Karl LauterbachSPD - Pflegeversicherung
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal versuche ich, unaufgeregt darzustellen, was die Substanz dieser Reform ist.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das brauchst du nicht mehr! Das wissen wir jetzt alle!)
Denn das scheint zum Teil in Vergessenheit geraten zu sein. Diesen Eindruck kann man haben, wenn man hier zuhört. Was haben wir beschlossen? Ist es wirklich gut? Ist es nicht gut? Ist es übertrieben? Also: Wie ist die Gesamtlage einzuschätzen?
Ich fange mit dem an, was wir insgesamt für die Pflege, also für die ambulante und für die stationäre Pflege, machen. Wir geben insgesamt 2,4 Milliarden Euro mehr aus. Wir verteilen das Geld, indem wir die Leistungen dynamisieren, indem wir neue Leistungen einführen, indem wir zum Beispiel Demente, die noch nicht pflegebedürftig im klassischen Sinne sind, besser versorgen. Was spricht dagegen, dass wir bestehende Leistungen deutlich besser bezahlen und neue Leistungen, die sinnvoll sind, die gefordert werden, auf einen Schlag einführen? Was spricht dagegen, dieser Reform in diesen Belangen zuzustimmen?
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Gar nichts!)
Wir entsprechen dem Wunsch, die Betreuung in der Pflege zu verbessern. Oft kommt man nicht zur Betreuung in der Pflege, weil die Zeit fehlt. Die Menschen brauchen Betreuung. Sie brauchen jemanden, der mit ihnen spricht. Es kommt nicht allein darauf an, gut zu pflegen. Vielmehr braucht derjenige, der gepflegt wird, auch jemanden, der mit ihm spricht, der ein Spiel mit ihm macht, der einen Spaziergang mit ihm macht, der auf ihn aufpasst. All dies können nur Betreuungskräfte leisten. Wir bezahlen zusätzliche 25 000 Betreuungskräfte. Das ist die größte Aufstockung der Zahl der Betreuungskräfte seit Einführung der Pflegeversicherung. Was spricht dagegen, dieser Ausdehnung, Erweiterung der Anzahl und Besserbezahlung der Betreuungskräfte zuzustimmen? Ich halte das für eine Errungenschaft.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
In der ambulanten Pflege ist der größte Stressfaktor, wenn man pflegt – den Angehörigen ist dies zu danken; es ist wirklich zu danken, dass wir in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern so viele Angehörige haben, die bereit sind, ihre Lieben, ihre Verwandten zu pflegen –, dass man kurzfristig bei einem Ausfall nicht klarkommt. Jetzt flexibilisieren und dynamisieren wir die Tages-, die Nachtpflege, die Verhinderungspflege und die Kurzzeitpflege. Das macht das Pflegen durch Angehörige schlicht und ergreifend viel erträglicher. Das nimmt den Druck heraus. Das nimmt den Stress weg. Es verringert diesen Dauerdruck, der dazu führen kann, dass man über die Pflege der Angehörigen selbst krank oder zum Pflegefall wird.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Was spricht dagegen, den Angehörigen diesen Wunsch zu erfüllen? Der Wunsch wurde immer wieder an uns herangetragen. Jetzt machen wir es möglich. Darüber geht das halbe Plenum hier einfach hinweg. Das ist eine aus meiner Sicht wesentliche Errungenschaft, auf die die Angehörigen viel zu lange gewartet haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich glaube auch, dass die Reform sehr gerecht ist. Den Arbeitgeberverbänden, aber auch allen politischen Gruppierungen ist zu danken. Es hat kaum Kritik daran gegeben, dass die Finanzierung paritätisch erfolgt. Wenn man überlegt, wie hart derzeit um jede zusätzliche Belastung der Wirtschaft gerungen werden muss – zu Recht –, wird man einsehen: Das ist eine großartige solidarische Leistung unserer gesamten Gesellschaft. Niemand hat hier protestiert. Wir erhöhen die Ausgaben insgesamt um 6 Milliarden Euro. Die Hälfte davon wird von den Arbeitgebern gezahlt. Daher danke an alle, die dies unterstützen. Das ist ein Ausbau unseres Solidarsystems – den wir in anderen Bereichen derzeit nicht sehen –, wie wir ihn uns gewünscht haben und wie er in unseren Wahlprogrammen stand. Das ist eine gemeinsame Leistung dieser Gesellschaft, der Arbeitnehmer, Tarifparteien und Arbeitgeber. Das muss gewürdigt werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich persönlich halte auch die Einführung des Vorsorgefonds für gerecht. Selbstverständlich ist es richtig: Wenn es keine demografischen Veränderungen geben würde, dann wäre der Vorsorgefonds völlig überflüssig; das ist ganz klar. Aber wenn in 30 Jahren halb so viele junge Leute in den Beruf eintreten, wie alte Leute von da an gepflegt werden müssen, wenn sich dieses Verhältnis so verändert, dann muss man dafür Geld zurücklegen.
