Gabriela HeinrichSPD - Aktuelle Stunde zur Flüchtlingskatastrophe an der türkisch-syrischen Grenze
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Rund 9 000 Flüchtlinge haben in den ersten Monaten dieses Jahres die Grenze überquert. Das Aufnahmeland muss diese Flüchtlinge versorgen, medizinisch betreuen und menschenwürdig unterbringen. Das ist unzweifelhaft eine große Herausforderung für das Aufnahmeland. Die Herausforderung ist so groß, dass gedroht wurde, die Grenze zu kontrollieren.
Gemeint war die bayerisch-österreichische Grenze, um die Einreise von weiteren Flüchtlingen zu verhindern. Es war der bayerische Ministerpräsident, der die Rückkehr zu Grenzkontrollen forderte und angesichts der Flüchtlingszahlen eine Überforderung Bayerns und Deutschlands beklagte.
Meine Damen und Herren, es liegt mir völlig fern, mich mit diesem Vergleich lustig zu machen. Mir ist sehr wohl bewusst, welche Schwierigkeiten unsere Kommunen angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen bewältigen müssen. Ich gebe aber zu, dass ich genau daran denken musste, als angesichts der Zahlen, die wir aus Syrien gehört haben, vor ein paar Tagen die Empörung über die zeitweilige Schließung der Grenzen in der Türkei hochkochte.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich auch!)
Meine Damen und Herren, Sie kennen die Zahlen. Die Kollegin Roth hat sie heute schon benannt. 130 000 Menschen sind innerhalb weniger Tage aus Syrien in die Türkei geflohen. 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge befinden sich bereits in der Türkei. 3 Millionen Syrer sind in die Nachbarländer geflohen, neben der Türkei in den Libanon, nach Jordanien, nach Ägypten und in den Irak. Nur 4 Prozent dieser syrischen Flüchtlinge haben in Europa Asyl beantragt.
Besonders schwierig ist die Situation der syrischen Frauen. Jede vierte syrische Flüchtlingsfamilie wird von einer Frau geführt. Nur wenige werden von Verwandten unterstützt. Sie sind meist völlig auf sich selbst gestellt, müssen ihre Familien irgendwie durchbringen und haben häufig keine Chance auf eine existenzsichernde Arbeit. Ohne einen begleitenden Ehemann werden sie gedemütigt und belästigt. Sexuelle Übergriffe sind an der Tagesordnung. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat deswegen zur verstärkten Unterstützung dieser Frauen aufgerufen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung macht mit der geplanten Flüchtlingskonferenz zur Hilfe der Anrainerstaaten deutlich, dass das Thema Flüchtlinge ganz oben auf der politischen Agenda steht. Die Probleme der Frauen müssen Teil dieser Konferenz werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es wurde bereits erwähnt, dass Deutschland aus humanitären Gründen 20 000 syrische Flüchtlinge aufgenommen hat. Das ist ein ganz wichtiger Beitrag. Es ist auch richtig, wenn wir mehr Solidarität innerhalb der Europäischen Union einfordern.
Europa ist mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Wir müssen uns zuallererst als Wertegemeinschaft begreifen, wenn wir eine gemeinsame Zukunft haben wollen. Dazu gehört das Recht auf Asyl in den Ländern der Europäischen Union. Aber welche Handlungen leiten wir von diesem Wert ab? Europa kann nicht von den Nachbarländern Syriens erwarten, dass sie 3 Millionen Flüchtlinge angemessen versorgen, jedoch die Aufnahme von Flüchtlingen weitgehend ablehnen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir können es auch dann nicht erwarten, wenn wir viel Geld für die humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen.
(Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])
Nehmen wir uns ein Beispiel an den Kommunen in Deutschland. Vielerorts bilden sich Unterstützerkreise, in denen sich Nachbarn und Kirchengemeinden um die Flüchtlinge kümmern, Ärzte und Krankenschwestern helfen, die Ankommenden medizinisch zu versorgen, wie in meiner Heimatstadt Nürnberg. Es gibt durchaus viele, die verstanden haben, dass über 50 Millionen Flüchtlinge auf der Welt auch unseren Teil an Solidarität einfordern, und sie erwarten dies auch von unserer Politik.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Wertegemeinschaft steht vor einer ungeheuren Herausforderung. Terrorismusbekämpfung und Massenmorde zu stoppen, ist die eine Seite, schnelle humanitäre Hilfe ist die andere. Seit 2012 hat Deutschland die Krisenregion mit über 600 Millionen Euro unterstützt. Angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme – nicht nur in die Türkei – ist der Bedarf an dieser Hilfe aber nicht weniger, sondern mehr geworden. Deswegen setzt sich die SPD in den Haushaltsberatungen für eine Aufstockung der humanitären Hilfe ein.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist nicht glaubwürdig!)
Wir haben heute gehört, dass dies in der Koalition Konsens ist.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Darauf komme ich zurück!)
Es muss uns gelingen, das Morden und Zerstören in Syrien und im Irak zu beenden. Die Weltgemeinschaft wird sich diesmal aber auch beim Wiederaufbau langfristig engagieren müssen, um die Weichen für einen nachhaltigen Frieden zu stellen. Erinnern wir uns an die Solidarität, die wir als Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren haben.
Danke schön.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour vom Bündnis 90/Die Grünen.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3909652 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 54 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde zur Flüchtlingskatastrophe an der türkisch-syrischen Grenze |