02.07.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 45 / Zusatzpunkt 1

Omid NouripourDIE GRÜNEN - Bedrohung der regionalen Stabilität durch ISIS

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vormarsch von ISIS Richtung Mosul war an sich keine große Überraschung. Die große Überraschung bestand darin, dass die irakischen Streitkräfte keinerlei Widerstand geleistet, ihre Waffen und Uniformen teilweise einfach zurückgelassen und die Flucht ergriffen haben.

Ich war in der Woche vor dem Vormarsch in Bagdad. Es war bedrückend zu sehen, dass die Straßen leer waren, obwohl 7 Millionen Menschen in dieser Stadt leben. Es gab keinen Stau, und die Basare waren leer. Die Hauptverantwortung dafür, dass eine solche Stimmung herrscht – 2010, 2011 gab es noch so etwas wie Nachtleben – und dass in diesem Land, in dem es so viel Reichtum und Wohlstand gibt und gleichzeitig das Geld nicht bei der Bevölkerung ankommt und sich somit keine entsprechende gesellschaftliche Dynamik entfaltet kann, trägt Premierminister al-Maliki, der alles dafür getan hat, die Sunniten im Land, teilweise auch die Kurden, von der Macht auszugrenzen.

Die Situation in der Westprovinz Anbar ist seit fast einem Jahr hochdramatisch, sie grenzt an eine humanitäre Katastrophe. Wir haben aber nicht ausreichend hingeschaut. ISIS hat in dieser Zeit bereits mit der Unterstützung der sunnitischen Clans das Sagen in Anbar gehabt und darauf aufbauend den Marsch nach Norden beginnen können. Kinder werden erschossen, es finden Massenexekutionen statt, Kulturgüter werden geplündert und zerstört – das erinnert sehr stark an die Situation in Afghanistan in den 90er-Jahren.

Da nun ein Kalifat ausgerufen wurde – das ist wie eine offizielle Kriegserklärung an Saudi-Arabien –, ist es doch offenkundig, dass Saudi-Arabien und Iran keine andere Alternative haben, als sich endlich zusammen an einen Tisch zu setzen und über eine Kooperation zu sprechen, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten. Das Problem ist nur, dass diese Einsicht derzeit auf keiner der beiden Seiten vorhanden ist.

Es gibt ein weiteres Problem. Wir haben Anfang dieses Jahres über eine neue deutsche Außenpolitik gesprochen. Wir haben darüber gesprochen, dass wir mehr tun wollen, dass wir mehr Verantwortung übernehmen wollen. Wir haben uns über den militärischen Aspekt unterhalten, waren uns aber alle einig, dass es um mehr geht. Gerade weil Deutschland 2003 nicht bei der Invasion des Irak dabei war, gerade weil wir viele der fatalen Fehler der Amerikaner nicht gemacht haben, besitzen wir eine höhere Glaubwürdigkeit. Wir könnten Gehör finden. Stattdessen haben wir in den letzten Wochen und Monaten schlicht geschwiegen.

Der Außenminister hat gesagt, dass wir nicht an der Seitenlinie stehen dürfen; wir haben es aber getan. Da hilft es auch nicht, wenn der Außenminister sagt, dass der Wandel von innen kommen muss. Herr Kollege Annen, Sie haben davon gesprochen, dass sich die Situation im Irak selbst verändern muss. Das ist natürlich richtig; daran gibt es keinerlei Zweifel. Wir sagen ja nicht, dass man von außen etwas aufoktroyieren kann oder soll; aber nur zuzugucken, wie die deutsche Bundesregierung es getan hat, und nicht einmal das Wort zu ergreifen und nicht Druck auf al-Maliki auszuüben, damit er endlich eine inklusive Regierung einsetzt, war ein Riesenfehler. Das hat mit all den Ansprüchen, die Anfang des Jahres formuliert wurden, und mit all den damals geführten Diskussionen überhaupt nichts zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ganz konkret: Deutschland hat im Jahr 2013 aufgehört, für die Binnenflüchtlinge im Irak Mittel an den UNHCR, an das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, zu zahlen mit der Begründung: Wir helfen jetzt in Syrien und in den Nachbarstaaten von Syrien. – 350 000 Flüchtlinge gab es damals; das waren alles Syrer. Das war vollkommen absurd. Ich kann nur hoffen und appellieren, dass das beendet wird und endlich wieder Mittel an den UNHCR fließen, damit das Flüchtlingshilfswerk im Irak wenigstens die Leute registrieren kann und eine Mindestfürsorge gewährleisten kann. Wir reden mittlerweile über mehr als 1 Million Menschen, die ihre Heimat verloren haben und im Irak unterwegs sind.

Nächstes Beispiel. Wir wissen, dass ISIS sich unter anderem dadurch finanziert, dass sie Öl aus der Provinz Rakka in Syrien verkaufen. Seitens der EU gibt es bei den Sanktionen gegen Syrien Ausnahmen für Ölfelder, die sich damals in der Hand der Nationalen Koalition befunden haben sollen. Der Sinn und Zweck war, dass die nichtbewaffnete Opposition Gelder generieren kann. Diese Ölfelder sind aber seit über einem Jahr in der Hand von ISIS. Aufgrund dieser Ausnahmen der EU wird Öl auch in die Türkei verkauft. Wenn man bei der Bundesregierung nachfragt, warum diese Ausnahme nicht endgültig beendet wird, lautet die Antwort: Wir wissen von nichts. – Die Augen werden einfach geschlossen, statt endlich mehr Verantwortung zu übernehmen, statt endlich mehr zu tun.

Auch bei der Frage der Unabhängigkeit der Kurden gibt es bisher nur eine Fehlanzeige. Das ist eine hochkomplizierte Angelegenheit; das gestehe ich selbstverständlich zu. Bei allem Verständnis, das man für die Situation der Kurden haben muss – sie waren eine Oase der Stabilität in einem Land, von dem man nur noch hoffen kann, dass es dieses Land weiterhin geben wird –, muss man darauf achten, dass die Tür für einen Verbleib Kurdistans als autonome Region im Irak nicht zugemacht wird. Wir müssen aber auch alles daransetzen, dass die Situation nicht eskaliert. Es muss Druck ausgeübt werden auf die Türkei und auf den Iran, damit die Situation in dieser letzten Oase der Stabilität im Irak nicht weiter eskaliert.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3591069
Wahlperiode 18
Sitzung 45
Tagesordnungspunkt Bedrohung der regionalen Stabilität durch ISIS
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