05.11.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 62 / Tagesordnungspunkt 3

Cem ÖzdemirDIE GRÜNEN - Vereinbarte Debatte anlässlich der Aufdeckung der NSU-Verbrechen

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern vor drei Jahren kamen Ermittlungsbehörden den NSU-Mördern auf die Spur – und zwar nachdem ein Bandenmitglied ihr Wohnhaus in die Luft gesprengt hatte und zwei weitere in einem Wohnwagen – mittlerweile muss man sagen: vermutlich – Selbstmord begangen haben. Zuvor konnten sie unbehelligt mehr als ein Jahrzehnt durch Deutschland ziehen und morden, Angst und Schrecken verbreiten, Familien ins Unglück stürzen.

Ich stehe mit vielen der Familien der Opfer in Kontakt. Jede geschredderte Akte, jede mit Geheimschutz begründete Aktenschwärzung und jeder verhinderte Zeuge ist ein weiterer Stich ins Herz der Opferangehörigen, immer wieder aufs Neue.

In letzter Zeit frage ich mich immer häufiger: Leistet sich eigentlich die Politik einen Nachrichtendienst und den entsprechenden Apparat, um Gefahren zu erkennen und abzuwehren, oder haben wir es hier mittlerweile mit einem gefährlichen Eigenleben der Nachrichtendienste zu tun? Ich stelle mir die Frage: Wer hat hier eigentlich gerade das Sagen: wir, die dafür vom Volk Gewählten, oder der Apparat? Ich finde, diese Frage muss sich jeder hier in diesem Hause stellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich will Ihnen eine weitere Frage der Opferangehörigen nicht vorenthalten. Es gibt sehr, sehr gute Berichte aus Thüringen. Ich war vor Ort, als der Bericht des Untersuchungsausschusses dort fraktionsübergreifend vorgestellt wurde. Es gibt einen ausgezeichneten Bericht dieses Hauses. Auch dieser wurde mit allen Fraktionen gemeinsam erstellt. Es gibt ein sehr gutes Buch von Stefan Aust und Dirk Laabs. Aber was es nicht gibt, ist, dass die Verantwortlichen irgendwo und irgendwann einmal auch zur Rechenschaft gezogen werden. Sicher, einige Behördenchefs mussten gehen. Aber was ist eigentlich mit dem Apparat selbst? Steht der Apparat vielleicht außerhalb der Gesetze, Herr de Maizière? Wo sind denn die strafrechtlichen Ermittlungen? Wo gibt es ein Disziplinarverfahren? Leute werden umgesetzt, okay. Aber reicht uns das wirklich?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kann das ein frei gewähltes Parlament zufriedenstellen?

Vielleicht wäre eine Voraussetzung dafür, dass wir auf diese Frage künftig anders antworten, dass wir endlich aufhören, von einer NSU-Zelle zu sprechen, sondern endlich darüber sprechen, was wirklich stattfand, nämlich darüber, dass wir es hier mit einem rechtsradikalen Netzwerk zu tun haben. Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört, Herr Innenminister. Ihren Worten konnte man entnehmen, dass es sich möglicherweise nicht nur um drei Täter handelt. Aber wenn stimmt, was der Innenminister hier gesagt hat, dann heißt das ja im Klartext: Da draußen laufen rechtsradikale Mörder herum. Was heißt das dann? Was folgt daraus? Drei Jahre nachdem der NSU aufgedeckt wurde, haben wir mehr Fragen als Antworten.

Ich will mit einem weiteren Mythos aufräumen. Der Verfassungsschutz war – das sage ich auch an die eigene Adresse – nicht so dumm, wie manche es dargestellt haben, und schon gar nicht faschistoid oder so etwas. Ganz offensichtlich waren die V-Männer sehr nahe dran; vielleicht war der Verfassungsschutz in Gänze deutlich näher an den Mördern dran, als wir wissen.

Eines ist jedenfalls bereits heute klar: Die These, sobald die drei Täter – von denen zwei Selbstmord begingen und die Dritte gerade in München vor Gericht steht – endlich verurteilt sind, ist der Fall gelöst, gehört ins Reich der Märchen. Damit wird man den Fall nicht aufklären, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Mit Blick auf mein eigenes Bundesland will ich sagen: Die Theorie bzw. These, dass mit der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter ein Zufallsopfer getroffen wurde und dieser Fall aufgeklärt sei, da man jetzt die drei Täter habe, darf weder den Innenminister noch den Landtag von Baden-Württemberg zufriedenstellen. Darum, glaube ich, kann ich im Namen von uns allen hier im Hause sagen: Wir begrüßen, dass es jetzt endlich auch in Baden-Württemberg einen Untersuchungsausschuss gibt. Ich freue mich schon auf die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zum Schluss will ich ein Wort des Dankes sagen, und zwar an all diejenigen, die hier im Haus immer noch die Geduld und die Kraft haben, an diesem Fall festzuhalten. Ich will aber ausdrücklich auch „NSU-Watch“ und „Tatort Theresienwiese“ danken, ohne die wir viele Erkenntnisse nicht hätten. Ich will den Medien, den Journalisten und denjenigen danken, die bei der Aufklärung große Verdienste haben und den Prozess in München nach wie vor besuchen, auch jetzt, da er nicht mehr auf Seite 1 der Zeitungen zu finden ist.

Meine Damen und Herren, es wird uns nur gelingen, das Vertrauen der Angehörigen der Opfer zurückzugewinnen, wenn wir über diesen Fall nicht nur in Sonntagsreden und wichtigen Debatten reden, sondern wenn wir das nächste Mal auch sagen können, was tatsächlich geschehen ist, wer es war und welche Konsequenzen daraus gezogen werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Clemens Binninger.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4074112
Wahlperiode 18
Sitzung 62
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte anlässlich der Aufdeckung der NSU-Verbrechen
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