01.09.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 48 / Tagesordnungspunkt 1

Omid NouripourDIE GRÜNEN - Regierungserklärung Humanitäre Hilfe im Irak

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine unglaublich schwierige Entscheidung, und wir wissen, dass die meisten in diesem Hohen Hause, die sich mit der Frage beschäftigen, sehr mit sich ringen, wie man die Barbaren des ISIS aufhalten kann. Wir sind uns weitgehend einig – viele sind sich einig, ich gehöre dazu –, dass das nur mit militärischen Mitteln geht. Aber zwei Argumentationsstränge, die ich bisher gehört habe, kann ich leider so nicht stehen lassen.

Erstens. Ich bin heute auf den Tag genau seit acht Jahren im Deutschen Bundestag, und ich habe in acht Jahren nicht ein einziges Mal einen solchen Antrag gesehen, wie Sie ihn heute vorlegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir diskutieren seit Wochen laut und heftig die Frage der Waffenlieferungen, und dann bringen Sie einen Antrag ein, in dem nicht einmal das Wort vorkommt. Wenn Sie das machen wollen, dann reicht es nicht, wenn Sie sich hier hinstellen und offensiv dafür werben – Herr Kauder hat es getan, ein paar andere haben es getan; ich bin für die Art und Weise, nicht für die Argumente, sehr dankbar –, sondern dann müssen Sie es heute auch beschließen lassen. Das machen Sie aber nicht, weil Sie die Debatte fürchten. Das wird der Ernsthaftigkeit des Themas nicht gerecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Es wird hier eine binäre Logik vertreten: entweder 0 oder 1. Herr Steinmeier hat immer wieder gesagt: Es geht bei den Waffenlieferungen um Handeln oder Nichthandeln. – Herr Oppermann hat heute gesagt: Man muss etwas tun. – Es gibt aber nicht nur Waffenlieferungen oder Nichtstun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich habe heute Staatsbürger jesidischen Glaubens, Unternehmer aus Köln, getroffen. Sie haben in der großen Angst um ihre Glaubensbrüder und -schwestern in den Bergen von Sindschar in ihrer Nachbarschaft in Köln um Spenden gebeten und von ihren deutschen Nachbarinnen und Nachbarn – dafür sind sie zutiefst dankbar – tonnenweise humanitäre Güter bekommen. 100 Lkw voller Klamotten, Decken und Pharmazie stehen seit drei Wochen an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien, am Grenzübergang in Ibrahim Khalil, und die Türkei lässt diese humanitären Güter nicht durch. Es ist nicht Nichtstun, mit einem NATO-Partner einmal ein offenes und lautes Wort zu sprechen, dass diese Art von Grenzmanagement, bei der ISIS freien Verkehr über die Grenze hat, aber humanitäre Güter nicht durchkommen, nicht akzeptabel ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es ist nicht Nichtstun, wenn man mit der Regierung in Bagdad über die Notwendigkeit einer inklusiven Regierungsführung spricht; denn die Sunniten fühlen sich diskriminiert. Sie bemängeln seit dreieinhalb Jahren zu Recht, dass sie keinen Anteil am immensen Reichtum des Landes haben. Viele der Städte im Norden des Landes sind beim Vormarsch des ISIS nach Mosul gefallen, weil die Sunniten die Seiten gewechselt haben. Sie sagen: Wir wollen ein Mindestmaß an Schutz. Wir wurden unter al-Maliki beschossen, als wir zum Beispiel in Ramadi friedlich demonstriert haben. – Man muss diesen Menschen entsprechende Signale geben. Die Situation klar und deutlich anzusprechen, das ist nicht Nichtstun. Nur so kann man langfristig etwas gegen ISIS tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Das Zeitargument, Herr Kauder, das Sie angeführt haben, ist sehr vage. ISIS ist nicht aus dem Nichts gekommen. ISIS hat vor über einem Jahr die gesamte riesige Westprovinz Anbar erobert. In diesem Zusammenhang ging es um die Situation der Sunniten. Man wusste nicht genau, wie man sie schützen soll. Ich war Ende Mai deswegen in Bagdad. Die zentrale Frage aller Irakis war: Wo seid ihr Deutschen? Wo ist euer politisches Engagement? Wann redet ihr endlich einmal mit al-Maliki, der Gott sei Dank inzwischen nicht mehr Ministerpräsident ist, damit er etwas tut?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])

Sie haben die Finanziers angesprochen. Es ist nicht Nichtstun, die Finanziers darauf hinzuweisen, dass durch ISIS billiges Öl von den Ölfeldern von Ragga und anderswo zum Beispiel an Assad verkauft wird. Ich habe am 2. Juni von der Bundesregierung die Information erhalten, man wisse nichts davon, dass ISIS Ölfelder habe; ich habe die Antwort hier. Es ist nicht Nichtstun, wenn man genauer hinschaut. Dann braucht man auch nicht plötzlich in Aktionismus zu verfallen, wie das derzeit der Fall ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])

Es ist auch nicht Nichtstun, nach einem regionalen Ansatz zu suchen, die Nachbarstaaten an einen Tisch zu bringen und wirklich Druck zu machen, damit die ewige Feindschaft zwischen Saudi-Arabien und Iran bei dem Thema ISIS – da sind sich doch alle einig – endlich aufhört.

Frau Hasselfeldt, das, was Sie gesagt haben, kann ich wirklich nicht so stehenlassen. Lesen Sie unseren Entschließungsantrag. Dort steht eindeutig drin: Wir wollen, dass sich Deutschland an die UN wendet, dort die Responsibility to Protect, die Schutzverantwortung, festgestellt wird und sich Deutschland dann gegebenenfalls an der Umsetzung beteiligt. Wenn das für Sie Nichtstun ist, dann verstehe ich, warum Sie in der von mir angesprochenen binären Sicht der Welt verhaftet sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Eine letzte Frage habe ich noch. Ich weiß noch immer nicht, wer diese Waffen aus Deutschland bekommen soll. Zunächst hieß es: die Kurden. Gestern hieß es, eine konkrete Peschmerga-Brigade würde sie bekommen. Die Peschmerga haben in Sindschar meines Wissens nicht gekämpft, aber es kann ja Sinn machen. Wie gesagt: Ich verstehe die Argumente der anderen Seite. Heute haben wir im Ausschuss noch einmal nachgefragt: Sind das PUK-Peschmerga oder PDK-Peschmerga? Ich habe bisher keine Antwort erhalten.

Frau Hasselfeldt, Sie haben sich im Übrigen nicht ganz an die Wahrheit gehalten, als Sie gesagt haben, es gehe darum, ISIS zu vertreiben. Es geht nicht darum, dass die Peschmerga Mosul erobern. Die Kurden sagen – ich verstehe ihre Sicht völlig –, sie wollten Kurdistan verteidigen. Es geht nicht darum, ISIS in ganz Nordirak zu bekämpfen. Deshalb kann man nicht sagen: Es geht um Waffenlieferungen oder um gar nichts.

Ich bin sehr froh, dass auch Syrien genannt worden ist. Das ist ein wahnsinnig wichtiges Thema, über das wir in den nächsten Wochen intensiver diskutieren müssen, als wir es bisher getan haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Anfang des Jahres wurde ein riesengroßer Aufschlag gemacht. Es hieß, es gehe um mehr Verantwortung der deutschen Außenpolitik, Deutschland sei zu groß, um an der Seitenlinie zu stehen. Wenn das so ist, dann gilt es aufgrund dieser Verantwortung, jetzt genau hinzuschauen und nicht erst dann zu reagieren, wenn es brennt. Man muss bereit sein, die öffentliche Diskussion anders zu führen, als Sie es bisher getan haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3816804
Wahlperiode 18
Sitzung 48
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung Humanitäre Hilfe im Irak
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