Norbert Lammert - Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich stehe ganz unter dem Eindruck des 9. Oktober 1989. Die 25-Jahr-Feiern, liebe Monika Lazar, haben uns wieder all die Ereignisse vor Augen geführt: eine Diktatur, eine ehern erscheinende Mauer, ein Regime, das nicht weichen will – alles das stürzt plötzlich zusammen.
Ich finde es ermüdend, dass wir Jahr für Jahr über die Frage reden müssen, ob das nun ein Unrechtsstaat war oder nicht. Herr Bartsch, kann man nicht einfach mal sagen – und die Zeit hier nutzen –: „Es war ein Unrechtsstaat, wir bekennen uns dazu“? Die Transformationsleistung ist deshalb so hoch zu honorieren, weil zwei völlig unterschiedliche Systeme zu transformieren waren. Das ist das Hauptthema. Ich wünschte mir, dass Sie das endlich anerkennen und dass wir dieses Kapitel schließen können.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Eine Diktatur hat einen Kitt, der sie zusammenhält: Neben Repression ist das die Angst. Die Angst ist 1989 überwunden worden. Ich möchte heute in meiner Rede drei Aspekte in den Mittelpunkt stellen, die mir wichtig erscheinen, weil sie deutlich machen, was wir aus den Ereignissen des 9. Oktober bzw. aus dem Herbst 1989 mitnehmen können.
Das Erste ist: Mut gegen Ohnmacht. Es gibt auch in einer Demokratie Ohnmacht. Bundespräsident Gauck hat gestern sehr schön gesagt: Es ist eine zum Teil selbst verschuldete Ohnmacht. – Lassen Sie uns den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder erklären, dass man in einem demokratischen System sein Schicksal, seine Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen muss. Das beginnt beim Engagement im Verein und endet damit, dass man zur Wahl geht. Es ist nicht akzeptabel, dass wir in Ostdeutschland und auch in Deutschland insgesamt eine solche Abstinenz bei Wahlen haben. Lassen Sie uns an die Bürgerinnen und Bürger appellieren: Seid nicht ohnmächtig, sondern engagiert euch!
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Zweite, das aus dem 9. Oktober resultiert, ist die Frage: Solidarität oder Abgrenzung? Wir Ostdeutsche sind ohne viele Vorbedingungen Teil der Europäischen Union geworden. Westdeutschland und die Europäische Union haben uns mit namhaften Geldbeträgen unterstützt. Das hat uns die Chance gegeben, die eigenen Ärmel aufzukrempeln, um so weit zu kommen, wie wir jetzt sind.
Interessant ist, dass die Ostdeutschen zum Teil mit verschränkten Armen und relativ herablassend auf die schauen, denen es schlechter geht. Erinnern wir uns, wie das noch vor 1989 am Balaton war, als man nicht ins Hotel kam und keinen Platz im Restaurant bekam, weil man nicht mit D-Mark zahlte. Jetzt plötzlich sind wir auf der Sonnenseite. Wir haben nicht zuletzt mit Blick auf die Vorläufer der friedlichen Revolution in der Tschechoslowakei, in Polen, in Ungarn und in der ehemaligen Sowjetunion die Verpflichtung, mit denjenigen solidarisch zu sein, denen es nicht so gut geht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Frau Bundeskanzlerin, wir brauchen einen Kurswechsel, vor allem auch einen Kurswechsel in der Mentalität; dabei meine ich dieses Von-oben-herab-Agieren, das uns oftmals zu eigen ist. Wir brauchen einen Aufbau Süd. Wir brauchen eine Solidarität, durch die wir die notwendigen Kräfte bündeln. Das muss auf Augenhöhe geschehen und nicht von oben herab. Das ist wichtig.
Das Dritte, was ich sagen möchte, ist: Wir brauchen auch eine Solidarität denjenigen gegenüber, die außerhalb Europas leben. Wir erinnern uns daran, wie es war, als die Flüchtlinge nach Westdeutschland gekommen sind. Wir brauchen eine Willkommenskultur. Das ist die zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts, die wir zu bewältigen haben.
Einerseits müssen die Disparitäten, die es außerhalb unseres Erdteils gibt, in den Blick genommen werden. In den nächsten Tagen fahre ich nach Bangladesch und Vietnam, um dort einmal mehr zu sehen: Was passiert da mit unseren Wertschöpfungsketten? Wie können wir mehr Verantwortung dafür tragen, dass der Lebensstandard auch außerhalb Deutschlands und außerhalb Europas gehoben wird?
Auf der anderen Seite haben wir uns mit der Frage zu beschäftigen, wie wir mit den Flüchtlingen umgehen, wie wir mit denjenigen umgehen, die zu uns kommen wollen, weil wir einen höheren Lebensstandard haben. Das ist die zentrale Aufgabe. Wir können die Schotten dichtmachen. Das würde eine Weile gehen. Dann würden wir uns aber verhalten wie früher der Junker, der um seine Grundstücke einen Zaun gezogen hat; und die anderen haben daran gerüttelt. Nein, wir brauchen einen Plan, wie wir mit denjenigen umgehen, denen es dreckiger geht als uns. Auch das ist eine Botschaft des 9. Oktober 1989: Wir brauchen Solidarität auch denjenigen gegenüber, die es schlechter haben als wir. Alle Kräfte müssen gebündelt werden, damit wir dieses Menschheitsproblem im 21. Jahrhundert lösen. Ansonsten wird es auch für uns schwierig werden. Wir sind verpflichtet dazu.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das sind für mich die Botschaften des 9. Oktober 1989. Lassen Sie uns mit dieser Kraft, mit diesem Stolz des 9. Oktober 1989 diese Herausforderung gemeinsam angehen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Wort erhält nun der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3967632 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 58 |
Tagesordnungspunkt | Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit |