ich, dass ich in Wirklichkeit nur ein Thema hatte: die Zukunftschancen der jungen Generation. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Es ist eine der vornehmsten Aufgaben jeder guten und überzeugenden politischen Kultur, nicht gegenwartsverliebt zu agieren und sich nicht in dem zu erschöpfen, was hier und heute wichtig ist, sondern bei allen Entscheidungen und allen Projekten den Blick auch auf die nächste Generation zu richten, auf deren Kreativität, auf deren Gestaltungswillen, auf deren Leistungsbereitschaft und auf deren Talente.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich finde, dass dieser Haushalt über Deutschland hinaus – ich denke an unsere europäischen Nachbarn, an die Partner, mit denen wir regelmäßig zu tun haben – auch ein starkes Signal dafür ist, dass uns die Zukunftschancen der jungen Generation so sehr am Herzen liegen und dass wir es in diesem Parlament nicht akzeptieren werden und nie akzeptieren dürfen, dass 25 Prozent der jungen Erwachsenen im Alter bis 25 Jahre in Europa ohne Berufsperspektive sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das ist ein europäischer Skandal. Wir in Deutschland haben viele Möglichkeiten, aufgrund unserer Erfahrungen deutlich zu machen, wie europäische Weichenstellungen aussehen können.
In diesem Zusammenhang möchte ich aber vor einem warnen. Der eine oder andere Redner hat heute Morgen gesagt, das Bildungssystem in Deutschland sei völlig undurchlässig und produziere nicht das, was junge Leute brauchen. Das Bildungssystem in Deutschland spiegelt unsere Überzeugung wider – diese ist fraktionsübergreifend präsent –, dass eben nicht nur das akademische Studium der Königsweg ist, sondern dass anspruchsvolle berufliche Bildung, die damit verbundenen Berufsbilder und die damit verbundene berufliche Selbstständigkeit für uns gleichbedeutend und gleichwertig sind. Deshalb dürfen wir uns in diesem Parlament nicht verrückt machen lassen. Die große Bandbreite unseres Bildungssystems ist seine Stärke; sie sollte zu einer europäischen Stärke werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Den Abschluss jeder Haushaltsdebatte über den Kanzleretat am Mittwoch bildet die Kulturpolitik. Wenn Bildung und Forschung für uns die Quellen künftigen Wohlstands sind und wenn wir davon überzeugt sind, dass die Zukunftschancen der jungen Generation nur gewahrt, gestärkt und verbessert werden können, wenn wir die Quellen des künftigen Wohlstands pflegen, dann ist das, was in der Kulturpolitik geschieht, die Quelle des kulturellen Wohlstands. Auch das gehört zur Attraktivität unseres Landes. Auch das gehört zu dem, was junge Leute in Deutschland und in Europa suchen: kulturelle Substanz; Orte, an denen deutlich wird, von welchen Überzeugungen die Gesellschaft in Deutschland und die europäischen Gesellschaften geprägt sind, was die geistige und spirituelle Substanz dieses Kontinentes ausmacht oder, wie Jacques Delors einmal gesagt hat, was die Seele Europas ausmacht. Damit hat die Kulturpolitik viel zu tun. Deshalb ist es ein starkes Signal, dass die Kulturpolitik in diesem Jahr erneut einen Zuwachs erfährt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Meine Damen und Herren, wir alle haben in den letzten Jahren erlebt, was es heißt, dass die Kunst der Politik nicht in erster Linie der Umgang mit dem Bekannten und dem Erwartbaren ist. Vielmehr ist die Kunst der Politik da besonders gefragt, wo es um das Unerwartete geht. Es geht darum, ob in einer Situation, in der alles anders wird, als es bislang war, die eigenen Ziele, die Prioritäten und die Bilder, die wir mit dem jeweiligen Haushalt verbinden, beibehalten werden.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3563326 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 42 |
Tagesordnungspunkt | Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt |