Lars CastellucciSPD - Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses zur Zuwanderung und der Regierungsentwurf, mit dem das EU-Freizügigkeitsgesetz geändert werden soll, vor. Ich möchte auch drei Punkte ansprechen, Herr Bundesminister. Zwei Punkte sehen wir ähnlich. Das ist großkoalitionär doch gar kein schlechter Schnitt.
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da klatscht niemand!)
Bei dem dritten Punkt ist es ein bisschen anders. Aber das müssen wir miteinander aushalten.
Erstens. Dieser Staatssekretärsausschuss war eine sehr sinnvolle Einrichtung.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass Sie sich nicht genieren! Elf Staatssekretäre ein halbes Jahr lang!)
Er hat einen guten Bericht vorgelegt und zur Versachlichung der Debatte beigetragen.
Zweitens. In den Großstädten, in denen sich die Probleme häufen, steht die Bundesregierung mit Hilfen an der Seite dieser Kommunen. Auch das ist eine gute Nachricht.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 20 Millionen Euro sind dabei herausgekommen! Dafür brauchten wir den Staatssekretärsausschuss?)
Drittens. Mit diesem Bericht gibt die Bundesregierung im Prinzip Entwarnung. Er enthält nämlich keinerlei Anhaltspunkte, die die Aufregung rechtfertigen würden,
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum ändern Sie denn dann das Freizügigkeitsrecht?)
die zur Einrichtung dieses Staatssekretärsausschusses geführt haben.
Ich zitiere einmal aus dem Bericht. Erstes Zitat:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
– Applaus. Danke schön.
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Bei Zitaten gibt es immer Applaus!)
Guter Bericht. – Zweites Zitat:
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Drittes Zitat:
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das hat auch der Minister gesagt!)
– Das hat auch der Minister gesagt. – Ich würde jetzt am liebsten zehn Minuten lang diese Sätze wiederholen,
(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])
weil es mich manchmal in diesem Land etwas wahnsinnig macht, dass wir wegen 5 Prozent, die vielleicht nicht optimal sind, die 95 Prozent, die eigentlich gut sind, aus den Augen verlieren, und dass damit draußen Stimmung gemacht wird.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Also: Wir profitieren von Zuwanderung. Wir heißen die Menschen willkommen, und gemeinsam bringen wir dieses Land voran. Wo es Probleme gibt, halten wir die Augen offen und finden Lösungen. Das ist unser Weg.
Zum Begriff „Versachlichung“. So sachlich, wie wir heute diskutiert haben, könnten wir die Debatte weiter führen. Wenn wir sie so sachlich führen würden, brauchten wir keine Staatssekretärsausschüsse, die zur Versachlichung beitragen müssen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)
Denn versachlichen muss man natürlich nur etwas, was vorher unsachlich war. Dabei ist „unsachlich“ noch eine freundliche Formulierung für einige der Debattenbeiträge, die uns Anfang des Jahres zu Ohren gekommen sind.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es hat ja nicht einzelner Parteien bedurft, um uns auf diese Probleme hinzuweisen. Vielmehr haben wir uns schon im Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass wir den betroffenen Städten und Gemeinden helfen müssen. Das ist eine richtige Entscheidung gewesen.
Ich will jetzt nicht dieses geflügelte Wort aussprechen; aber ich möchte ein Beispiel nennen: Missbrauch der EU-Freizügigkeit. Was damit ausweislich des Berichts gemeint ist, ist, dass Menschen zu uns kommen, dass also Zuwanderung stattfindet. Wenn aber die Menschen zu uns kommen, dann missbrauchen sie nicht die EU-Freizügigkeit, sondern machen von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist so, als würden wir jemandem, der mit 17 oder 18 Jahren die Fahrerlaubnis erhält, vorwerfen, dass er anschließend mit dem Auto fährt. Probleme bekommt er freilich, wenn er über eine rote Ampel fährt. Das ist schon richtig; das ist auch gut so. Aber gerade für einen Missbrauch oder zumindest für eine Rechtsverletzung wird mit diesem Bericht kein Datenmaterial vorgelegt.
Ich finde, das muss hier klar gesagt werden;
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
denn das ist die Realität in diesem Lande, und von den realen Gegebenheiten müssen wir ausgehen, sonst können wir keine vernünftige Politik machen. Deswegen möchte auch ich dazu aufrufen, dass wir miteinander eine Rhetorik pflegen, die die Dinge klar benennt – das ist selbstverständlich –, aber gleichzeitig deutlich macht, dass die Menschen, die hier sind, und die Menschen, die zu uns kommen, miteinander auskommen müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir werden ohnehin vielfältiger und bunter werden. Das ist nicht immer einfach.
Als ich hier in Berlin kürzlich in einem großen Wohnblock war, habe ich im Fahrstuhl eine ältere Dame mit ihrem Rollator getroffen, die mir sagte: Gott sei Dank sieht man auch einmal wieder ein deutsches Gesicht.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Im Fahrstuhl hatte ich wenig Zeit für Differenzierungen und habe mich auch nicht persönlich vorgestellt.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
Ich habe aber auch nicht den blöden Reflex gehabt, gleich zu denken, dass die Dame ausländerfeindlich ist. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht immer nur in Schubladen denken.
Ich habe mit Blick auf diese Dame folgende Geschichte vor Augen gehabt: Sie wohnt dort schon Jahrzehnte, und ihr ganzes Umfeld verändert sich. Da sind Leute weggezogen, mit denen sie lange zusammengewohnt hat. Da sind vielleicht auch Leute verstorben, mit denen sie befreundet war. Jetzt leben dort andere Menschen. Da geht es plötzlich anders zu. Es gibt andere Bräuche; es riecht vielleicht auch anders. Es ist in diesem Hause vielleicht auch zu Zeiten laut, zu denen es vorher nicht laut war. Das alles führt zu Irritationen. Die Veränderungen müssen wir erst einmal annehmen und auch gestaltend wirken. Ich frage mich, ob in diesem Haus über die Hausordnung hinaus einmal jemand darangegangen ist, die Menschen neu miteinander in Beziehung zu setzen, dafür zu werben, dass man sich neue, gemeinsame Spielregeln gibt. Vielfalt, Recht und Gesetz und Spielregeln sind keine Gegensätze, sondern gehören zusammen. Wir müssen also Vielfalt gestalten. Ich bin der Überzeugung: Wenn wir Vielfalt gut gestalten wollen, dann brauchen wir positive Zukunftsbilder.
Ich probiere das einmal. Also: Deutschland hat 60 Jahre Erfahrung mit Arbeitsmigration. Wir haben Dinge falsch gemacht. Wir haben aber auch viele Dinge gut gemacht. In jedem Fall haben wir eine Menge gelernt. Wir wissen jetzt, was gutes Zusammenleben fördert und ausmacht. Wir wissen: Sprache ist der Schlüssel. Wer würde dem in diesem Haus widersprechen?
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Widerspruch dazu gab es eine ganze Zeit lang!)
Wir wissen: Auf gute Bildung kommt es an. Gute Bildung führt dazu, dass die Menschen ihre Potenziale entwickeln und in die Gemeinschaft einbringen können. Ja, wir setzen jetzt eine Frist von sechs Monaten. Aber wir tun in diesen sechs Monaten alles, damit die Menschen in Arbeit kommen können, damit sie hier ihre Talente einbringen können; denn jedes Talent wird in einem Land gebraucht, in dem künftig weniger Menschen leben werden. Wir brauchen diese Menschen, um unseren Wohlstand zu halten. Wir sehen die Sehnsucht der Menschen, die Sehnsucht nach Aufstieg, nach einer guten Zukunft für sich selbst und ihre Kinder und vielleicht auch den Willen, denen, die zurückgeblieben sind, zu zeigen: Ja, wir haben etwas gewagt. Jetzt wollen wir auch gewinnen. – Wir machen uns diese Potenziale und diese Kraft zunutze. Aus diesen individuellen Lebenswegen erwächst ein Nutzen für Deutschland, wenn wir das so wollen.
Im Bericht heißt es: Wir heißen die Menschen willkommen. Da heißt es nicht: Wir heißen die Menschen, die willkommen sind, willkommen. Frau Jelpke, das will ich Ihnen so sagen. Wir heißen die Menschen willkommen. Es finden sich in diesem Bericht keinerlei Hinweise darauf, dass wir Unterscheidungen treffen. Es kann nämlich keine geteilte Willkommenskultur geben. Wenn wir die Willkommenskultur teilen, dann schaffen wir kein Willkommen, sondern stellen das Willkommen unter Vorbehalt. Damit schaffen wir keine Willkommenskultur, sondern neue Vorbehalte.
Natürlich kann man die Zuwanderung auch nicht einfach laufen lassen. Man muss sie steuern, man muss sie gestalten. Das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Freizügigkeit. Wir können nicht alle Probleme der Welt lösen, schon gar nicht hier.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht alles in diesem Gesetz?)
Deswegen ist mir in der aktuellen Situation, in der so viele Flüchtlinge zu uns kommen, weil sie vor Folter, Krieg und Vergewaltigung, vor Terror fliehen müssen, wichtig, dass wir die Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung erhalten. In meinem eigenen Wahlkreis gibt es Ortsteile, in denen ein Viertel der dort lebenden Menschen Flüchtlinge sind. Das ist schwierig; aber es ist auch toll, was ich dort an Hilfsbereitschaft erlebe. Ich möchte, damit wir das nicht aufs Spiel setzen, dass wir deutlich machen: Wir brauchen eine gesteuerte und vernünftige Zuwanderung. Wir können die Dinge nicht laufen lassen.
Wir wollen unterschiedliche Wege nach Deutschland offenhalten, aus humanitären Gründen, für die Sicherung des Fachkräftebedarfs usw.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben das mit Europa noch nicht so richtig verstanden, glaube ich! Das ist anders gemeint!)
Deswegen können wir es auch mittragen, dass eine Frist von sechs Monaten eingeführt wird, die für EU-Bürger gilt, die zur Arbeitssuche einreisen; sie haben in diesen sechs Monaten Zeit, Arbeit zu finden. Der Europäische Gerichtshof räumt uns die Möglichkeit einer Befristung ausdrücklich ein. Weiterhin wird der Einzelfall betrachtet; es gibt keinen Automatismus. Es ist vorgesehen, dass jemand, der sich ernsthaft um Arbeit bemüht, weiter hierbleiben kann.
Der Gesetzentwurf enthält auch manches, was sich Sozialdemokraten alleine vielleicht nicht ausdenken würden. Aber er enthält auch kluge Vorschläge.
Frau Jelpke, ich schätze Sie,
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wir haben zehn!)
und Sie haben ein großes Herz. Das meine ich ernst. Aber selbst Sie wollen doch kein Kindergeld an Kinder zahlen, die es gar nicht gibt.
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das ist so minimal, wenn es überhaupt so ist! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und inwiefern hat das jetzt mit Bulgaren und Rumänen zu tun? Das habe ich nicht verstanden!)
Deswegen ist es doch klug, wenn wir Vorkehrungen treffen, dass wir Kindergeld wirklich nur an diejenigen zahlen, die auch kindergeldberechtigt sind.
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Damit wird doch auch wieder ein Vorurteil geschürt!)
Es ist auch sinnvoll – der Bundesminister hat darauf hingewiesen –, dass wir prüfen, ob wir die Lebenshaltungskosten in den Herkunftsländern betrachten, wenn die Kinder dort leben und nicht hier bei uns. Dass man Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit bekämpft, ist auch im Interesse der Linken. Denn auch Sie wollen gemeinsam mit uns für ordentliche Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt sorgen. Deswegen sind diese Regelungen im vorliegenden Gesetzentwurf ebenfalls sinnvoll.
(Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, ich möchte mit dem schließen, was ich eingangs gesagt habe. Wir haben Probleme, die sich auf einige wenige große Kommunen beziehen. Dort müssen die Hilfen jetzt auch schnell ankommen. Aber wir profitieren von Freizügigkeit. Wir heißen die Menschen hier willkommen, und wir wissen seit der Vorlage des Berichts des Staatssekretärsausschusses, dass der größte Anteil derjenigen, die zu uns kommen, den Lebensunterhalt selbst finanzieren kann und zum Wohlstand in diesem Land beiträgt. Gute Nachrichten!
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Volker Beck.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3909743 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 54 |
Tagesordnungspunkt | Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU |