09.09.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 49 / Einzelplan 15

Karl LauterbachSPD - Gesundheit

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Frau Präsidentin! Herr Minister! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will zunächst kurz auf die Einlassungen von Frau Lötzsch zu sprechen kommen. Sie erwähnten – das stimmt auch –, dass wir am Arbeitsplatz immer mehr Stress haben. Das ist richtig, und dagegen unternehmen wir etwas. Ich hoffe daher, dass wir Ihre Unterstützung bekommen, wenn Andrea Nahles hier die Antistressverordnung verabschieden will. Dann werde ich Sie an Ihre Worte erinnern. Denn es hilft nichts, ein Problem zu benennen, aber nicht konstruktiv mitzuarbeiten, wenn es um die Lösung geht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das Gleiche gilt auch für die Vorbeugemedizin. Es ist richtig, dass wir in den Betrieben mehr Prävention brauchen. Es ist aber auch richtig – das hat der Minister eben in seiner Rede angekündigt, und wir haben es hier schon mehrfach vorgetragen –, dass wir noch in diesem Jahr ein Präventionsgesetz vorlegen werden, das eine bessere Vorsorgemedizin in den Betrieben zum Ziel hat. Somit hoffe ich dann ebenfalls auf Ihre Unterstützung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Und schließlich: Sie sagten, Sie würden beklagen, dass wir alte Schulden haben. Das höre ich mit großem Interesse. Das steht nämlich im Widerspruch zu den Vorschlägen, die wir in fast jeder Plenardebatte von Ihnen hören und deren Umsetzung darauf hinauslaufen würde, dass wir sogar neue Schulden machen müssten. Das ist ein Widerspruch.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist sozialistische Dialektik!)

Ich glaube, wenn man auf die erste Phase dieser Regierungszeit zurückschaut, kann man mit Blick auf die Gesundheitspolitik – ohne sich zu Unrecht zu loben oder die Dinge zu selbstgerecht darzustellen – sagen: Wir haben eine Menge geschafft. Zum Beispiel ist es uns trotz stetig steigender Bedarfe, neuer, innovativer Produkte und zum Teil auch sehr teurer Produkte gelungen, die Kosten im Bereich der Arzneimittelversorgung im Wesentlichen zu begrenzen. Wir haben das Preismoratorium fortgesetzt. Wir haben den Herstellerrabatt mit 7 Prozent auf einem Niveau gehalten, das passt. Wir haben mit den Hausarztverträgen Anreize für eine evidenzbasierte Generikabehandlung geschaffen; das funktioniert gut. Außerdem haben wir die Qualitätssicherung durch die Chronikerprogramme und die Disease-Management-Programme verbessert. Mittlerweile bekommt der größte Teil der Patienten in Deutschland eine wissenschaftlich gut gesicherte Medizin, dort, wo möglich, in Form von Generika, und dort, wo nicht in Form von Generika möglich, auf der Grundlage von unter Berücksichtigung der Kosten-Nutzen-Relation verhandelten Preisen.

Vor Jahren ist das nicht möglich gewesen. An diesen Reformen arbeiten wir gemeinsam seit vielen Jahren. Diese Arbeit wurde in der ersten Phase dieser Legislaturperiode fortgesetzt. Da gab es also keinen Bruch, sondern eine kontinuierliche Weiterentwicklung, für die wir im Ausland gelobt werden. Hier müssen wir gemeinsam weiter an einem Strang ziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Zum Zweiten. Ich weise darauf hin: Wir haben eine große Ungerechtigkeit in unserem System beseitigt, und zwar gemeinsam – hierfür möchte ich mich ausdrücklich auch bei den Kolleginnen und Kollegen von der Union bedanken –: Wir haben die Gesundheitsprämie bzw. die kleine Kopfpauschale abgeschafft. Sie hätte für unsere Rentner eine nicht unerhebliche Belastung dargestellt; denn es ging um einen Sozialausgleich, der von der Steuer abhängig gewesen wäre. Jetzt gibt es einkommensabhängige Zusatzbeiträge, die für einen Geringverdiener gering und für einen Gutverdiener entsprechend höher ausfallen. Arbeitslose, die Arbeitslosengeld I oder II empfangen, müssen gar keinen Zusatzbeitrag bezahlen. Ich sage es einmal so: Das ist zwar nicht ganz die Bürgerversicherung – das räume ich hier ein; sie wäre mir zu jedem Zeitpunkt lieber –,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

aber ein wichtiger Fortschritt. Angesichts dieses wichtigen Fortschritts sage ich: Dafür muss man der Union danken. Das ist eine Richtungsänderung, ein ganz gezielter Schritt in Richtung von mehr Solidarität.

Die Pflegereform wurde von Minister Gröhe schon angesprochen. Auch sie ist eine Reform mit Augenmaß. Klar ist: Wenn wir in der Lage wären, den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff jetzt einzuführen – flächendeckend, in ganz Deutschland, sofort –, dann müssten wir das tun, und dann wäre es verantwortungslos, das nicht zu tun.

Die Wahrheit ist aber: Ein so großes Experiment – den Pflegebedürftigkeitsbegriff, der für so viele Menschen, für mehr als 2 Millionen zu Pflegende, die Organisation und Bezahlung ihrer Versorgung regelt, auf einen Schlag zu verändern – wäre nicht verantwortbar. Zuvor müssen wir mit den Projekten, in die wir 4 000 zu Pflegende einbeziehen, erst einmal schauen, wie der neue Pflegebegriff funktioniert. Bis dahin dynamisieren wir die Leistungen. Auch da wäre mehr möglich gewesen; aber 4 Prozent sind 4 Prozent. Wir bringen im Prinzip so etwas wie ein flexibles Budget bei der Verhinderungspflege und der Kurzzeitpflege; das ist etwas, was an der Basis immer wieder gewünscht wurde. Das ist auch ein Vertrauensbeweis gegenüber den Angehörigen, die das Geld dann besser disponieren können, ohne dass jeder Euro genau dokumentiert werden muss.

