10.09.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 50 / Einzelplan 04

Aydan ÖzoğuzSPD - Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus durchaus unterschiedlichen Blickwinkeln wurde bereits gestern und auch heute darauf hingewiesen, dass die Nachrichten und Geschehnisse aus aller Welt auch für unser Land nicht folgenlos bleiben. Ich glaube, dass diese vielen Beiträge auch das Ausmaß der Geschehnisse deutlich zeigen. Laut den Vereinten Nationen sind aktuell weltweit über 51 Millionen Menschen auf der Flucht, davon 17 Millionen Menschen außerhalb ihres Landes. Das sind unglaubliche Dimensionen, die natürlich auch uns erreichen. Die erschütternden Bilder und Nachrichten brauche ich kaum zu wiederholen; ich tue es trotzdem: Unfassbare Gräueltaten der IS-Terrormiliz, Bürgerkrieg in Syrien, Eskalation in der Ostukraine, israelisch-palästinensische Auseinandersetzungen, ein Gazastreifen, der in Trümmern liegt, Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer.

Wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für dieses Jahr mit rund 200 000 Asylanträgen rechnet, dann hat das natürlich auch Folgen für die Länder und Kommunen; das ist hier schon lange und oft genug gesagt worden. Ich möchte nur noch einmal betonen, dass es nicht nur bei der Unterbringung Herausforderungen gibt und dass sich Deutschland natürlich seiner Verantwortung stellt. Wer vor Krieg, Bürgerkrieg oder Verfolgung flieht, muss Schutz in unserem Land finden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Die Asylantragsteller brauchen schneller Klarheit über ihren Status. Jahrelange Verfahren, wie wir sie ja durchaus kennen, helfen niemandem weiter. Darum haben wir 300 neue Stellen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingerichtet, und in 2015 soll es vermutlich noch einmal einen Aufwuchs geben; mein Fraktionskollege Martin Gerster hat dies gestern angesprochen.

Es nützt natürlich niemandem, wenn die Asylbewerber oft monatelang herumsitzen und nicht arbeiten dürfen. Das haben wir alle miteinander erkannt. Deshalb werden wir das Verbot der Arbeitsaufnahme von Asylbewerbern und Geduldeten auf drei Monate begrenzen. Diese Frist braucht man schon; so fair muss man sein. Wenn jemand gerade hier ankommt, kann er nicht sofort irgendwohin geschickt werden. Die Menschen wollen aber arbeiten und selbstbestimmt ein Stück zu ihrem Lebensunterhalt beitragen können. Dabei geht es auch um Menschenwürde, die wir damit ermöglichen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dazu passt es auch, dass wir junge Flüchtlinge, die in unser Land kommen und die richtig gut und schnell sind – sie lernen Deutsch und machen ihre Abschlüsse; über sie reden wir leider nur sehr selten –, nicht vier Jahre lang warten lassen, bis sie eine Ausbildung machen dürfen.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woran liegt das denn? An uns nicht!)

Mit Unterstützung des Bildungsministeriums und des Innenministeriums haben wir jetzt dafür sorgen können, dass schon nach 15 Monaten eine Ausbildungsförderung gezahlt wird. Hierfür haben uns übrigens auch Unternehmer schon ein großes Dankeschön ausgesprochen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Bilder, die uns vom Mittelmeer und von Lampedusa erreichen, zeigen einen unhaltbaren Zustand und sind unwürdig für die Europäische Union. Ich möchte noch einmal wiederholen: Wir müssen gemeinsam mit den europäischen Partnern eine faire, solidarische Aufgabenaufteilung erreichen. Auch Thomas Oppermann hat das eben noch einmal gesagt. Deutschland nimmt heute 30 Prozent der Flüchtlinge auf. Ich glaube, wir können sagen: Außer in Schweden sehen wir eigentlich nirgendwo vergleichbare Anstrengungen. So darf das natürlich nicht bleiben. Das ist keine Partnerschaft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deutschland ist mittlerweile ein richtig beliebtes Land. Ich glaube, es ist für manche überraschend, dass wir plötzlich einen solchen Stellenwert haben. Diese hohe Position haben wir in der OECD erreicht, weil wir den zweithöchsten Wanderungsgewinn nach den USA zu verzeichnen haben.

