Claudia Roth - Auswärtiges Amt
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor fünf Wochen haben wir bei der Wahl zum Europäischen Parlament eine deutliche Zäsur erlebt. Der Anteil radikaler, europaskeptischer oder populistischer Parteien beträgt rund 20 Prozent, eine Entwicklung, die uns sicherlich nicht kaltlassen kann.
Erstaunlich aber finde ich, wie schnell so mancher das Ergebnis für die eigenen Interessen interpretierte. Im Vereinigten Königreich wurde Premier Camerons Partei abgestraft. Dennoch glaubt er, daraus für sich ein Mandat zur Fundamentalopposition in Brüssel ableiten zu können. Auch wenn es so scheint, als bediene er damit seine nationale Wählergalerie: Seine Politik der Konfrontation und der Verunglimpfung gegenüber der Gemeinschaft wird scheitern, weil sie einen künstlichen Gegensatz zwischen einem „Wir“ und einem „Die da“ schafft.
Ich sage: Wirtschaftlichen und politischen Erfolg werden alle Mitgliedstaaten wie auch das Vereinigte Königreich nur gemeinsam für sich, aber auch für Europa erzielen können. Wir brauchen nicht weniger Europa, und wir brauchen keine Reduzierung auf einen reinen Binnenmarkt, sondern wir brauchen ein anderes, ein besseres Europa, ja, auch ein soziales Europa. Ich bin ganz sicher, dass Frank-Walter Steinmeier, der ja nicht nur Außen-, sondern auch Europaminister ist, gemeinsam mit Staatsminister Michael Roth dafür sorgt, dass wir in diesem Sinne in Europa vorankommen.
Im Europawahlergebnis spiegelt sich eine tiefe Verunsicherung der Menschen wider. Gründe sind die Finanzmarktkrise, die Globalisierung, die Zuwanderung, bewaffnete Konflikte um Europa herum und die zunehmende Konkurrenz aus Asien. Die Märkte werden als Bedrohung wahrgenommen. Wirklich etwas zu verlieren aber haben die Menschen in den Krisenländern. Dadurch entsteht Angst. Der Sieg von SYRIZA in Griechenland zum Beispiel ist Ausdruck dieser Angst. Die Krise hat dort oftmals Lebensentwürfe, Hoffnungen und Perspektiven zerstört. Dies allein der Troika, der EU und auch Deutschland anzulasten, ist menschlich nachvollziehbar. Es geht aber an den Ursachen vorbei. Diese sind vor Jahrzehnten im eigenen Land entstanden.
Wir müssen feststellen: Diese Angst beschränkt sich nicht nur auf die derzeitigen Krisenländer, sondern sie hat auch den Kern Europas, den Kern der EU erreicht. Das Abschneiden des – ich nenne es einmal so – Familienunternehmens Front National in Frankreich ist Ausdruck einer auch dort tief sitzenden Verunsicherung.
Seit Jahren versuchen wir, den Menschen nahezubringen, die Europäische Union als ihr Europa zu begreifen. Dies wird zunehmend schwieriger, wenn sich dieselben Menschen verunsichert fühlen, wenn sie Ängste entwickeln. Gerade der Stabilitäts- und Wachstumspakt sollte dazu dienen, für eine stabile Finanzpolitik der Mitgliedstaaten zu sorgen und dadurch auch die Voraussetzungen für Wachstum und folglich für die Schaffung von Arbeitsplätzen zu schaffen. Deshalb denke ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es möglich bleiben muss, Spielräume zu nutzen. Das bedingt natürlich, dass sich die betroffenen Staaten dazu verpflichten, nachhaltige Reformanstrengungen in einem überschaubaren Zeitraum durchzuführen.
Wir Deutsche wissen doch, wovon wir reden. Vor zehn Jahren gaben uns unsere EU-Partner den Spielraum, eigene Versäumnisse der Vergangenheit durch mutige Reformen zu beseitigen. Zugegeben: Das war damals nicht immer ganz konfliktfrei. Dass Deutschland vergleichsweise unbeschadet durch die Krisen gekommen ist und die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt positiv blieb, beruht auf diesen Reformen. Das deutsche Beispiel ist deshalb das beste Argument für eine kluge Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
(Beifall bei der SPD)
Was uns Deutschen damals recht war, das müssen wir heute auch anderen zubilligen. Denn wo öffentliche Investitionen unterbleiben, wo private Investoren wegen der Schwäche der Wirtschaft ausfallen, da braucht es europäischer Hilfe, um Wachstum zu generieren. Der Stabilitätspakt ist eben auch ein Wachstumspakt; man kann das nicht oft genug sagen, und man muss den Versuch, ihn auf die erste Vokabel zu reduzieren, zurückweisen. Austerität allein – so hat es gestern mein Kollege Lothar Binding an diesem Pult erklärt – kann kein nachhaltiges Konzept für Europa sein. Wir Sozialdemokraten verfolgen deshalb keine andere Strategie. Aber wir wollen die Möglichkeiten, die der Stabilitäts- und Wachstumspakt hergibt, konsequent nutzen. Das Handeln muss dann in den Mitgliedstaaten erfolgen.
Ein besseres Europa lässt die Menschen in sozialer Sicherheit leben und sichert den gesellschaftlichen Frieden. Nur dort, wo sozialer Frieden herrscht, kann auch wirtschaftlicher Wohlstand wachsen. Gerade junge Menschen brauchen eine Perspektive. Es muss möglich sein, zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit Kredite aufzunehmen, auch für Krisenländer, die sich in der Haushaltskonsolidierung befinden.
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit!
Ich denke an die Zeit, und ich komme zum Schluss; vielen Dank, Frau Präsidentin.
Ich glaube, wenn die Menschen so weit verunsichert werden, dass sie sich vielleicht sogar dauerhaft von diesem Friedens- und Stabilitätsprojekt Europa abwenden, dann werden wir möglicherweise einen hohen Preis dafür zahlen, einen zu hohen Preis, nämlich den Fortbestand der Europäischen Union.
Kommen Sie bitte zum Ende Ihrer Rede!
Ein letzter Satz: Die größte Bedrohung für den sozialen Frieden innerhalb Europas ist die Perspektivlosigkeit junger Menschen; denn wer selbst keine Perspektiven hat, wird schwerlich für zukünftige Generationen Perspektiven und dauerhaften Frieden schaffen können.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es tut mir leid, wenn ich Sie in dieser spannenden Debatte auf Ihre Redezeit hinweisen muss.
(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Doch, doch!Das ist in Ordnung! In dem Fall ist das in Ordnung!)
Aber wir haben heute schon so lange debattiert, dass ich alle Kolleginnen und Kollegen bitte, sich möglichst an die Redezeit zu halten.
Nächste Rednerin: Erika Steinbach für die CDU/ CSU.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3565871 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 42 |
Tagesordnungspunkt | Auswärtiges Amt |