Wir schaffen etwa 20 000 bis 25 000 zusätzliche Betreuungsstellen. Die Betreuungsstellen – sowohl bei der teilstationären als auch bei der stationären Pflege – sind von absoluter Bedeutung: Das sind die Stellen, die dafür sorgen, dass die Menschen, die Pflege benötigen, auch wirklich gepflegt werden können, dass die gut ausgebildeten Pflegekräfte nicht die ganze Zeit mit, ich sage einmal, Beobachtungsleistungen wie „Läuft er hierhin, dorthin?“ verbringen, die auch einmal Gespräche führen können, Zeit haben, sich einfach hinzusetzen und mit den zu Pflegenden etwas zu machen. Daher sind die Betreuungsleistungen von allergrößter Bedeutung. Dass wir durch die Veränderung des Schlüssels mindestens 20 000 zusätzliche Stellen schaffen, ist eine große Leistung. Das wird paritätisch bezahlt. Damit wird unser Sozialstaat in eine Richtung ausgedehnt, wo der größte Bedarf besteht. Dafür möchte ich mich bei allen, die daran mitgewirkt haben, ganz ausdrücklich bedanken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich selbst stehe zu der Schaffung einer Rücklage von 1,2 Milliarden Euro; unsere gesamte Fraktion steht zu diesem Beschluss. Das ist keine unsinnige Verwendung. Wir sehen durchaus Bedarf, für die Babyboomer-Generation, die irgendwann als Kollektiv in die Pflegebedürftigkeit übertreten wird, Geld zurückzulegen. Jetzt kann man sagen: „Das Geld verzinst sich nicht so gut“; aber es ist besser, man hat auch bei niedriger Verzinsung etwas zurückgelegt, als dass man, wenn man Geld braucht, gar nichts zurückgelegt hat. Somit haben wir diese Rücklage zum „Entsparen“ im Jahr 2035. Das ist etwas, wozu wir gemeinsam stehen; das ist etwas Sinnvolles. Gepaart mit den Verbesserungen der Pflegeleistungen und Investitionen in die Vermeidung von Pflegebedürftigkeit durch eine bessere Hausarztmedizin, durch bessere Prävention und durch eine bessere Integration der Leistungen machen wir unser Pflegesystem langfristig bezahlbarer und auch leistungsgerechter.

Ich komme zum Abschluss auf den Krankenhaussektor zu sprechen; da haben wir vieles vor. Wir müssen im Krankenhaussektor aus meiner Sicht in allererster Linie ein Problem lösen, das mittelfristig größer sein wird als jedes andere Problem dort. Dieses Problem ist damit zu beschreiben, dass wir in der Qualifikation und auch in der Zahl in den Krankenhäusern in Deutschland mittelfristig viel zu wenige Pflegekräfte haben werden.

(Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)

Insbesondere in der Stationspflege werden wir zu wenige Pflegekräfte haben. Die Funktionspflege wird noch einigermaßen funktionieren; aber an der Stationspflege haben die Krankenkassen meistens kein großes Interesse, weil sich das in den Gesamtausgaben nicht widerspiegelt. Wie die Krankenhäuser die Mittel verwenden, ist der Krankenkasse egal. In den Krankenhäusern sind es oft die Ärzte, die mit den Pflegekräften um Einkünfte konkurrieren und somit im Prinzip den Kuchen dort noch kleiner machen. Es ist auch so, dass sehr häufig kurzfristig Gewinne gemacht werden, indem in der Pflege gespart wird. Dieses Sparen bei der Pflege ist für die Patienten sehr gefährlich,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

weil es einer der wichtigsten Gründe für vermeidbare Krankenhausinfektionen ist. Vermeidbare Krankenhausinfektionen, das bedeutet, dass man an etwas erkrankt, was mit der Indikation, wegen der man in die Klinik gekommen ist, nichts zu tun hat. Hier werden zum Teil Menschen schwer krank und versterben nach Routine-eingriffen, bei denen niemals mit einer solchen Komplikation zu rechnen gewesen wäre. Langfristig werden die Stationen und die Kliniken, wenn wir hier nicht gegensteuern, zu einem Sicherheitsrisiko für die Patienten. Das müssen wir vermeiden. Bei allen Manövern, die wir bei der Krankenhausreform machen – das sind eine ganze Menge –, wird das ein wichtiges Ziel sein müssen.

Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, dann gewinnen wir die jungen Leute nicht, die wir für die Pflege brauchen. Man kann heute nämlich junge Leute mit einer guten Qualifikation, die sich eine Stelle aussuchen können, nicht für einen Beruf gewinnen, der unterbezahlt ist, bei dem man sehr stark gestresst und sozusagen vom Burn-out bedroht wird und bei dem man in der Hierarchie ganz unten steht. Daher brauchen wir hier die Unterstützung aller im Haus, und ich bin mir sicher, dass wir sie zum Schluss auch bekommen werden.

In diesem Sinne danke auch ich Ihnen für die vorzügliche Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3847991
Wahlperiode 18
Sitzung 49
Tagesordnungspunkt Gesundheit
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