10.10.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 58 / Tagesordnungspunkt 21

Peter SteinCDU/CSU - Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit

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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 9. Oktober 1989, also fast auf den Tag genau heute vor 25 Jahren, fand eine der denkwürdigsten Montagsdemonstrationen in der DDR statt. Daran haben gestern 200 000 Menschen in Leipzig erinnert. Wie an jedem anderen Montag zuvor fand damals in der Leipziger Nikolaikirche ein Friedensgebet statt. Dort sprachen Menschen offen über ihre Probleme, über ihre Situation in ihrer Heimat, der DDR, dort sprachen Menschen, die sich der SED-Diktatur widersetzten. Es war schon fast routinemäßig so, dass auch an diesem Montag die Plätze in der Nikolaikirche schon ab Mittag von Genossen und Kandidaten der SED besetzt waren.

Doch irgendwie war an diesem Montag vieles anders. Es lag etwas in der Luft: Ängste und Sehnsüchte waren körperlich greifbar. Der Gedanke, dass die SED das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens in Peking gutgeheißen hatte, war in den Köpfen. Gerüchte machten die Runde, Kampfgruppen standen bereit, und viele fragten sich, ob die chinesische Lösung in Leipzig zur Anwendung kommen würde.

Rund 70 000 Menschen zogen über den Leipziger Innenstadtring und zeigten Mut zur Freiheit. Für viele war es bis heute die größte Form von Opposition und Wiederstand in ihrem Leben. Erstmalig gab es das Gefühl einer selbstgeschaffenen Freiheit. Dabei blieben sie friedlich ebenso wie die Sicherheitsorgane, die offensichtlich vor dieser Menschenmenge kapitulierten. Örtliche Funktionäre und Kommandeure hatten, anders als viele in der Führung der SED, Respekt vor den Demonstrierenden. Mit Kerzen und Gebeten, mit Worten wie „Keine Gewalt!“ und „Wir sind das Volk!“ wurde die SED-Diktatur schließlich in die Knie gezwungen. Und die Welt schaute im Fernsehen zu.

Fernsehbilder gingen um die Welt und hatten Signalwirkung. Es folgten für die Menschen in den neuen Ländern Tage, Wochen und auch noch zwei Jahre der Gefühle und Veränderungen. Für die Menschen in den neuen Bundesländern änderte sich nämlich fast alles. Aber auch für den Westen änderte sich eine Welt, und zwar zum Besseren. Daher geht an dieser Stelle mein Dank an die Bundesregierung, die in der heute vorliegenden Unterrichtung die Leistungen der Menschen in den neuen und alten Ländern hervorhebt und würdigt. Denn auch für mich, der, wie viele wissen, in den alten Bundesländern geboren ist und nach Rostock ging, hat sich vieles geändert.

Die Politik in der gesamten Republik ist bunter geworden: Die Grünen hatten sich zu dem Zeitpunkt in den alten Bundesländern etabliert. Im Osten kam eine neue Kraft hinzu, die heute immer noch auf ihrem Weg in die alte Richtung weitermarschiert. Mittlerweile gibt es Koalitionen, die man sich vorher gar nicht hat vorstellen können. Die aktuellen Gespräche in Thüringen deuten an, dass möglicherweise ein weiteres Farbenspiel hinzukommt. Ich möchte an das erinnern, was gestern 200 000 Menschen in Leipzig damit auch zum Ausdruck gebracht haben. Hier nehme ich Anlehnung an die Bibel und schaue zu den Grünen, zu den Bündnis-90-Leuten:

Und der Hahn hat für mich gestern in Leipzig gekräht.

(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll das jetzt?)

Ich bin heute 46 Jahre alt und feiere in diesen Tagen mein persönliches Bergfest. Ich bin 23 Jahre in den alten Bundesländern groß geworden und jetzt seit 23 Jahren in Rostock. Wenn Sie mich fragen, als was ich mich fühle, dann antworte ich: Ich fühle mich als Deutscher, als Europäer und als Rostocker. Auf das, was die Menschen im vereinigten, freien und demokratischen Deutschland und vor allem in den vergangenen Jahren in Ost und West gemeinsam vollbracht haben, bin ich stolz. Denn ich bin ein Teil dessen. Und jeder von uns hier ist ein Teil dieses geeinten Deutschlands, weil wir hier leben und Verantwortung tragen.

Vor allem die Menschen in den neuen Ländern nutzten die Chancen, die sich mit der Wiedervereinigung ergeben haben, auch wenn sie dazu ihre Heimat verlassen mussten. Die Lebensqualität hat sich spürbar, fühlbar, riechbar angeglichen. Wie sah es für mich aus, als ich 1990/1991 nach Rostock kam und die Stadt nach der Wende kennenlernte? Es war grau, teilweise ruinenhaft. Trabbis tuckerten über marode Straßen, hinterließen einen öligen Duft. Die Luft roch süßlich und war durch den Qualm der Kohleöfen braun geräuchert. Das hat sich alles geändert. In Sachsen-Anhalt sah ich heruntergewirtschaftete Industrie und um sie herum kaputte Natur und Umwelt. Die Lebenserwartung dort lag um bis zu 20 Jahre niedriger als im Westen.