Natürlich kann man wie Sie von der Linken darauf setzen, dass die Produktivität dramatisch ansteigt. Ihren eigenen Beitrag dazu lasse ich einmal dahingestellt. Aber wer weiß denn,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann nutzt Ihnen das Geld auch nichts!)
ob in den alternden Gesellschaften der Welt und in Europa diese Produktivitätszuwächse überhaupt erzielt werden können? Das ist doch reine Spekulation. Man muss doch sicher sein, dass man die Pflege finanzieren kann. Was die jungen Leute heute finanzieren, das muss ihnen in Zukunft auch selbst geboten werden. Daher legen wir dieses Geld zurück.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Das ist auch kein Pflege-Bahr. Die Versicherungsindustrie ist gegen diesen Vorschlag gewesen. Das Geld wird nur angelegt, es wird damit nicht spekuliert. Nicht jede Anlage, Frau Kipping, ist automatisch Spekulation.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau!)
Wir hinterlegen das Geld bei der Bundesbank. Es gibt ganz strenge Regeln. Wir haben es eben nicht den privaten Versicherungen, nicht den privaten Anbietern zur Verfügung gestellt. Wir sind dafür kritisiert worden. Die Anlage ist eine Anlage mit Augenmaß: eine Anlage mit vertretbarer Rendite, aber sehr geringem Risiko. Das halte ich für richtig.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Herr Kollege Dr. Lauterbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann?
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die haben doch alle schon geredet!)
Ja, sehr gern.
Vielen Dank, Herr Lauterbach. – Wenn Sie selber feststellen, dass zur Umsetzung Ihres Pflegebedürftigkeitsbegriffs 1 Milliarde Euro fehlt – das ist nachzulesen in der Frankfurter Rundschau und auch in der Berliner Zeitung –, und Experten sagen: „Es wäre doch schlau, die Milliarde, die jetzt woanders fehlt, tatsächlich nicht zurückzulegen, sondern das in die Pflege zu stecken“, frage ich Sie: Wie wollen Sie denn diese Milliarde, die, wie Sie selber sagen, jetzt schon fehlt, aufholen?
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Zunächst einmal muss ich Abstand nehmen: Ich bin ganz sicher, dass ich mit dem, was Sie gerade der Frankfurter Rundschau entnommen haben, nicht zitiert werde. Oder wollen Sie unterstellen, dass das ein Zitat von mir ist?
(Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Ich habe gesagt: die SPD!)
– Sie sagen: „die SPD“. Sie müssen dann schon spezifischer werden. Sie haben gesagt, ich hätte das gesagt. Das stimmt eben nicht. Ich werde nicht zitiert; daher habe ich das auch nicht zu vertreten.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie sind nicht in der SPD?)
Aber ich weise ausdrücklich darauf hin: Diese Reform bringt die größte Ausdehnung der Mittel, die es überhaupt gab. Natürlich kann man immer mehr ausgeben; dann muss man aber auch klar sagen, woher das Geld kommen soll. Wir nehmen jetzt insgesamt 6 Milliarden Euro in die Hand und finanzieren das paritätisch. Das ist keine Kleinigkeit,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
das ist die größte Ausdehnung, die wir je gemeinsam beschlossen haben. Darauf kann man auch ein Stück weit stolz sein. Von daher stehen wir zu unserem Wort: Der Pflegefonds kommt.
Umgekehrt bedanke ich mich dafür – das war uns sehr wichtig –, dass mit dieser Reform ein Beitrag dazu geleistet wird, dass die Einrichtungen das Geld auch für die Pflege ausgeben: dass sie nach Tarif bezahlen, dass sie die Pflegekräfte einstellen. Das haben wir sichergestellt – auch da höre ich kein Wort des Lobes –, indem wir in der Wirtschaftlichkeitsprüfung die Tariftreue heranziehen und prüfen, ob das Geld auch tatsächlich in der Pflege ankommt. Auch dieser Schritt war überfällig.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist damit, dass das bei der Dynamisierung auch wieder berücksichtigt wurde?)
Somit ist das eine ausgewogene Reform, die auch die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften stärkt. Das ist ein weiterer Grund, warum die Linke zustimmen sollte. Das war schließlich – ohne dass ich jetzt eine Zeitung zitieren muss – eine Forderung, die Sie immer gestellt haben. Dafür haben wir uns eingesetzt, und das haben wir durchgesetzt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Ich komme zum Schluss. In der Summe ist die Reform aus meiner Sicht ein gelungenes, komplettes Stück. Sie bringt eine Entbürokratisierung, sie bringt eine Ausdehnung. Das ist eine gerechte Reform. Das ist eine zukunftsfeste Reform. Das ist eine Reform, die auch die Generationengerechtigkeit in den Blick nimmt. Das ist eine Reform, die den Angehörigen hilft, aber auch denjenigen, die in der Pflege arbeiten. Im Großen und Ganzen ist diese Reform aus meiner Sicht ein gelungenes Gesamtwerk. Nichts ist perfekt – es wird immer Bedarf für weitere Reformen geben; das erkennen wir an –; aber das ist ein sehr wichtiger Schritt. Aus meiner Sicht ist das ein großer Tag für die Pflegeversicherung in Deutschland.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU.
Ich darf vorbeugend noch einmal darauf hinweisen: Es ist nichts Ungewöhnliches, dass vor einer oder mehreren namentlichen Abstimmungen der Geräuschpegel etwas höher ist. Ich bitte aber dennoch, jetzt gerade auch dem letzten Redner die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3996600 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 61 |
Tagesordnungspunkt | Pflegeversicherung |