Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor 14 Monaten haben wir hier den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum NSU-Nazi-Mord-Desaster und zum Staatsversagen debattiert.
Mein Fazit seither: Die Fragezeichen sind nicht weniger, sondern mehr geworden. Der Aufklärungswille der Behörden verharrt weiterhin nahe null. Und: Von den beschlossenen Veränderungen ist so gut wie nichts tatsächlich schon abschließend umgesetzt. Kurzum: Das Staatsversagen geht weiter, so als wäre nichts geschehen. Das ist politisch nicht hinnehmbar, aber auch menschlich nicht.
Sie sehen, Herr Minister: Ich befinde mich im deutlichen Widerspruch zu Ihrer Aussage. Ich komme nachher noch zu Beispielen.
Gestern hat Barbara John, die Ombudsfrau für die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer des NSU, ein Buch mit dem Titel Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen vorgestellt. Darin beschreiben Angehörige der NSU-Mordopfer, was ihnen seither widerfahren ist und wie mit ihnen umgegangen wurde von Staats wegen.
Die Schilderungen sind sehr bedrückend. Ich gestehe: Beim Lesen ergriffen mich Wut und Scham. Seitdem geht mir das Wort „Opferperspektive“ nur noch schwer über die Lippen. Es ist mir zu distanziert, zu kalt, zu deutsch. Aber ich gestehe: Ich habe noch kein besseres gefunden.
Dennoch oder gerade deshalb empfehle ich dieses Buch dringend. Es geht um Menschen und um Menschlichkeit. Sie rangieren am Rand der Aufklärung und gehören endlich ins Zentrum.
Bei fast allen Betroffenen des NSU-Desasters ist das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat tief erschüttert. Wenn es doch noch einen Rest von Vertrauen gibt, hängt er an einem sehr seidenen Faden.
Sie schauen auch mit Sorge auf den NSU-Prozess in München. Als Innenpolitikerin merke ich an: Wir haben nur einen Rechtsstaat, nicht etwa drei, also nicht etwa einen für Urdeutsche, einen für Migranten und einen dritten für Asylsuchende. Es gibt zwar für alle drei Gruppen unterschiedliche Rechte, was schon bedenklich genug ist, aber spätestens wenn es um Leib und Leben geht, gilt der Rechtsstaat entweder für alle oder für keinen. Deshalb betreffen die Schilderungen in diesem Buch uns alle.
Umso mehr bringt es mich in Rage, wenn Behörden oder auch Regierungen immer noch versuchen, Untersuchungen zum NSU-Komplex zu behindern oder gar zu verhindern. Beispiele dieser Art gibt es viele – viel zu viele. Das vorerst jüngste stammte aus Brandenburg, wo sich der Verfassungsschutz weigerte, einen ehemaligen V-Mann mit NSU-Bezug vor dem Münchener Gericht befragen zu lassen. Ich finde: Wer so agiert, hat keinerlei Respekt vor den NSU-Opfern und ihren Angehörigen.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Außerdem treiben diese Hintertreiber die Bundeskanzlerin Angela Merkel damit zum Meineid, ohne dass sie etwas dagegen tun kann. Denn sie hat im Februar 2012 bedingungslose Aufklärung versprochen. Davon kann bislang keine Rede sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt im Bundestag aktuell keinen Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex. Gleichwohl ist dieser Komplex für mich nicht abgeschlossen. Ich weiß mich darin einig mit der Kollegin Eva Högl von der SPD, dem Kollegen Clemens Binninger aus der CDU, der Kollegin Mihalic von Bündnis 90/Die Grünen und natürlich vielen anderen hier im Haus.
Aber: Der Innenausschuss des Deutschen Bundestages hat dieses Jahr das Gros seiner Zeit dem NSU-Komplex gewidmet.
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Müssen!)
Das kann kein Dauerzustand sein; denn die innenpolitische Palette ist viel breiter. Deshalb haben wir jetzt gemeinsam eine Lösung gefunden, die den Innenausschuss entlastet, ohne die offenen Fragen – auch nicht die neuen – aus dem Blick zu nehmen.
Lassen Sie mich zur Illustration zwei neue Fragen andeuten. Im Frühjahr starb plötzlich ein ehemaliger V-Mann mit NSU-Bezug namens „Corelli“, ausgerechnet im Zeugenschutzprogramm und just, als seine Aussagen gefragt waren. Die Umstände sind bis heute unklar und die Darstellungen des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz dazu wenig überzeugend; ich habe mich jetzt sehr bemüht, das diplomatisch zu formulieren.
(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)
Im selben Zusammenhang wird bekannt, dass der Verfassungsschutz seit Jahren über CDs bzw. Datenträger aus der Naziszene – eben auch aus dem Hause „Corelli“ – verfügt, die Bezüge zum NSU hatten. Wurden diese lediglich leichtfertig missachtet, oder wussten die Behörden lange vor dem 4. November 2011, dem Auffliegen der NSU-Bande, mehr, als sie bislang einräumen?
Die Brisanz dieser Fragen dürfte klar sein. Deshalb wiederhole ich auch hier für die Linke: Erstens. Der NSU-Komplex und das Staatsversagen sind für uns nicht abgeschlossen; wir bleiben dran. Zweitens. Die Ämter für Verfassungsschutz sind als Geheimdienste aufzulösen, und die unsägliche V-Mann-Praxis ist sofort zu beenden.
(Beifall bei der LINKEN)
Vor wenigen Wochen hatte die Fraktion Die Linke zu einer öffentlichen Fachtagung in den Bundestag zum Thema „NSU-Komplex: Bilanz und Ausblick“ eingeladen. Es ging um Rassismus in der Gesellschaft, um Entwicklungen in der Naziszene, um Probleme in Sicherheitsbehörden, um Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus und vieles mehr. Die Tagung hat zu zwei Erkenntnissen geführt, die ich hier wiederholen möchte, obwohl sie nicht neu sind:
Erstens. Die rechtsextremen Gefahren hierzulande werden offiziell noch immer unterschätzt und heruntergespielt. Herr Minister, Sie haben das Thema bereits angesprochen: Wer die aktuellen Ausschreitungen von Hooligans und Nazis gegen Salafisten lediglich als Orgien unter Gewalttätern brandmarkt, greift zu kurz. Es geht um militanten Nationalismus und Rassismus und um den Missbrauch von Religionen.
Zweitens. Dagegen agieren Initiativen für Demokratie und Toleranz, regional und vor Ort. Ihre Förderung ist noch immer kurzatmig und unzureichend. Hier haben wir vor 14 Monaten fraktionsübergreifend Besserung gefordert. Der Entwurf des Bundeshaushaltes 2015 hingegen birgt sogar Verschlechterungen – eine schwarze Null, die sich als braunes Plus erweisen könnte.
Beides darf nicht so bleiben, weder die Unterschätzung des Rechtsextremismus noch die mangelnde Unterstützung der Initiativen dagegen. Dafür sollten wir uns über alle Fraktionen hinweg einsetzen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Clemens Binninger)
Für die Bundesregierung spricht jetzt Bundesminister Heiko Maas.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4074105 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 62 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte anlässlich der Aufdeckung der NSU-Verbrechen |