Und heute? Die Infrastruktur ist modernisiert. Die Umwelt ist weitgehend wiederhergestellt. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich mehr als verdoppelt. Die Wirtschaftskraft ist beachtlich gewachsen, nicht zuletzt auch deshalb, weil viele Menschen in den neuen Ländern ihre Chance über eine zweite und dritte Ausbildung nutzen mussten und genutzt haben. Die Abwanderung ist heute weitgehend gestoppt. Viele, die in den 90er-Jahren ihre Heimat verlassen haben und in die alten Länder gegangen sind, kehren wieder zurück. Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen erreichten im letzten Jahr bei den Zuzügen mit weit über 20 Prozent bundesweit die höchsten Zuwachsraten.

Die Haushaltslage in den Kommunen hat sich verbessert. Der Schuldenstand im Osten liegt oft merklich hinter dem vergleichbarer westdeutscher Kommunen zurück.

Auch der demografische Wandel soll uns hier kein Wasser in den Wein gießen, sondern er wird als Chance und Herausforderung begriffen. Wir leben länger, werden älter, bleiben auch länger gesund. Ich finde, das ist eine gute Sache, und wir sollten uns darüber freuen.

(Beifall der Abg. Andrea Wicklein [SPD])

Andererseits müssen wir auch die wirtschaftliche Strukturstärke und -schwäche in den Regionen zur Kenntnis nehmen. Einige wachsen weiter, andere städtische und ländliche Regionen hingegen schrumpfen. Wir brauchen nach wie vor mehr Industriearbeitsplätze und speziell in der ostdeutschen Industrie mehr Export.

Der Strukturwandel hat zunächst mit aller Wucht, forciert durch die starke Abwanderung, in den Wendezeiten die jungen Länder getroffen, war aber auch im Ruhrgebiet bereits im Gange. Mittlerweile trifft dieser Wandel Regionen im Norden, im Süden, im Osten und im Westen der Republik. Viele können mit diesem Prozess nicht aus eigener Kraft umgehen. Wir wollen und müssen hier gezielt unterstützen und helfen. Das ist eine Solidaraufgabe, die weiterhin Bestand hat. Wir wollen und müssen gemeinsam Wege finden. Das können wir. Das zeigen die vorliegenden Unterrichtungen der letzten Jahre und auch dieses Jahres.

Hohes Potenzial sehe ich besonders in der Bildungs- und Wissenschaftslandschaft in den neuen Ländern. Als Rostocker Abgeordneter fallen mir natürlich die Rostocker Universität und die beiden anderen Hochschulen in Rostock ein. In der Qualität der Forschungsergebnisse stehen sie den Ergebnissen in anderen Regionen in nichts nach. Es soll immer noch westdeutsche Studienanfänger geben, die Manschetten vor einem Studium in den neuen Ländern haben und nur mit Vorbehalten dorthin kommen. Aber da kann ich nur sagen: Schön dumm; denn die Erfahrungen in der Praxis sind: Die Universitäten und Hochschulen in Rostock, Greifswald, Jena oder Ilmenau sind nicht nur sehr modern, sondern auch die Betreuung ist klasse, und die Hörsäle sind nicht heillos überfüllt.

Die Studienbedingungen sind also sehr gut. Dann sind auch die Möglichkeiten, seine Freizeit dort zu verbringen, sehr gut, in Rostock etwa die weißen Strände. Man kann nach dem Seminar mit dem Surfbrett an den Strand gehen. Das hat durchaus seinen Wert und wird auch gern genutzt. Man kann auch mit einer Kiste Bier und der Freundin und dem Kubb-Spiel an den Stadthafen gehen und studentisches Leben erleben. Das macht eine Stadt wie Rostock und auch andere Universitätsstädte so besonders.

Wissenschaft, Möglichkeiten und Wohlstand: Diese Erkenntnis hat auch im Osten besonders getragen. Der Bund und die Länder tragen dieser Situation im Hochschulpakt 2020 Rechnung, indem sie die Kapazitätserweiterung und -sicherung der Studienplätze im Osten fördern. Damit entlasten sie zugleich die Hochschulen in den westdeutschen Ländern. Dafür stellt der Bund in den nächsten Jahren bis 2015 insgesamt 950 Millionen Euro bereit. Das ist ein sehr wesentlicher Beitrag zur weiteren Entwicklung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Zahl der Studienanfänger ist enorm gestiegen, nämlich um das Dreifache. Das Studium ist weiterhin die beste Grundlage für eine berufliche und materielle Sicherheit. Wir brauchen in Ost und West jeden jungen Menschen mit einer guten Ausbildung.

Willy Brandt hat gesagt: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Ich ergänze: Wenn ich als gebürtiger Rheinländer, aus Rostock kommend, im Münchner Hofbräuhaus bin, ein Hendl bestelle und mich eine sächsische Kellnerin fragt, ob ich es mit Mayo oder ohne haben möchte, dann, so denke ich, ist die Einheit in unseren Köpfen angekommen. Wir sind ein Volk. Wir verstehen uns.

Wenn wir es jetzt noch schaffen, die Menschen, die aus anderen Regionen der Welt zu uns gekommen sind oder noch zu uns kommen, vernünftig zu integrieren, dann werden wir auch noch in 50 Jahren gemeinsam gut zusammenleben und auf unsere Erfolgsgeschichte Deutschland mit Stolz zurückblicken können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Mit gutem Willen und in Wahrnehmung der eigenen Verantwortung klappt das. Auch ich habe mich schließlich gerne „ossimiliert“, ohne dabei meine rheinische Natur aufzugeben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Nächste Rednerin ist die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/3967822
Wahlperiode 18
Sitzung 58
Tagesordnungspunkt Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit
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