01.09.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 48 / Tagesordnungspunkt 1

Volker KauderCDU/CSU - Regierungserklärung Humanitäre Hilfe im Irak

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich bin wieder einmal – es wird nicht überraschen – ganz anderer Auffassung als Gregor Gysi.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ich auch!)

Gerade an diesem Tag! Wir haben uns diesen Tag für eine Debatte zunächst nicht ausgesucht, uns dann aber bewusst entschieden, diese Debatte am 1. September zu führen. Denn dies ist auch eine Botschaft. Sie lautet – im Gegensatz zu dem, was Gregor Gysi sagt –: Wir alle wollen heute miteinander – die Linke einmal ausgeschlossen; ich beziehe die Grünen ein – einen Beitrag dazu leisten – über das, was konkret gemacht werden soll, reden wir noch –, dass Frieden entsteht und Krieg gerade nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist die Botschaft des heutigen Tages.

Ja, Herr Hofreiter, während wir hier diskutieren, leiden Menschen in Syrien, im Irak und auch anderswo. Aber sie haben auch auf die Entscheidung gewartet, die gestern die zuständigen Ministerien getroffen haben, und sie warten darauf, was wir heute im Deutschen Bundestag sagen. Deswegen bin ich froh, dass von allen Gruppen, die in Syrien und im Irak betroffen sind, heute Vertreter auf unserer Ehrentribüne anwesend sind; wir haben sie zu dieser Debatte am heutigen Tag eingeladen.

(Beifall im ganzen Hause)

Jesiden, Assyrer, chaldäische Katholiken, Aleviten und auch Vertreter unserer Kirchen sind hier heute anwesend. Dies zeigt, dass dieses Thema doch sehr bewegt.

Die Frage, was wir jetzt tun können, um im Irak oder auch in Syrien zu helfen, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Deswegen ist es gut, wenn wir uns intensiver damit befassen.

Herr Gysi, man kann zu unterschiedlichen Einschätzungen hinsichtlich der Ereignisse im Jahr 2003 im Irak kommen; das will ich gar nicht bestreiten. Aber der ISIS – damals hat er noch so geheißen – ist nicht im Irak entstanden, sondern in Syrien. Die ganze Welt hat zugeschaut, wie er dort immer stärker geworden ist.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist das Problem!)

Ich habe schon damals gesagt, Amerika müsse sich der Sache annehmen, doch alle haben geschrien: Keine Einmischung! – Der ISIS ist dann zum „Islamischen Staat“ geworden, als er, ermutigt durch die Erfolge in Syrien, in den Irak eingefallen ist. Das ist die Verbindung. Die These, weil die Amerikaner den Irak angegriffen haben, sei der ISIS entstanden, ist grottenfalsch. Der ISIS ist in Syrien entstanden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Jetzt geht es darum, zu helfen. Vollkommen unabhängig davon, wie die Situation entstanden ist, muss den Menschen, die in konkreter Not sind, geholfen werden. Eine Diskussion, bei der es um das Wann, Hätte und Wäre geht, hilft nicht weiter. Hunderttausende Flüchtlinge leben in dramatischen Verhältnissen. Wir, die wir in Arbil waren und uns dort umgesehen haben – das waren die Kollegen Schockenhoff, Mißfelder und ich –, haben das gesehen. Dort wurde uns gesagt, wir müssten helfen, damit sich die ohnehin schon bestehende menschliche Katastrophe nicht noch weiter verschärfe. Der kurdische Präsident Barsani hat zu mir gesagt, sie seien 5 Millionen Menschen, jetzt erwarteten sie, dass bis zu 1,4 Millionen Flüchtlinge bei ihnen leben würden. Das ist in etwa so, als wenn 20 bis 30 Millionen Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland kämen. Er sagte, das könnten wir ihnen nicht alleine überlassen. Deswegen bittet er mit Recht darum, dass wir humanitäre Hilfe leisten.

