Karl LauterbachSPD - Pflegeversicherung
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss meine Rede umstellen. Als so später Redner in dieser Debatte dachte ich, dass über die Reform schon alles gesagt worden wäre. Bisher hat man aber nicht viel dazu gehört. Das alles war sehr unspezifisch,
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Minister hat doch geredet, oder?)
und nicht alles, was man gehört hat, war richtig.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da wollen wir einmal wissen, was Sie zu bieten haben!)
Worum geht es bei dieser Reform eigentlich? Die Grünen haben vorgetragen, die Reform sei teuer. Es ist richtig: Die Reform ist teuer. Darauf sind wir stolz. Wir sind stolz darauf, dass die Reform teuer ist, denn sie muss teuer sein. 6 Milliarden Euro, paritätisch finanziert. Die Leistungen der Pflegeversicherung werden in zwei Schritten um 20 Prozent erhöht. Das ist die größte Steigerung im Rahmen einer Sozialreform in den letzten Jahrzehnten. Wir sind stolz darauf, die größte Reform der Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen vorlegen zu können. Wir stehen dazu: Die Reform ist teuer. Aber genau das brauchen wir auch.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat keiner infrage gestellt!)
Ich will auch ehrlich sagen: Diese Reform ist nicht perfekt; das ist gar keine Frage. Ich möchte aber trotzdem sagen: Das, was wir als Reform zum jetzigen Zeitpunkt vorlegen, ist das Ergebnis dessen, was wir im Koalitionsvertrag über viele Wochen verhandelt haben. Ich möchte Minister Gröhe ausdrücklich dafür danken, dass er sich aus meiner Sicht sehr eng an den Vertrag gehalten hat, der in dieser Sache zielführend ist und den wir mit gutem Willen und im Konsens vereinbart haben. Daher gilt: Wir werden diese Reform verbessern können; das ist gar keine Frage. Jeder Parlamentarier weiß: Wir wollen nicht verändern, sondern wir werden verbessern. Aber der Raum für Verbesserungen ist hier nicht groß; denn der eingebrachte Gesetzentwurf ist sehr gut. Dafür sind wir dankbar.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ehrlich gesagt habe ich nicht viel an Gegenvorschlägen gehört.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)
Was haben wir an Vorschlägen – ich vermeide es, polemisch zu sein – von den Grünen gehört? Die Pflege muss für alle begreifbar sein. Die Pflege muss menschenwürdig sein. Wir müssen so gepflegt werden, wie wir gepflegt werden wollen. – Das wollen wir alle. Aber was haben wir heute an konkreten Gegenvorschlägen gehört? Wer erinnert sich an konkrete Gegenvorschläge?
(Sabine Dittmar [SPD]: Keine!)
Keine konkreten Gegenvorschläge!
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wahlprogramm!)
Wir sind bereit, jederzeit mit Ihnen konkrete Gegenvorschläge zu diskutieren. Sie müssen aber auch vorgetragen werden. Wir wollen die Reform im Geist einer gemeinsamen Arbeit umsetzen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zuhören nützt manchmal!)
Ich will auf die Reform selbst zu sprechen kommen. Ich komme zunächst einmal zur Dynamisierung der Leistungen. Hier wurde gesagt, die Dynamisierung der Leistungen müsse ein Automatismus sein und müsse nicht jedes Mal verhandelt werden; das hat Frau Zimmermann vorgetragen. – Die Pflegeversicherung ist keine Vollkaskoversicherung. Die von Ihnen vorgeschlagene Dynamisierung würde nur Sinn machen, wenn es eine Vollkaskoversicherung wäre.
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Da ist doch Quatsch!)
Bei einer Teilkaskoversicherung muss jedes Mal neu verhandelt werden. Dann muss es einen Kompromiss zwischen der Dynamisierung der Leistungen auf der einen Seite und der Einführung neuer Leistungen auf der anderen Seite geben. Wir dynamisieren zwar nur um 4 Prozent, aber das macht fast 1 Milliarde Euro aus. Zusätzlich führen wir zahlreiche neue Leistungen ein. Somit verbessern wir die Pflege durch die Dynamisierung und durch die Einführung neuer Leistungen.
(Beifall der Abg. Sabine Dittmar [SPD])
Diese Freiheit muss das Parlament haben. Das ist bei einer Teilkaskoversicherung der einzige Weg, auf sich verändernde Verhältnisse rasch zu reagieren.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Hier wurde auch von den Betreuungskräften gesprochen. Frau Zimmermann, Sie haben gesagt – dafür gab es aus Ihren eigenen Reihen wenig Beifall –, die Linkspartei sei die Partei der Pflegegerechtigkeit.
(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Ja!)
Ist Ihnen aufgefallen, dass in Ihrer ganzen Rede die Angehörigen, die den größten Teil der Pflegeleistungen erbringen, nicht ein einziges Mal erwähnt worden sind?
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist überhaupt nicht wahr!)
Sie haben sich ausschließlich auf die Pflegekräfte in den Pflegeeinrichtungen und Pflegediensten konzentriert. Die Betreuer wurden dadurch von Ihnen abqualifiziert. Sie haben doch versucht, die Betreuer gegen die ausgebildeten Pflegekräfte auszuspielen.
(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Herr Lauterbach, wo sind Sie denn gewesen?)
Das ist unfair. Auch die Betreuer, egal ob Ehrenamtliche oder Familienangehörige, leisten eine wichtige Arbeit. Wir dürfen in der Pflege die einzelnen Gruppen nicht gegeneinander ausspielen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ich sage Ihnen ganz offen: Ein gutes Wort und die Zeit, den zu pflegenden Menschen einmal zuzuhören, ohne dass dabei gepflegt wird,
(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Genau, zuhören! Das ist das Stichwort!)
hilft diesen Menschen oft mehr als das Waschen, Rasieren und Saubermachen. Die menschliche Komponente wird vom Betreuer genauso geleistet wie von der ausgebildeten Pflegekraft.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie können überhaupt nicht zuhören!)
– Wenn Sie eine Zwischenfrage haben, können Sie diese jederzeit stellen. Aber das Zwischenrufen nervt. – Es kam überhaupt nicht zur Sprache, dass wir zahlreiche Maßnahmen unternommen haben, die Pflege unbürokratischer zu machen. Wir haben dafür gesorgt, dass jemand, der zu Hause einen anderen Menschen pflegt, aber kurzfristig verhindert ist, im Rahmen der Verhinderungspflege und der Kurzzeitpflege eine professionelle Pflegekraft organisieren oder den zu pflegenden Menschen in eine Pflegeeinrichtung bringen kann. Die Tatsache, dass man ständig im Druck ist, wenn man für die Eltern die Pflege übernimmt oder organisiert hat, dass man dann, wenn etwas dazwischenkommt, gar nicht weiß, wie es weitergeht, das ist einer der Hauptstressfaktoren in der Pflege überhaupt. Viele Menschen sind in Pflegeeinrichtungen, weil die Leute den Stress nicht bewältigt bekommen, die Pflege auch dann ständig vorhalten zu müssen, wenn es gerade nicht geht. Dem begegnen wir mit der deutlichen Flexibilisierung und Stärkung der Verhinderungs- und der Kurzzeitpflege. Das ist eine wesentliche Entbürokratisierung.
(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])
Das ist das, was die Menschen, die Angehörigen und die zu Pflegenden, wünschen. Darauf sind wir eingegangen. Das wurde hier mit keinem Wort gewürdigt.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das gilt genauso für die sogenannten Entlastungsleistungen. Wir machen es jetzt zum Beispiel möglich, dass man die Betreuungsleistung umwidmen kann, indem man einfach für jemanden einkaufen geht. Wenn Sie sich die Reform konkret vorstellen – es sind hier ja oft nur Schlagworte, die vorgetragen werden –, dann betrifft das jemanden, der einkaufen geht und für jemanden sorgt. Hier kann die Leistung abgerechnet werden, auch wenn es keine Betreuung ist. Wenn jemand Papierkram erledigt, zu einem Amt geht und so, dann kann das demnächst abgerechnet werden. Das ist von uns auch ein Vertrauensbeweis gegenüber den Angehörigen. Denn wir gehen nicht davon aus, dass das ausgenutzt wird. Wir vertrauen den Angehörigen und den Pflegenden, dass sie in dieser Zeit tatsächlich auch etwas für den zu Pflegenden machen. Da sagen wir, ihr müsst nicht nachweisen, dass das immer nur Betreuungsleistungen sind, sondern diese sogenannten Ergänzungsleistungen, Entlastungsleistungen sind alles Maßnahmen, die im Konkreten den Stress in der Familie und bei den zu Pflegenden wegnehmen. Das halte ich für richtig. Das sind unbürokratische und gute Wege.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Der Begriff der Pflegebedürftigkeit wurde schon erwähnt. Da wird immer kritisiert, er kommt nicht schnell genug usw., usf. Machen wir uns doch nichts vor: Es sind 2,5 Millionen Menschen, auf die der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff langfristig angewendet wird. Wir wollen sicherstellen, dass niemand weniger bekommt, als ihm zusteht. Niemand soll schlechtergestellt werden. Das muss in der Praxis funktionieren. Dieses Projekt hau ruck einzuführen, wäre doch völlig unverantwortlich gewesen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Machen wir uns doch nichts vor: Das ist die größte Veränderung in der Art und Weise, wie wir eine Sozialleistung bezahlen. Wir wollen ja, dass die Dinge unbürokratischer und besser werden. Es wäre rücksichtsloser, unverantwortlicher Populismus gewesen, wenn wir, ohne das in den Regionen auszutesten, dem „Druck der Straße“ nachgegeben und im Hauruckverfahren einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt hätten.
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Die Straße ist der Druck?)
– Obwohl Sie hierzu nicht einen einzigen konkreten Vorschlag zur Pflegereform vortragen können, erwarten Sie von uns, für die gesamte Bevölkerung ein kompliziertes System einzuführen, ohne dass wir es ausgetestet haben. Diese Verantwortungslosigkeit haben wir nicht. Wir stehen dazu. Wir führen das zu dem Zeitpunkt ein, an dem es angemessen ist, und zwar so schnell wie möglich. Dieses Vertrauen haben wir verdient.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Machen Sie einmal ein paar Schritte, statt stehen zu bleiben!)
Ich komme auch noch zu dem Pflegevorsorgefonds. Ich sage dazu schlicht und ergreifend meine persönliche Meinung. Wir werden das diskutieren. Das ist ganz klar. Das geht in diese Runden hinein, in denen wir alles verbessern wollen. Aber ich sage einmal das, was ich persönlich denke. Ich persönlich finde den Vorschlag nicht falsch. Denn wir müssen Folgendes bedenken: Wir werden in 30 Jahren folgende Situation haben: Die Menschen werden durch sinkende Renten von Altersarmut bedrängt werden, die Familien werden zum Teil zerbröckelt sein, höhere Scheidungsquoten, weniger Kinder.
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wer ist denn an den sinkenden Renten schuld?)
– Hören Sie doch einfach zu! – Die Differenz zwischen dem, was eine Familie dann finanziell und menschlich einbringen kann, und dem, was dann gefordert wird, wird für die Babyboomer-Generation größer sein als für jede andere Generation davor.
Daher halte ich es persönlich nicht für falsch, dass wir einen Teil dieses Geldes – es sind ja nur 20 Prozent der Ausgaben, die wir jetzt beschließen – zurücklegen und dann verbrauchen, wenn es die Leute benötigen. Das gibt auch eine gewisse Sicherheit. Insoweit bin ich für jeden zusätzlichen Vorschlag dankbar. Aber wir stehen auch in diesem Punkt zum Koalitionsvertrag. Wir werden das diskutieren, aber wir stehen zum gesamten Paket. Ich glaube, dass wir insgesamt ein Paket vortragen werden, das die Pflege entbürokratisiert, das die Pflege ein Stück weit nachhaltiger macht und das die Pflege menschlicher macht. Davon bin ich überzeugt.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Maria Klein- Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3596775 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 47 |
Tagesordnungspunkt | Pflegeversicherung |