04.07.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 47 / Tagesordnungspunkt 26

Jens SpahnCDU/CSU - Pflegeversicherung

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der Pflege und die Frage, welche Herausforderungen Pflege für jeden Einzelnen bedeutet, sind mittlerweile in jeder Familie angekommen. Jeder hat als Partner, als Kind, als Enkelkind erlebt, was es physisch und psychisch für eine Familie bedeutet, wenn jemand pflegebedürftig wird. Was heißt es eigentlich, pflegebedürftig zu sein?

Am Ende heißt es, die Dinge des Alltags – waschen, aufstehen, essen – nicht mehr alleine tun zu können. Das ist, glaube ich, eine Erkenntnis, die für jemanden, der dies nach 75, 80 oder 85 Jahren im Safte nicht mehr kann, ganz schwierig ist; sie ist nicht nur für den Betroffenen selbst schwierig, sondern auch für die Angehörigen. In dieser Situation Unterstützung zu leisten, ist das, was Pflegeversicherung am Ende tun soll. Wir können den Schicksalsschlag der Pflegebedürftigkeit nicht irgendwie ungeschehen machen, aber wir können so gut es geht Unterstützung für die Familien, für den Pflegedienst der Nation, leisten. Das Pflegestärkungsgesetz, das wir heute beraten, leistet einen ganz wichtigen Beitrag dazu, Familien und Pflegebedürftige in ihrer Situation zu unterstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Kollege Lauterbach hat recht: Da helfen nicht die grundsätzlichen wolkigen Worte, sondern es braucht ganz konkrete Verbesserungen für die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte.

Wenn man einmal schaut, Frau Kollegin Scharfenberg, was wir denn konkret tun, dann wird man eine ganze Menge sehen. Das eine ist der ambulante Bereich. Ich habe gerade gesagt: Die Familien sind der Pflegedienst der Nation. Für die werden wir ganz konkrete Verbesserungen haben. Wir werden mehr Betreuungsleistung haben. Sie sagen, das sei nichts, aber ich glaube, dass es für viele wichtig ist, drei, vier oder fünf Stunden Entlastung zu haben, zu wissen, dass man von zu Hause weg kann und sich einmal mit Freundinnen treffen kann, dass man einkaufen gehen kann oder einfach den Kopf von der 24-Stunden-Pflege freibekommen kann, weil man weiß, dass jemand da ist und sich zu Hause um den Pflegebedürftigen kümmert. Das ist für die, die konkret betroffen sind, eine große Hilfe. Es ist kleinkariert, wie Sie, Frau Scharfenberg, das hier gerade kritisiert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Es ist auch eine konkrete Hilfe, dass zum 1. Januar 2015 mehr Geld für die Familien zur Verfügung steht, weil wir die Sätze um 4 Prozent erhöhen, und es zusätzliche Flexibilität gibt – Stichwort Verhinderungs-, Kurzzeitpflege –, also das, was man braucht, um einmal eine Auszeit für zwei oder drei Wochen nehmen zu können, was ganz wichtig ist. Wir erhöhen die Mittel – Geld, das direkt bei den Betroffenen ankommt –, wir erhöhen die Flexibilität. Das hilft den Menschen konkret. Ich finde, das kann man auch einmal in einer solchen Debatte anerkennen. Man muss nicht alles schlechtreden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Das Gleiche gilt für die stationären Einrichtungen. Die Betreuungskräfte leisten nicht die klassische Pflege, und das sollen sie auch nicht, sondern sie sind da zur zusätzlichen Unterstützung, um Gespräche zu führen oder um mit den Pflegebedürftigen spazieren zu gehen. Sie entlasten damit die Pflegekräfte und machen insgesamt möglich, dass mehr Zeit für den Einzelnen da ist. Das ist es, was übrigens aus allen Pflegeeinrichtungen berichtet wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn Sie einmal vor Ort sind, dann werden Sie hören, dass alle sagen: Es war eine der besten Maßnahmen der letzten Jahre, dass es diese Betreuungskräfte gibt. – Wir wollen die Zahl der Betreuungskräfte mehr als verdoppeln. Das sind ganz konkrete Verbesserungen. Man könnte einmal anerkennen, Frau Kollegin Scharfenberg, wie wir den Menschen helfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Seit zehn Jahren und länger wird über Bürokratieabbau geredet. Wir haben jetzt endlich beschlossen, dass nicht mehr alles aufgeschrieben wird, was den ganzen Tag in der Pflege geleistet wird, sondern, um es einfach zu formulieren, es wird nur noch dokumentiert, was ungewöhnlich oder anders als sonst ist. Nach allem, was wir wissen, reduziert das die Bürokratie um mehr als ein Drittel. Selbst wenn es nur die Hälfte davon ist, wäre das eine deutliche Verbesserung. Zum ersten Mal gibt es einen konkreten Vorschlag, wie der Alltag der Pflegekräfte verbessert werden kann. Diesen Vorschlag müssen wir jeder einzelnen Pflegeeinrichtung unterbreiten, damit die Verbesserungen konkret spürbar werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Es ist einfach kleinkariert, was Sie gerade abgeliefert haben. Sie haben nicht eine der konkreten Verbesserungen, die den Menschen und den Pflegebedürftigen helfen, gewürdigt,