Das hat die Bundesrepublik Deutschland getan; das muss ich an dieser Stelle einmal sagen. Nicht irgendjemand ist dort hingeflogen, es war nicht ein Transporter von irgendjemandem, sondern es waren Ursula von der Leyen und ihr Kollege Steinmeier aus dem Auswärtigen Amt, die den Transport der Güter dorthin begleitet haben. Herzlichen Dank dafür, dass Sie dies geleistet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Frau Roth, es ist richtig, dass die Hilfe nicht ausreicht und dass noch mehr getan werden muss. Aber es wäre völlig falsch, nun zu fordern, Deutschland solle an dieser Ecke noch etwas mehr machen, Frankreich an jener usw. Wir brauchen eine in Europa koordinierte Hilfe. Mir haben die Vertreterin von UNICEF, der Oberbürgermeister von Arbil, ein Deutschkurde, und andere gesagt, dass sie erwarten, dass Europa seine Hilfe koordiniert; denn sie brauchen keine vielen kleineren Hilfspakete, deren Verteilung sie vor Ort dann wieder organisieren müssen.

Worauf kommt es jetzt an? Natürlich geht es zum einen um Lebensmittelpakete. Aber vor allen Dingen müssen jetzt die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Menschen durch den Winter kommen.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)

In Dohuk leben Zehntausende Menschen auf dem blanken Boden, der, wenn es regnet, zu Schlamm wird. Sie haben nur ein Zeltdach über sich, sonst nichts. In Arbil leben die Menschen in nicht fertiggestellten Parkhäusern, in nicht fertiggestellten Hochhäusern. Es gibt Tausende von Kindern, die auf dem nackten Betonboden liegen müssen, die dort leben müssen und in vielen Fällen nicht einmal das Nötigste zum Überleben haben. Sie brauchen jetzt Hilfe. Diese Hilfe kann vor Ort geleistet werden. Man hat mir gesagt, man bräuchte für den Winter Container, damit wenigstens die vielen Familien untergebracht werden könnten. Wenn man bedenkt, was ein solcher Container kostet, dann kommt man auf Gesamtkosten bei diesem Projekt von insgesamt 200 bis 300 Millionen Euro. Da kann ich nur sagen: Wenn dies die europäische Gemeinschaft nicht hat, dann muss man wirklich verzweifeln, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dann müsste man verzweifeln.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Deshalb bin ich der Bundeskanzlerin und dem Außenminister auch dankbar, dass sie mithelfen, diese Mittel auf europäischer Ebene zu mobilisieren. Sie sind ja da, und die Container können vor Ort fertiggestellt werden. Es bleiben dann acht Wochen.

Warum ist dies so wichtig? Wenn man eineinhalb oder zwei Tage lang in einer solchen Region ist, kann man, auch wenn man mit noch so vielen Menschen gesprochen hat, nicht sagen: Ich habe mit den Menschen gesprochen, und die Menschen haben mir dieses und jenes gesagt. – Wir haben schon mit vielen Menschen gesprochen, und die Botschaft war: „Wir würden gerne wieder in unsere Heimat zurück“; denn viele haben dort etwas verloren. Sie hatten einen kleinen Handwerksbetrieb, sie hatten ein kleines Geschäft oder waren als Lehrer tätig, und sie sagen: Wir hatten ein kleines Häuschen oder eine Wohnung, wir hatten also etwas. Dorthin wollen wir wieder zurück, aber natürlich nur, wenn ihr uns beschützen könnt. – Im Augenblick ist es wohl kaum zuzusagen, dass die Menschen in ihre Heimat zurück und dort auch beschützt werden können.

Übrigens – das macht das ganze menschliche Drama deutlich –: Das bezieht sich teilweise auch auf das Verhältnis zu den Nachbarn. Es wurde erzählt, dass man, auch wenn man seit Jahrzehnten mit den Nachbarn zusammengelebt hat, eines Morgens nach dem Aufwachen feststellen musste, dass ein „N“ an der Türe stand. Die Nachbarn haben sie überfallen und hinausgeworfen und ihnen alles weggenommen.

Deswegen haben die Menschen Sorge davor, zurückzugehen, und deshalb sagen sie: Wir brauchen eine Stabilisierung vor Ort. – Andere haben mir berichtet, sie glaubten nicht mehr an eine Perspektive, und deshalb wollen sie das Land verlassen. Beides gibt es. Deswegen ist es richtig, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.

(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])

Es ist aber ein glatter Irrtum, zu glauben, nur damit, Flüchtlinge aufzunehmen, sei das Problem gelöst. Wir müssen vor Ort helfen, um den Menschen dort eine Perspektive zu geben.

Es hat mich sehr angerührt – Sie wissen, dass ich bei solchen Fragen nicht so leicht sensibel reagiere –, dass der Präsident zu mir gesagt hat: Herr Kauder, ich habe mit allen gesprochen und sie gebeten, nicht zu gehen, sondern zu bleiben. Wir kämpfen miteinander, wir gewinnen miteinander, oder wir sterben miteinander. Aber wenn ihr jetzt geht, dann ist es, als ob man einem Körper Arme und Beine abschneidet. – Er hat gesagt: Wenn alle gehen würden, die jetzt betroffen sind, dann hätte der „Islamische Staat“ sein Ziel erreicht. Deswegen sagte er: Helft uns, damit die Menschen eine Perspektive in dieser Region über den Winter hinaus haben. – Deshalb sage ich Ja zur Aufnahme von Flüchtlingen, aber wir müssen auch alles dafür tun, dass diese Region nicht jesidenfrei und christenfrei wird. Das sind die angestammten Gebiete dieser Menschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Menschen haben dort, wie es formuliert worden ist, ein Geburtsrecht.

Natürlich muss diese Region gesichert werden. Deswegen sind die Kurden, die das tun müssen, auch darauf angewiesen, dass sie sich des „Islamischen Staates“ mit seiner modernen Bewaffnung erwehren können. Selbstverständlich ist es wahr, dass die eingekesselten Jesiden durch die amerikanische Luftwaffe und die Armee der PKK einen Korridor zur Flucht bekommen haben. Aber die Kurden haben mir erzählt, dass sie in den Zeitungen gelesen haben, sie seien abgehauen und hätten alle im Stich gelassen, als die IS-Miliz gekommen sei. Die militärische Führung hat mir dazu gesagt: Das war ganz dramatisch. Wir haben mit unseren Waffen auf die gepanzerten Fahrzeuge des IS geschossen, und nichts ist passiert. Wir haben weitergemacht. – Als die Soldaten gemerkt haben, dass sie keine entsprechende Ausrüstung hatten, um sich zu wehren, sind sie geflohen. Auch sie wären lieber dort geblieben. Sie sagen: Jetzt helft uns bitte, damit wir uns in Zukunft wehren können.

Präsident Barsani hat zu mir gesagt: Ich will nicht und ich erwarte nicht, dass Ihre Söhne und Töchter bei uns im Irak für uns und für unsere Glaubensbrüder kämpfen. Aber ich erwarte schon, dass Sie mich in die Lage versetzen, mich zu wehren, wenn die IS-Truppen weiter auf dem Vormarsch sind. – Deshalb sind Waffenlieferungen notwendig.

Natürlich kann man sagen, Herr Hofreiter: Wir wollen ein UNO-Mandat haben und dieses und jenes. – Nur: Während wir hier diskutieren und einige ein UNO-Mandat verlangen, finden vor Ort Kämpfe statt. Für diese Kämpfe brauchen die Menschen das notwendige Material, und zwar jetzt und sofort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Deshalb ist die Entscheidung der zuständigen Ministerien völlig richtig. Damit nehmen wir unsere Verantwortung wahr. Ja, es ist auch richtig, den Blick darauf zu richten, was in Zukunft geschehen soll: Die Kurden sind durchaus pessimistisch, ob es gelingt, die sunnitischen Stämme dazu zu bringen, den Weg der Gewalt wieder zu verlassen; denn dass der IS im Irak so erfolgreich ist, ist nur möglich, weil er die Unterstützung einer breiten Bevölkerung findet.

Es war doch so: Als die IS-Truppen in die Stadt Mosul – das ist eine große Stadt – eingefallen sind, hat sich ein großer Teil der Bevölkerung versammelt, hat ihnen geholfen und sie freudig als Befreier von der schiitisch gefärbten Regierung begrüßt, die für sie nichts gemacht hat. Diese Menschen sagen: Bisher ist kein Vertreter unserer eigenen Regierung aus Bagdad zu uns in die Region gekommen und hat mit uns gesprochen oder sich um uns gekümmert. – Übrigens ist bis zum heutigen Tage der deutsche Außenminister der einzige Minister, den die Menschen in Kurdistan gesehen haben.

Bei diesen Punkten muss man natürlich sagen: Da muss sich in Zukunft etwas ändern. Aber zu glauben, dass dies alles in kurzer Zeit geschehen kann, ist ein Irrtum. Solange sich der „Islamische Staat“ – jetzt kommt ein Punkt, von dem ich weiß, dass er nicht einfach ist – nach Syrien zurückziehen kann, wenn wir die Bedingungen für ihn im Irak verschlechtern, so lange wird das Problem nicht zu lösen sein.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)

Bei allem, was wir für den Irak tun – das haben wir doch erlebt –, dürfen wir nicht vergessen: Kaum hatten die Amerikaner und die Peschmerga-Armee den Druck erhöht, sind die IS-Truppen nach Syrien ausgewichen und haben an einem einzigen Tag 700 Männer abgeschlachtet – an einem einzigen Tag. Solange diese Truppen die 1 000 Kilometer lange Grenze, die gar keine Grenze mehr ist, nach Belieben überqueren können, so lange wird das Problem nicht gelöst werden. Eine solche Grenze – über dieses Thema muss man sich einmal ernsthaft unterhalten – kann nur durch Drohnen kontrolliert werden und durch sonst nichts.

(Zuruf von der LINKEN: Super!)

– Ja, ja. – Wir müssen dafür sorgen, dass diese Terrorgruppe nicht weiter wächst. Sie ist nicht nur eine Gefährdung der Region dort, sondern – das hat die Bundeskanzlerin vorhin gesagt, und das haben auch schon viele andere angesprochen – auch für unsere Region.

Es ist doch kaum zu fassen, dass Hunderte oder gar Tausende von jungen Leuten aus ganz Europa sich dieser Truppe anschließen und morden, schlachten, vergewaltigen und rauben. Das muss auch uns herausfordern, alles zu tun, dass so etwas in unserem Land nicht geschieht. Es kann auch nicht so weitergehen, dass radikale Salafisten in unserem Land für den Heiligen Krieg in Syrien und im Irak werben. Das darf nicht passieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin außerordentlich dankbar – es hat zwar lange gedauert, aber das ist jetzt egal –, dass der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland in diesen Tagen klare Worte gefunden hat, indem er gesagt hat: Die islamistische Terrorgruppe ISIS hat mit uns nichts zu tun, und Unterstützung durch uns findet auch nicht statt. – Für dieses klare Wort bin ich dankbar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Plenum des Deutschen Bundestages zeichnet sich ab, dass man grundsätzlich der Meinung ist, es muss geholfen werden. Draußen im Land findet noch die eine oder andere Diskussion statt, ob man dies darf oder nicht. Mich hat ein Satz von Rupert Neudeck besonders beeindruckt. Er hat gesagt: „Ich möchte nicht, dass Menschen sterben für die Reinheit meines Pazifismus.“

Es gibt tatsächlich Phasen und Zeiten, in denen man sich auf den Weg machen muss, um sich anderen in den Weg zu stellen. Der „Islamische Staat“ darf in unserer Welt keinen Erfolg haben, weil er nämlich etwas zerstören will, was, gerade von diesem Tag, dem 1. September, ausgehend, für uns sehr wichtig ist: eine Welt der Freiheit bzw. der Religions- und Glaubensfreiheit, eine Welt, in der die Menschen selbst entscheiden können, wie sie leben wollen, unbedrängt von Terroristen. Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung sich so klar positioniert hat und dass wir dieses Anliegen in unserem Antrag entsprechend unterstützen und an ISIS oder den „Islamischen Staat“ die klare Botschaft senden: Wir lassen euch nicht gewähren!

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Niels Annen ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3816762
Wahlperiode 18
Sitzung 48
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung Humanitäre Hilfe im Irak
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta