Bernd RützelSPD - Gesetzliche Tarifeinheit
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über den Antrag der Grünen, in dem sie fordern, dass keine Regelung für den Fall angestrebt werden solle, dass in einem Betrieb mehrere Tarifverträge für dieselben Arbeitsverhältnisse gelten. Stattdessen soll die jetzige Situation unverändert fortbestehen, dass nämlich diejenigen, die Schlüsselpositionen im Betrieb besetzen, ihre eigenen Interessen durchsetzen können.
Es gibt jedoch Budgetgrenzen. Oder anders ausgedrückt: Der Kuchen kann nur einmal verteilt werden. Die Durchsetzung von Partikularinteressen einer Sparte durch Streik wirkt sich, was den Verteilungsspielraum angeht, gegen alle anderen Beschäftigten im Betrieb aus. Das, lieber Kollege Klaus Ernst, entspricht dem, was Andrea Nahles gesagt hat, dass nämlich die Solidarität auf der Strecke bleibt. Schon lange Zeit vorher hat schon der Apostel Paulus sinngemäß gesagt: Starke Schultern tragen mehr.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich sage hier keinesfalls – es ist mir wichtig, das zu betonen –, dass die Tarifforderungen mancher Spartengewerkschaften überzogen sind. Das liegt mir fern. Mit Sicherheit haben sie ihre Berechtigung. Das ist Sache der Tarifpartner. Ich sage aber schon, dass ein Zug nicht nur deshalb fährt, weil ein Lokführer vorne sitzt, und dass ein Flugzeug nicht nur deshalb fliegt, weil Piloten darin sitzen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber ohne geht es auch nicht!)
– Ohne geht es auch nicht! Ohne Pilot fliegt kein Flugzeug, ohne Lokführer fährt kein Zug, und ohne Chirurg gelingt auch keine Operation. Wir brauchen aber auch die Krankenschwester, wir brauchen den Rangierer, wir brauchen den Wagenmeister, wir brauchen den Narkosearzt und die Assistentin sowie Bodenpersonal wie zum Beispiel den Flugzeugbetanker. Es geht doch um ein großes Getriebe. Es gibt viele Zahnräder bzw. Menschen, die da mitarbeiten. Alle sind wichtig: jeder in seiner Bedeutung und auf seinem Platz. Und nur, wenn alle zusammenarbeiten, funktionieren die Schweizer Uhr oder die Bahn oder das Krankenhaus oder die Luftfahrt.
(Beifall bei der SPD)
Diese innerbetrieblichen Verteilungskämpfe gefährden – darüber haben wir heute auch gesprochen – den Betriebsfrieden. Er ist gefährdet, wenn sich diese Diskussionen in die Tarifverhandlungen hineinverlagern. Kollege Karl Schiewerling hat es schön erklärt, warum uns diese Tarifeinheit über sechs Jahrzehnte hinweg in Deutschland zu Wohlstand verholfen hat. Es war ständige Rechtsprechung. Wir haben uns darauf verlassen können: die Betriebe, die Gewerkschaften, die Belegschaft – vor allem die Betriebe selbst konnten so immer weiter wachsen und daraus Wert schöpfen. Ich erinnere daran, dass bei Tarifautonomie die sogenannte Ordnungs- und Befriedungsfunktion extrem wichtig ist.
Es ist also mitnichten so, dass sich das Bundesarbeitsgericht gegen die Tarifeinheit hin zu Auflösung in Tarifpluralität entschieden hat. Es mahnte lediglich an, dass es dazu lange keine gesetzliche Grundlage gab.
Herr Kollege Rützel, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Ja, bitte.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Der hat doch gerade geredet!)
– Es ist ihm halt noch etwas eingefallen.
Es ist doch schön, wenn die Debatte ein bisschen belebter wird, sonst wird sie vielleicht ein bisschen fade. – Ich möchte folgende Frage stellen, Kollege Rützel. Auch vor der Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes gab es ja unterschiedliche Gewerkschaften. Die Rechtsprechung sah nun vor, dass der jeweils speziellere Tarifvertrag zur Geltung kam, wenn es konkurrierende Tarifverträge gab. Der jeweils speziellere Tarifvertrag – so die Interpretation – war der Tarifvertrag, der auf Betriebsebene abgeschlossen wurde. Er wurde dann dem Flächentarifvertrag immer vorgezogen. Das führte im Ergebnis dazu – ich habe das selber erlebt –, dass mit kleineren Gewerkschaften – zum Beispiel die Christliche Gewerkschaft Metall, die kaum Mitglieder hatte – ein Tarifvertrag abgeschlossen wurde und die Arbeitnehmer dann schlechter bezahlt wurden als nach dem Flächentarifvertrag. Das wurde allgemein akzeptiert. Ich habe keine Initiative der Politik gespürt, dieses Tarifdumping zu beenden. Jetzt haben wir plötzlich eine andere Situation. Die kleineren Gewerkschaften versuchen, im Niveau oft mehr zu erreichen, als eine größere Gewerkschaft – aus welchen Gründen auch immer – in der Fläche erreicht hat.
Könnte es sein, dass das Motiv, jetzt gesetzlich einzugreifen, darin begründet liegt, dass die Tarifverträge jetzt in der Tendenz nach oben gehen, während sie, als der speziellere Tarifvertrag, also der betriebsnähere Tarifvertrag galt, eher in der Tendenz nach unten gingen? Wäre es im Sinne einer gemeinsamen Gewerkschaftsbewegung nicht sinnvoller – natürlich sind gemeinsame Gewerkschaften besser als verschiedene zersplitterte –, darauf hinzuwirken, dass die einzelnen Gewerkschaften dies unter sich regeln, als eine gesetzliche Regelung zu machen?
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Lieber Klaus Ernst, Sie waren Gewerkschafter. Man ist das immer; es hört nicht auf. Auch ich bin Gewerkschafter. Es kann niemand etwas dagegen haben, dass man als Gewerkschaft, als Interessenverband so viel wie möglich für seine Mitglieder herausholt. Das ist berechtigt, das ist verdient. Die entscheidende Frage ist doch, ob ich das Ganze im Blick habe oder ob ich speziell auf manche Gruppen schiele. Ich habe das gerade an dem Bild des Betriebes erklärt. Wenn sich nur manche – ich will nicht sagen, dass es zu viel ist; um Gottes willen – etwas nehmen, bleiben andere auf der Strecke.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die können es sich auch holen!)
Ich glaube schon, dass die Politik die Aufgabe hat, hier ausgleichend zu reagieren.
Ich will eines sagen – ich fahre mit meiner Rede fort; Sie können die Uhr weiterlaufen lassen –: Die Bundesregierung lotet momentan unter Federführung der Arbeitsministerin eine entsprechende gesetzliche Regelung aus. Ich gebe zu, es ist ein sehr schmaler Grat, auf dem man sich bewegt.
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Extrem schmal! Vielleicht sogar zu schmal!)
Auf der einen Seite stehen die Festschreibung des Mehrheitsprinzips in den Betrieben – das ist vorhin angesprochen worden – und die Ordnung des Verfahrens, und auf der anderen Seite steht das Recht von Vereinigungen, die Tarifverhandlungen frei zu führen und dafür auch zu streiken.
Kollege Rützel, es gibt einen weiteren Wunsch zu einer Frage oder Bemerkung, nämlich des Kollegen Kurth.
Ja, bitte.
Vielen Dank, Herr Rützel, dass Sie die Frage zulassen. – Sie betonen das große Ganze, das Gesamtsystem Betrieb, und sagen, dass der Verteilungsspielraum begrenzt ist. Ist es aber nicht vielfach so, dass gerade die Arbeitgeberseite dieses Gesamtsystem in verschiedene Bestandteile aufspaltet, indem zum Beispiel Betriebseinheiten ausgegliedert werden? Beim Flughafen ist es beispielsweise so, dass vielfach Bodenpersonal, Gepäckabfertigungen in gesonderte Betriebe und schlechtere Tarife ausgegliedert werden. Ist es dann nicht nachvollziehbar und verständlich, dass die Belegschaften dieser ausgegliederten Betriebsteile darauf reagieren und dann zum Beispiel als Gepäckabfertiger, wie es am Frankfurter Flughafen vorgekommen ist, sagen: Dann organisieren wir uns als angegriffene Berufsgruppe – denn das sind sie – und nehmen das Recht auf Streik wahr.
Wollen Sie als Sozialdemokrat tatsächlich verantworten, dass es nicht mehr möglich sein soll, auf solch einen Angriff durch den Arbeitgeber mit einem Streik zu reagieren?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Herr Kurth, ich bin Ihnen für diese Frage sehr dankbar, weil sie die Möglichkeit eröffnet, auf diesen Punkt genauer einzugehen.
Ich gebe Ihnen absolut recht: Die Geister, die ich rief, werde ich nicht mehr los.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)
Viele Arbeitgeber hatten geglaubt, die Gewerkschaften durch Zerschlagung und durch das Entstehen vieler kleiner Gewerkschaften besser im Griff zu haben. Dann hat man irgendwann festgestellt: Auch kleine Gewerkschaften können wehtun, können stechen, können ihre Interessen durchsetzen.
Die Lufthansa ist von 40 Streiks betroffen gewesen, was sie sich selbst zuzuschreiben hat, weil es wegen der vielen Einzelbetriebe – ich freue mich, dass der Kollege Ernst zustimmt – so viele Gewerkschaften gibt. Man könnte jetzt aufzählen, wie das alles zusammenhängt; es ist ein kompliziertes System, das dafür sorgt, dass ein Flugzeug fliegt. Aber die Tarifeinheit, lieber Kollege Kurth, hat mit dem, was Sie gerade gesagt haben, nichts zu tun; denn die Tarifeinheit regelt nicht, dass für verschiedene Betriebe ein Tarifvertrag gelten muss. Die Tarifeinheit bezieht sich nur auf den Betrieb selber und nicht auf die Frage, ob outgesourct wurde und manche Aufgaben durch eine zweite, dritte, vierte oder fünfte Firma erledigt werden.
(Beifall bei der SPD)
Über diesen schmalen Grat – ich habe es Ihnen erklärt – wollen wir gehen.
Es ist mir auch noch wirklich wichtig, eines zu sagen: Wir haben schon in den ersten vier Wortmeldungen gehört, dass dieses Gesetz noch diskutiert werden muss, dass wir darüber reden müssen;
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na hoffentlich!)
denn man hat Angst, dass wir an Artikel 9 des Grundgesetzes gehen und dass die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht eingeschränkt werden sollen. Das machen wir nicht. Wir schränken das Streikrecht nicht ein. Wir ändern nicht das Grundgesetz; das liegt uns fern. Das würden auch die Gewerkschaften gar nicht mitmachen. Wir sind hier eng mit den Gewerkschaften in Kontakt. Wir werden das gesetzlich verbriefte Streikrecht nicht antasten.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann es aber auch beschränken!)
Die Sozialpartnerschaft hat uns in den letzten sechs Jahrzehnten – ich habe es erwähnt, weil es mir wichtig ist – sehr viel Planungssicherheit, aber auch Teilhabe der Beschäftigten gebracht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie beklagen in Ihrem Antrag, dass die Tarifbindung zurückgeht und Flächentarifverträge aufgeweicht werden. Genau deshalb haben wir ja – Sie gemeinsam mit uns – im Juli dieses Jahres das Tarifautonomiestärkungsgesetz auf den Weg gebracht. Ich erinnere an die Regelungen zur Allgemeinverbindlichkeit. Ich erinnere an das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Die Stärkung der Tarifautonomie wollen wir nun mit einem sehr ausgewogenen Gesetz zur Tarifeinheit fortsetzen; denn in der Krise 2008/ 2009 hat sich gezeigt, dass die kluge und schnelle Reaktion der Gewerkschaften und der Unternehmen im Rahmen der Mitbestimmung sehr schnell geholfen hat, relativ gut aus der Krise zu kommen.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann ist doch überhaupt kein Gesetz notwendig, wenn es so toll war!)
Deutschland ist danach weitaus besser neu gestartet als manch anderes Land.
Zum Schluss will ich sagen: Ich halte es für unsere Aufgabe, dieses Erfolgsmodell weiterhin zu stärken und dafür zu sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemeinsam für ihre Interessen kämpfen. Denn es heißt nicht: „Einsam bist du stark“, sondern es heißt: „Gemeinsam sind wir stark“. Insofern muss die Tarifeinheit gesetzlich geregelt werden.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Wilfried Oellers das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Katja Mast [SPD])
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3991275 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 60 |
Tagesordnungspunkt | Gesetzliche Tarifeinheit |