25.06.2014 | Deutscher Bundestag / 18. EP / Session 42 / Tagesordnungspunkt II.10

Corinna RüfferDIE GRÜNEN - Arbeit und Soziales

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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wäre diese Bundesregierung aus ganzem Herzen und mit tiefer Überzeugung daran interessiert, eine inklusive Gesellschaft zu schaffen, dann sähe dieser Haushalt anders aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Es wäre nämlich erkennbar, dass wir uns von der Förderung großer Institutionen wegbewegen, und es würde deutlich werden, dass sich Unterstützungsleistungen stattdessen an den Bedarfen der Menschen orientieren, die sie tatsächlich brauchen.

Ich spreche hier nicht von großen Summen, die neu aufgebracht werden müssten, sondern es geht ganz einfach um eine andere Verteilung der Mittel. Es geht darum, dass wir von den Sonderwelten für behinderte Menschen wegkommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich mir Ihren Haushalt angucke, dann sehe ich bestenfalls Andeutungen, dass Sie verstanden haben, worum es geht. Das ist auch deswegen so dramatisch, weil sich die behindertenpolitische Debatte mehr und mehr zuspitzt. Mit dem Gestus des Märtyrertums wagen sich nach und nach diejenigen hervor, die mit einer inklusiven Gesellschaft nichts anfangen können. Man werde ja quasi gesteinigt, wenn man sich traue, etwas gegen Inklusion zu sagen, behaupten sie. Dann zeichnen sie finstere Bilder: Behinderte Kinder werden auf Regelschulen Tag für Tag ins Unglück gestürzt, egal wie sehr sich ihre Lehrerinnen und Lehrer bemühen; ihre Mitschüler begegnen ihnen mit purem Desinteresse, und so äußern die behinderten Schülerinnen und Schüler schon in der ersten Grundschulklasse, dass sie nicht mehr leben wollen.

Ich habe das gelesen und – ganz ehrlich – meinen Augen nicht getraut. Inklusion führt also dazu, dass Kinder nicht mehr leben wollen? Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es gibt natürlich ebenso die weniger drastische Variante. Berichtet wird auch über spuckende, schimpfende und störende Schmuddelkinder auf Regelschulen. Da wird so lange Problem auf Problem geschichtet, bis alle überzeugt sind, dass das ja wirklich nicht gehen kann mit der Inklusion.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich kann Inklusion gelingen. Sie gelingt bereits jeden Tag – Tag für Tag. Es gibt genügend Menschen, die begeistert sind und sich starkmachen. Mittlerweile preisen selbst die Arbeitgeberverbände die Qualitäten behinderter Menschen – glücklicherweise.

Wir wissen aber auch: Die Zahl der Plätze in den Werkstätten für behinderte Menschen steigt seit Jahren an; sie sinkt nicht. Gibt es in Deutschland immer mehr Menschen, die nur in solchen Institutionen arbeiten können? Ich bezweifle das. Hören Sie endlich auf, nur von Inklusion zu reden! Das ist wie mit den bellenden Hunden, die nicht beißen: Solange Sie nur von Inklusion sprechen, ändert sich gar nichts. Machen Sie auch in Ihrem Haushalt deutlich, wohin die Reise gehen muss! Wir haben jahrzehntelang sehr viel Geld in den Ausbau und die Finanzierung von Sonderwelten gesteckt. Wer eine inklusive Gesellschaft möchte, der muss das ändern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte etwas konkreter auf zwei Entscheidungen eingehen, die Sie mit diesem Haushalt treffen. Wir haben hier schon oft über die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe gesprochen. Sie haben im Koalitionsvertrag sehr viel versprochen – 5 Milliarden Euro jährlich – und bisher wenig gehalten. Sie zahlen nur 1 Milliarde Euro, Sie zahlen erst ab 2015, und Sie haben das handwerklich schlecht gelöst. Es gibt keinen richtigen Zusammenhang zwischen der Form Ihrer Milliardenunterstützung und den steigenden Kosten in der Eingliederungshilfe. Sie haben sich für einen Weg entschieden, mit dem Sie gar nicht sicherstellen können, dass das Geld genau da ankommt, wo es gebraucht wird.

Ich möchte auch auf falsche Entscheidungen zu sprechen kommen, die weniger im Fokus stehen. Der Slogan der Behindertenbewegung „Nichts über uns ohne uns“ erfreut sich immer größerer Beliebtheit; das ist sehr gut so. Erst kürzlich hat die Kollegin Kerstin Tack hier im Bundestag darauf hingewiesen, dass Gesetzgebungsverfahren sinnvollerweise nur unter Beteiligung behinderter Menschen stattfinden können. Ich teile diese Auffassung, solange es ernst gemeint ist.

Wir wissen alle, wie sehr sich behinderte Menschen darum bemühen, an Gesetzgebungsprozessen beteiligt zu werden. Gleichzeitig müssen sie sich um die Finanzierung ihrer Projekte bemühen und darum kämpfen – Tag für Tag. Es gibt eine große Zahl von Initiativen behinderter Menschen, die nicht an etablierte Verbände angebunden sind und sich daher von Projektantrag zu Projektantrag hangeln müssen.

Wenn ich mir den Haushalt dieser Bundesregierung ansehe, dann bekomme ich den Eindruck, dass dieses Problem nicht sonderlich ernst genommen wird. Sie finanziert lieber teure Kongresse an repräsentativen Orten, auf denen möglichst häufig „Inklusion“ gesagt wird. Sie finanziert außerdem eine Studie zum Wahlrechtsausschluss, die wir gar nicht brauchen. Wenn Sie wollten, dann könnten Sie selbstverständlich dafür sorgen, dass unabhängige Initiativen behinderter Menschen solider finanziert werden. Von Beteiligung zu sprechen, ohne sich darum zu kümmern, die Möglichkeiten für Beteiligung zu verbessern, ist doppelzüngig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir unsere Gesellschaft inklusiv gestalten möchten, dann haben wir noch sehr viel vor uns. Das ist eine Menge Arbeit, bei der wir jede Unterstützung brauchen, die wir kriegen können. Es ist aber nicht in erster Linie Arbeit, und es ist nicht in erster Linie ein Haufen Probleme, ganz im Gegenteil: Es macht Spaß. Es ist eine spannende Herausforderung. Für viele Menschen ist es die Chance auf etwas Neues.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Eines ist ganz sicher: Es wäre leichter und ein noch größerer Spaß, und nicht zuletzt wären wir erfolgreicher, wenn sich auch die Bundesregierung entscheiden könnte, ihre Finanzen entsprechend zu ordnen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Jetzt hat der Kollege Ralf Kapschack das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

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Electoral Period 18
Session 42
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