Ich möchte hervorheben, dass wir eine sehr erfreuliche und sehr positive Grundeinstellung der Hilfsbereitschaft in unserer Bevölkerung feststellen können – ich glaube, das ist sehr wichtig –,

(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)

und zwar nicht nur gegenüber Einwanderern insgesamt, sondern insbesondere auch gegenüber Flüchtlingen. Es gibt unglaubliche viele Nachbarschaftsinitiativen rund um Flüchtlingsheime, die sich in den letzten Monaten gegründet haben, um den Flüchtlingen direkt zu helfen, um den Kontakt zu anderen zu ermöglichen und um aufzuklären. Wir alle sind uns darüber im Klaren: Die Arbeit, die die Menschen in diesen Nachbarschaftsinitiativen leisten, könnten wir aus unserem Haushalt überhaupt nicht bezahlen. Es ist also wirklich ein Dankeschön an all die Menschen angebracht, die sich dort engagieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte an das anschließen, was Volker Kauder gesagt hat. Wir haben heute Morgen an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und die Gräueltaten der Nationalsozialisten erinnert. Vor diesem Hintergrund möchte ich noch einmal sagen: Wenn ich mir manche Demonstrationen auf deutschen Straßen anschaue, dann kann ich nur unterstreichen, dass diejenigen, die antisemitische Parolen rufen, das Recht auf Meinungsfreiheit deutlich überschreiten. Antisemitismus hat keinen Platz in unserem Land.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen – das ist jetzt an Volker Kauder gerichtet –: Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wäre es ebenso angebracht, zu sagen: Auch Antiziganismus hat in Deutschland keinen Platz.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)

Natürlich ist auch niemandem damit geholfen, Islamfeindlichkeit auszublenden. Ich finde, dass die Brandanschläge auf Moscheen, die sich im Moment häufen, uns durchaus nachdenklich machen müssen. Jegliche Diskriminierung aufgrund von Religionszugehörigkeit oder Herkunft dürfen wir in Deutschland nicht dulden. Das muss uns doch die Geschichte gelehrt haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn selbsternannte „Scharia-Polizisten“ durch Wuppertal spazieren, dann dulden wir auch das nicht. Das hat der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger deutlich gemacht. Aber wir sollten diese Verirrten mit ihren abstrusen Ideen nicht wichtiger machen, als sie eigentlich sind. Das ist schon ein schmaler Grat, auf dem wir uns da bewegen.

Anders sieht es bei gewaltbereiten, meist jungen Männern aus Deutschland aus, die von hier in den Nahen Osten oder nach Afghanistan reisen, um sich dort in den sogenannten Terrorcamps ausbilden zu lassen oder gleich in den Kampf zu ziehen. Hierzu möchte ich sagen: Es hat sich mir noch nie erschlossen – das konnte ich noch nie nachvollziehen –, wie ein Mensch in Deutschland auf die Idee kommen kann, in ein sogenanntes Ausbildungslager im Ausland zu reisen oder sich gar einer Terrormiliz anzuschließen. Das hat in meinen Augen weder mit dem Islam noch mit dem Thema Religion überhaupt irgendetwas zu tun. Deswegen ist es besonders wichtig, dass deutschlandweit am 19. September dieses Jahres die Moscheegemeinden aufstehen wollen und ein Zeichen gegen Hass und Unrecht und für Frieden auf der Welt setzen wollen. Ich habe den Eindruck, dass viele in unserer Bevölkerung schon lange darauf warten. Es ist gut, dass ein solches Zeichen gesetzt wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ein Beweis dafür, dass man auch mit einem sachlichen Blick und ohne zu starke emotionale Aufwallungen an die Herausforderungen herangehen kann, ist die Umsetzung der Empfehlungen des Staatssekretärsausschusses bezüglich der Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger. Alle Ressorts haben in diesem Ausschuss gemeinsam mit den Kommunen in akribischer Sacharbeit Daten und Fakten über die Zuwanderung nach Deutschland, insbesondere – weil es angesprochen wurde – aus Bulgarien und Rumänien, zusammengetragen.

Das wenig überraschende Ergebnis, wenn ich das einmal so sagen darf, ist: Es ist keineswegs so, dass Deutschland unter der Last der rumänischen und bulgarischen Zuwanderung zusammenbrechen würde. Ganz im Gegenteil: Die Einwanderer aus Südosteuropa sind in der Regel gut ausgebildet und gehen einer Arbeit nach. Ja, es gibt Einzelne, auf die das nicht zutrifft – das will ich gar nicht bestreiten –, was dazu führt, dass sich in den Kommunen die Herausforderungen ballen. Aber es ist schon erstaunlich, dass bis heute niemand so recht das Ausmaß eines angeblich übermäßigen Sozialleistungsbetrugs faktisch darstellen konnte. Der Ausschuss hat beschlossen, den Kommunen – ich glaube, das ist wirklich wichtig – mit insgesamt über 235 Millionen Euro schnell zu helfen.

Einen unschätzbaren Beitrag zur Versachlichung der Debatte hat – das möchte ich in diesem Zusammenhang gern erwähnen – der Mediendienst Integration geleistet; denn viele Journalistinnen und Journalisten fragen dort nach Zahlen. Sie wollen wissen: Wie verhält es sich denn wirklich mit den Zuwanderern? Wer arbeitet? Wer bekommt Sozialleistungen? – Dieser Mediendienst wird von mir als Integrationsbeauftragter aus meinem extrem kleinen Budget – wenn ich das in der Haushaltsdebatte noch einmal anmerken darf – unterstützt. Er bereitet für Journalisten Daten auf und erklärt Hintergründe zu diesen Themen. Ich glaube, dass das sehr hilfreich sein kann. Deswegen halten wir an diesem Mediendienst weiter fest.

(Beifall bei der SPD)

Zwei kurze Stichworte zum Schluss. Ein bewährtes Instrument für ein Gelingen der Integration sind die Integrationskurse zum Spracherwerb. Der große Erfolg dieser Kurse gibt uns recht. Wir haben am Tag der offenen Tür des Kanzleramts ein Quiz gemacht und die Leute gefragt, wie viele Menschen so einen Kurs wohl schon gemacht haben mögen. Es ist doch erstaunlich, dass die meisten sich höchstens 300 000 Teilnehmer vorstellen konnten und nicht wussten, dass es schon 1,3 Millionen Menschen sind, dass die Menschen Schlange stehen, um sich für diese Kurse anzumelden, und diese Kurse gern besuchen. Deswegen war es wichtig, dass die Mittel in diesem Bereich nicht gekürzt wurden, dass wir sie also erhalten konnten.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU])

Auch die Migrationsberatungsstellen für erwachsene Zuwanderer sind im Moment sehr stark gefordert. Das möchte ich nur einmal erwähnen; denn bei ihnen stehen die Familien vor der Tür, die ganz viel Hilfe brauchen. Und wenn man sich einmal die Zahlen anschaut, dann stellt man fest, dass mehr Menschen kommen, aber nicht mehr Berater vorhanden sind. Auch darüber sollten wir noch einmal sprechen.

Es freut mich, dass wir mit der weitestgehenden Abschaffung der Optionspflicht – das möchte ich zu guter Letzt sagen – ein ganz klares Signal in Richtung Einwanderungsdeutschland gegeben haben. Frau Göring-Eckardt, ich bin vorhin ein bisschen zusammengezuckt, als Sie sagten, Deutschland sei seit 1989 ein Einwanderungsland. Natürlich ist Deutschland schon länger ein Einwanderungsland. Wir hatten immer ein bisschen Probleme damit, das zuzugeben. Aber nun ist es vollbracht, wenn man so will. Wir sind mit der weitestgehenden Abschaffung der Optionspflicht dem Ganzen ein großes Stück näher gekommen. Es ist jetzt eben nicht mehr so – wie noch in meiner Generation –, dass man hier geboren wird, groß wird und immer Ausländer bleibt und zum Beispiel nicht irgendwann einmal am Kabinettstisch sitzen kann. Das haben wir nun endlich geändert. Ich glaube, so fühlen sich die jungen Menschen auch wirklich als fester Bestandteil dieses Landes, ohne ihre Herkunft verleugnen zu müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Letzter Satz – das ist für den Haushalt wichtig –: Die Mittel, die wir für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland, für mehr Bildungsmöglichkeiten, für Austausch, für Begegnung und Beratung einsetzen – das ist manchmal in Zahlen nicht so leicht auszudrücken –, sind echte Investitionen in unsere Gesellschaft und in die Zukunft und den Frieden unseres Landes.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Kollegin Gerda Hasselfeldt hat nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3851622
Wahlperiode 18
Sitzung 50
Tagesordnungspunkt Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt
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