17.10.2014 | Deutscher Bundestag / 18. EP / Session 61 / Tagesordnungspunkt 25

Gabriela HeinrichSPD - Bekämpfung des Antiziganismus

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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! In zwei Wochen werden wir Mitglieder des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Duisburg und Mannheim besuchen. Grund der Reise: Wir möchten uns in beiden Städten ein Bild verschaffen, wie Sinti und Roma in Deutschland leben. Wir werden mit ihnen reden, und wir werden uns über Projekte und Initiativen informieren, die es in den Stadtvierteln gibt, in die viele Roma aus Bulgarien und Rumänien zugezogen sind.

Am 10. November wird der Menschenrechtsausschuss das Arnold-Fortuin-Haus in Berlin-Neukölln besuchen. Am 12. November wird es eine Expertenanhörung im Ausschuss geben, Thema: „Lage der Sinti und Roma in Deutschland und in der EU – Ausgrenzung und Teilhabe“.

Warum plaudere ich hier über unseren Terminkalender? Alles das findet anlässlich des thematischen Schwerpunkts „Sinti und Roma“ im Menschenrechtsausschuss statt. Wir werden uns also in der unmittelbaren Zukunft wie geplant über Sinti und Roma und über Rassismus gegen Sinti und Roma informieren. Daraus leiten wir Handlungen ab, korrigieren vielleicht den eigenen Blickwinkel und lernen bestenfalls aus Fehlern. Um ehrlich zu sein, hat es mich deshalb schon gewundert, dass der Antrag „Antiziganismus erkennen und entschlossen bekämpfen“ vor diesen Aktivitäten des Menschenrechtsausschusses auf der Tagesordnung im Deutschen Bundestag steht.

(Beifall bei der SPD)

Dagegen kann man argumentieren, dass es niemals zu früh sein kann, sich mit dieser speziellen Form von Rassismus auseinanderzusetzen. Das ist sicher richtig. Allerdings hat mich der Antrag der Grünen nicht überzeugt. Natürlich kann ich Ihnen nur zustimmen, wenn Sie sagen, dass antiziganistische Vorurteile für die Ausgrenzung vieler Sinti und Roma aus dem wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben mit ursächlich sind. Die Betonung muss hier allerdings auf dem Wörtchen „mit“ liegen.

Rassismus gegen Sinti und Roma gibt es. Das kann niemand anzweifeln. Auch existent sind schlechtere Chancen für Sinti und Roma, große Probleme bei der Wohnungssuche und wenig Wissen bei der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Tom Koenigs hat in einem Vorwort zu einem Gutachten, das sich mit diesem Themenkomplex auseinandersetzt, geschrieben, die Bekämpfung von Rassismus gegen Sinti und Roma müsse auf drei Wegen erfolgen – ich zitiere –:

Wenn wir uns einig sind, dass die Bekämpfung des latenten und manifesten Rassismus diese drei Wege beschreiten muss, dann finde ich es deutlich zu kurz gegriffen, jetzt nur einen Expertenkreis und ein universitäres Zentrum einzurichten. Die Betonung liegt auf „nur“. Die Roma-Forschung sollte an den Universitäten besser installiert werden. Ich halte das für unstrittig. Mit einem Denkmal zur Erinnerung an die Ermordeten im Dritten Reich ist es nicht getan. Die geschichtliche Forschung über Sinti und Roma und den Holocaust muss ins Blickfeld von Historikern rücken, ebenso wie die Vorurteilsforschung – allerdings nicht unter der Prämisse, nur damit den Rassismus gegen Sinti und Roma zu beseitigen.

Meine Damen und Herren, Rassismus darf in diesem Land niemals toleriert werden. Ich betone es noch einmal: Rassismus gegen Sinti und Roma, den gibt es. Aber er ist nicht allein verantwortlich für die oft problematische soziale Situation vieler Roma und auch nicht die aus ihm entstehende Diskriminierung. Sind wir nicht eigentlich weiter?

In der politischen Debatte auf Bundesebene, aber auch in Gesprächen mit den Menschen in meinem Wahlkreis höre ich immer wieder, dass wir vor allem bei den sozialen Verhältnissen, bei Integration und bei Bildung ansetzen müssen. Es mag sein, dass mehr Bildung in den Ländern Südosteuropas nicht zum gewünschten Erfolg führt. Die Arbeitslosigkeit ist viel zu hoch; Bildung und Chancen sind dort entkoppelt. Aber niemand wird ernsthaft bestreiten, dass das in Deutschland anders ist. Nur mit vernünftiger Bildung und Ausbildung eröffnen sich hier Chancen auf Integration und Teilhabe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Erinnern wir uns an den Beginn des Jahres. Wie auch schon erwähnt wurde, wurden Vorurteile und Ängste im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgarien und Rumänien geschürt. Gemeint waren Roma. Es wurden Vorurteile und Ängste vor den sogenannten Armutsflüchtlingen geschürt. Und die Empörung war groß, weil Studien den Deutschen Rassismus bescheinigten.

Aber wie helfen wir denn Menschen, die aus unvorstellbarer Armut zum Beispiel aus Bulgarien zu uns kommen? Helfen wir ihnen – ich habe immer gesagt: nur –mit einem jährlichen Antiziganismusbericht? Oder helfen wir ihnen, indem wir ihre soziale Situation verbessern? Ich meine nicht nur die soziale Situation in Deutschland, sondern auch die in den Herkunftsländern.

Denken wir an die Kommunen. Helfen wir ihnen mit Rassismusforschung? Oder helfen wir ihnen, indem wir sie in die Lage versetzen, die Situation in bestimmten Stadtteilen zu verbessern? Ich werde in Mannheim und in Duisburg genau hinhören, was der Bund für die Neckarstadt-West oder für Rheinhausen tut.

Dabei will ich die Mehrheitsgesellschaft nicht vergessen. Wie schaffen wir es denn, die Angst vor dem vermeintlich Fremden zu mindern? Schaffen wir das mit einem Lehrstuhl? Oder schaffen wir das mit Aufklärung, Menschenrechtsbildung und Begegnung? Müssen wir das Rad hier neu erfinden?

In meiner Heimatstadt Nürnberg bestätigen mir alle, die in der Menschenrechtsbildung tätig sind, dass alle Formen des Rassismus Teil der Menschenrechtsbildung sind – auch Rassismus gegen Sinti und Roma.

Wenn Sie Jugendliche fragen, welche Gruppen von Diskriminierung betroffen sind, werden auch immer Sinti und Roma genannt. Aber wir werden uns schwertun, Vorurteile abzubauen, wenn die Menschen immer wieder das Klischee sehen, das ihrem Vorurteil vermeintlich entspricht. Dass alle sozialen Probleme der Sinti und Roma – ich habe es eingangs ausgeführt – nur im Rassismus fußen, wie einige behaupten, ist zu kurz gegriffen. Nicht die Diskriminierung allein ist für die soziale Situation der Roma ursächlich. Vielmehr bedingen sich Diskriminierung, soziale Situation und Unwissenheit seitens der Mehrheitsbevölkerung gegenseitig. Wir müssen die Klischees aufbrechen, die in jeder Form von Rassismus vorkommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Europarat haben uns Maßnahmen aufgezeigt, die wir umsetzen müssen. Aus deren Vielzahl möchte ich hier nur ein einziges Thema herausgreifen: die Verbesserung der Situation der Romafrauen. Was wir auch in Deutschland schaffen müssen, ist unter anderem, folgende Forderungen umzusetzen: Die Grundrechte von Romafrauen und -kindern sicherstellen; sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel unter besonderer Berücksichtigung von Romafrauen bekämpfen; Romafrauen in die Lage versetzen, die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu übernehmen.

Diese Aufzählung kann man beliebig lange und noch sehr viel konkreter fortsetzen. Es ist nicht falsch, sich dabei wissenschaftlich und praktisch beraten zu lassen. Aber Politik für die Sinti und Roma muss über die theoretische Ebene hinaus auf europäischer Ebene, auf nationaler Ebene und auf kommunaler Ebene umgesetzt werden. Wiederum über alle Projekte hinaus müssen wir die Denkmuster in den Köpfen der Mehrheitsgesellschaft ändern und Wissen über die Minderheit fördern. Dass dieses Wissen noch Verbesserungspotenzial hat, streitet niemand ab. Das hat auch jüngst die Studie gezeigt – heute schon vielfach erwähnt –, die aufgrund der Interpretation der erhobenen Daten durchaus Unmut hervorgerufen hat.

Ich werde hier nicht diskutieren, ob man nun den Skalenwert 5 zu 6 und 7 zählen darf. Ich habe mir diese Studie genau angeschaut. Für unser Thema ist wichtig, dass viele der Befragten den Sinti und Roma unwissend und gleichgültig gegenüberstehen. Dass sie Opfer des Holocaust waren, wussten noch viele, besonders Ältere; aber 34 Prozent der Befragten nannten „fahrendes Volk“ auf die Frage, was ihnen zu Sinti und Roma einfällt. Wir sehen, das geht an der Realität völlig vorbei.

Unwissen, Gleichgültigkeit und Indifferenz der Mehrheitsgesellschaft hinsichtlich der Minderheit müssen wir angehen. Darüber hinaus muss die deutsche Politik – das sagen uns auch die Forderungen aus Brüssel und Straßburg – mehr für die Integration der Roma tun. Auch die Forderung nach Kampagnen, die den Rassismus gegen Sinti und Roma anprangern, sind völlig berechtigt.

Aber es wird auch schon einiges getan. Stellvertretend für viele wichtige Projekte möchte ich hier nur eines nennen: Das Familienministerium unterstützt das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. seit 2009. Aus diesen Mitteln wurde letztes Jahr unter anderem ein Themenflyer zu Antiziganismus aufgelegt.

Zum Schluss möchte ich noch werben: für das Bundesprogramm „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“.

(Stefan Rebmann [SPD]: Sehr gut!)

Einer der Schwerpunkte ist Rassismus gegen Sinti und Roma. Das Projekt startet am 1. Januar 2015. Derzeit können Ideengeber und Initiativen ihr Interesse für Modellprojekte beim Familienministerium einreichen. Es werden noch Projekte gesucht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Das Wort hat der Kollege Dr. Philipp Lengsfeld für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Electoral Period 18
Session 61
Agenda Item Bekämpfung des Antiziganismus
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