(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht meine Aufgabe!)

sondern Sie haben pauschal alles vom Tisch gewischt. Wenn das das Niveau ist, auf dem Sie die Debatte in den nächsten Wochen führen wollen, dann bitte schön. Ich glaube, wir haben gute Argumente und konkrete Vorhaben, die zeigen, dass wir wollen, dass es den Menschen in der Pflege ab dem 1. Januar besser geht. Wenn Sie, Frau Scharfenberg, pauschal bei Ihrer Position bleiben, dann glaube ich nicht, dass das bei den Menschen ankommen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir werden jetzt in zwei Schritten – auch darauf ist hingewiesen worden – 6 Milliarden Euro mehr in der Pflegeversicherung ausgeben. Das ist bei einem System, das heute einen Umfang von 22 Milliarden Euro hat, enorm. Das ist eine Erhöhung um ein gutes Viertel.

(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war auch absolut defizitär!)

Sie haben mit einem recht: Geld allein bringt nichts. Aber ohne zusätzliches Geld wird es auch nicht gehen. Deswegen ist das ein sehr wichtiger, großer Schritt, den wir auch immer angekündigt haben; denn in einer älter werdenden Gesellschaft werden für das gesellschaftspolitische Megathema Pflege am Ende alle mehr Geld brauchen.

Jetzt kommt es darauf an – ich glaube, die genannten Beispiele haben es deutlich gemacht –, dass dieses Geld am Bett ankommt, bei den Pflegebedürftigen, und nicht bei den Sozialhilfeträgern, dass es nicht irgendwo im System versickert, sondern ganz konkret am Bett in Leistungsverbesserungen, in zusätzliche Betreuungskräfte, in mehr Zeit investiert wird. Die Maßnahmen, die wir hier vorschlagen, stellen genau das sicher. Wir wollen das zusätzliche Geld ganz konkret bei den Menschen haben. Es soll mehr Zeit, mehr Pflege, mehr Betreuung bringen.

(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Genau!)

Das stellen wir sicher, auch wenn viele gerne gesehen hätten, dass das Geld an anderer Stelle ausgegeben wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Nun zum Pflegebedürftigkeitsbegriff. Sie wissen ganz genau, Frau Scharfenberg, dass man – auch wenn jetzt zwei Gutachten vorliegen; das sagen die Pflegewissenschaftler und die anderen Sachverständigen selber – nicht vom einen auf den anderen Tag hätte regeln können, dass Demenz und andere Einschränkungen im Alter besser berücksichtigt werden.

(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen wir Ihnen seit Jahren!)

Eines machen wir nicht – das ist ganz wichtig –: Wir machen kein Experiment mit 1 Million Menschen.

(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch richtig so! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Sagen Sie das laut!)

Jedes Jahr wird 1 Million Menschen in Deutschland in der Pflegeversicherung neu daraufhin angeschaut, welche Unterstützung sie brauchen. Da machen wir nicht mal eben, nur weil es ein theoretisches Gutachten gibt, ein Gesetz, in dem wir regeln, was wir mit diesen Menschen machen. Möglicherweise stellen sich dann einige schlechter; es gibt Unklarheiten und viel Durcheinander. Stattdessen untersuchen wir gerade in diesen Wochen parallel in der Praxis, in Studien, was sich konkret – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis – ändert, um vor einer gesetzlichen Regelung herauszufinden, welche Folgen das hat. Das ginge – das wissen Sie ganz genau – nicht von heute auf morgen. Wir machen das mit der nötigen Gründlichkeit. Ich glaube, damit ist den Menschen am Ende am besten geholfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Scharfenberg? – Bitte schön.

Vielen Dank, dass ich die Zwischenfrage noch stellen darf. – Lieber Herr Kollege Spahn, Sie haben jetzt wunderbar ausgeführt, dass man das nicht von heute auf morgen regeln und den Menschen überstülpen kann, dass das ein sehr großer Umschwung und eine sehr große Aufgabe ist. Wann ist Ihnen denn diese Erkenntnis gekommen? Sie sind jetzt seit acht Jahren in der Regierung. Die Vorschläge liegen uns seit Jahren vor. Wenn man vor vier Jahren angefangen hätte, sich damit auseinanderzusetzen, dann wären wir jetzt an dem Punkt, dass wir das umsetzen könnten. Ich kritisiere nicht, dass es Modellvorhaben gibt, sondern ich kritisiere den Zeitpunkt; ich kritisiere, dass es die erst jetzt gibt. Wann ist Ihnen die Erkenntnis gekommen, und hätte das nicht schon vor vier Jahren stattfinden können? Dann wären wir und die Menschen im Land schon ein ganzes Stück weiter.

(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])

Zunächst einmal sind wir und die Pflegebedürftigen schon ein ganzes Stück weiter, denn wir haben in den letzten Jahren, auch im Vorgriff auf diese Debatte, schon viele zusätzliche Leistungen ermöglicht. Ich habe gerade schon einige Leistungen für Menschen mit Demenz dargestellt; es ist ja nicht so, als ob es heute gar keine Leistungen gäbe. Weil wir wussten, dass diese Debatte noch Zeit braucht, haben wir in den letzten Jahren im Vorgriff bereits viele konkrete zusätzliche Verbesserungen auch für Menschen mit Demenz beschlossen.

Zum Zweiten wissen auch Sie, dass das erste Gutachten aus der vorletzten Legislatur nicht gereicht hat. Frau Ministerin Schmidt, die seinerzeit im Amt war, hat damals gesagt, damit könne man noch nichts konkret umsetzen. Deswegen haben wir in der letzten Legislatur weiter daran gearbeitet. Dass im Beirat alle, bis auf einen, wieder mitgemacht haben, macht deutlich, dass alle erkannt haben, dass der Bedarf, weiter an diesem Thema zu arbeiten, vorhanden ist. Jetzt haben wir die Basis. Man kann immer sagen: zu spät; hätte schneller geschehen müssen. Aber jetzt haben wir die Basis, das gründlich und vernünftig zu machen. Wir tun das, und das ist das, was Sie eigentlich wurmt: dass wir es sind, die das jetzt vernünftig umsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das Mindeste!)

Das bringt mich abschließend zu dem Thema Vorsorgefonds, Vorsorgen für die Zukunft. Der Jahrgang 1964 ist der geburtenstärkste Jahrgang, den Deutschland jemals hatte. 1,4 Millionen Menschen wurden 1964 geboren; Sie werden nie wieder so häufig zu 50. Geburtstagen eingeladen wie dieses Jahr. Wir wissen schon jetzt, ab wann die alle etwa pflegebedürftig werden. Das Risiko, pflegebedürftig zu werden, besteht meistens ab 75, 80 Jahren. Wir wissen gleichzeitig, dass es zu diesem Zeitpunkt in Deutschland deutlich weniger Beitragszahler geben wird als heute. Da ist es doch vernünftig, Vorsorge zu betreiben! Wenn man weiß, dass in den nächsten Jahren die Situation eintreten wird, dass wir besonders hohen Unterstützungsbedarf haben, weil es in Deutschland besonders viele Pflegebedürftige und gleichzeitig viel weniger jüngere Menschen, die Beiträge zahlen können, geben wird, dann ist es doch kluge Politik, über vier Jahre hinauszudenken und zu sagen: Wir sorgen vor, wir sparen an, und zwar nicht nur zum Schutz der Beitragszahler, sondern vor allem zum Schutz der Pflegebedürftigen der Zukunft. Denn übermäßige Beiträge würden am Ende auch Debatten über Leistungskürzungen bedeuten. Es braucht diesen Fonds, um auch die in der Zukunft Pflegebedürftigen zu unterstützen. Deswegen wollen und werden wir ihn gemeinsam, wie dargestellt, schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist Ihr Prinzip: Sie wollen das Geld am liebsten heute ausgeben. Es gibt viele Vorschläge, wie man das Geld, das wir jetzt sparen, heute noch zusätzlich ausgeben kann. Sie leben eh im Vorgestern. Diese Koalition denkt an morgen. Wir denken an die Zukunft. Wir führen zum ersten Mal in einem sozialen Sicherungssystem in Deutschland eine Säule ein, durch die zum Ausdruck gebracht wird, dass wir nicht nur an heute denken, dass wir nicht nur – in der Vergangenheit zu Recht erworbene – Ansprüche bedienen; vielmehr sorgen wir auch dafür, dass dieses System fit für die Zukunft ist. Ich glaube, die Basis für die Beratungen der nächsten Wochen ist gut.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Mechthild Rawert, SPD-Fraktion.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3596812
Wahlperiode 18
Sitzung 47
Tagesordnungspunkt Pflegeversicherung
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta