05.11.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 62 / Tagesordnungspunkt 3

Clemens BinningerCDU/CSU - Vereinbarte Debatte anlässlich der Aufdeckung der NSU-Verbrechen

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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Ernsthaftigkeit der Debattenbeiträge aller vorherigen Redner hat, glaube ich, deutlich gemacht, dass dieses Parlament dem Thema, die Verbrechen des NSU möglichst umfassend aufzuklären und den Opfern, so gut es eben geht, zu Genugtuung zu verhelfen, überfraktionell ein großes Interesse beimisst – nicht erst heute, am Jahrestag, sondern, wie ich glaube, immer wieder in den letzten drei Jahren. Dafür gilt der Dank allen. Er gilt auch Ihnen, Herr Minister de Maizière, weil Sie heute, wie ich finde, sehr klar und ohne es nur einen Deut abzuschwächen, für eine Zeit Verantwortung übernommen haben, die größtenteils gar nicht in Ihrem Verantwortungsbereich liegt, und deutlich gemacht haben, dass hier schwere Fehler passiert sind.

Ich will aber auch sagen: Es gab nicht den einen Fehler, es gab nicht die eine Ursache. Fehler sind in diesem Zeitraum von 13 Jahren nahezu überall passiert: bei der Polizei, beim Verfassungsschutz, bei der Justiz – auch die Gesellschaft hat es nicht gesehen –, auch bei der Politik, in den Parlamenten. 4 der 47 Empfehlungen, die der Untersuchungsausschuss ausgesprochen hat, richten sich übrigens ganz gezielt an das Parlament. Es steht dort unter anderem sinngemäß drin: Eine wirksame parlamentarische Kontrolle der Arbeit der Nachrichtendienste auf dem Gebiet der Bekämpfung des Rechtsextremismus fand nicht statt. – Deshalb haben auch wir hier im Parlament Konsequenzen gezogen und das Parlamentarische Kontrollgremium reformiert. Wir haben den Reformprozess, der schon in der letzten Legislatur angestoßen worden ist, fortgesetzt. Wir haben eine Taskforce gebildet, wir haben wirkliche Kontrollaufträge definiert, und wir werden uns unter anderem sehr viel intensiver über das Instrument der V-Leute beugen als in der Vergangenheit.

Wenn wir in den Spiegel schauen, stellen wir fest: Wir müssen ein Weiteres tun. Als der NSU bzw. das Trio am 4. November 2011 aufflog, war sehr schnell klar: Das sind Bankräuber und – weil man die Dienstwaffen im Wohnmobil gefunden hat – die mutmaßlichen Polizistenmörder aus Heilbronn. Aber niemand – niemand in den Medien, niemand in den Parlamenten, niemand sonst irgendwo – hat in den Tagen danach den Gedanken erwogen: Könnten das auch die Täter der – so wurden sie damals ja noch genannt – Ceska-Mordserie sein? Diesen Gedanken hat niemand geäußert, weder am 5. noch am 6. noch am 7. noch am 8. November 2011. Erst als am 9. November die Ceska im Brandschutt vor dem Haus in Zwickau gefunden wurde, war eine ganz andere Dimension des Verbrechens da. Es muss uns zu denken geben, dass wir nicht einmal, als dieses Trio namentlich präsent war und mit einem Verbrechen in Verbindung gebracht wurde, die richtige Ahnung hatten. Das heißt für uns alle: Wir alle haben in den vergangenen Jahren das Phänomen des gewaltbereiten bewaffneten Rechtsextremismus unterschätzt. Wenn wir eine Lehre ziehen wollen, dann doch die, dass sich diese fatale Unterschätzung nicht wiederholen darf.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich will nicht noch einmal vertieft auf die Fehler eingehen; denn das haben wir schon an vielen Stellen gemacht.

Herr Kollege Özdemir, ich begrüße ebenfalls ausdrücklich, dass endlich auch in Baden-Württemberg ein Untersuchungsausschuss eingesetzt worden ist. Ich habe nie verstanden – Sie auch nicht; da waren wir uns vollkommen einig, obwohl wir unterschiedlichen Parteien angehören –, warum man in dem Land, in dem 52 Personen zum NSU und zum NSU-Umfeld nachweislich Kontakte gehabt haben, gesagt hat: Das Parlament muss das nicht untersuchen. Der Innenminister deckt das mit einem Bericht ab, und dann lassen wir es gut sein. – Das haben wir beide nie verstanden. Insofern ist die heutige Entscheidung eine gute und richtige Entscheidung.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Fehler sind genannt worden: Opfer wurden nochmals zu Opfern gemacht, schlechte Zusammenarbeit zwischen Polizei und Verfassungsschutz, Unterschätzung des gewaltbereiten Rechtsextremismus, schlechte Informationsweitergabe usw. Wichtig ist jetzt, dass wir uns immer wieder fragen, ob wir daraus gelernt haben.

Ich will deshalb auf ein aktuelles Thema zu sprechen kommen, Herr Minister. Ein Problem bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus war in der Vergangenheit, dass wir geglaubt haben, immer alles in Schubladen stecken zu müssen. Wir haben für alles einen Begriff und eine Organisation gesucht. Da packt man es hinein, und dann hat man es im Blick. Dass dahinter häufig Personennetzwerke stecken, geht dabei ein bisschen verloren. Deshalb werden wir uns jetzt sehr gründlich ansehen müssen: Was steckt hinter der Bewegung „Hooligans gegen Salafisten“? Ist das ein neues Instrument für Neonazis, um hier mehr Aktion zu finden? Ist das eine Vermischung der Szenen? Mischen noch andere mit? Ich empfehle uns, nicht zu früh einen Begriff dafür zu verwenden und das einer bestimmten Schublade zuzuordnen. Vielmehr sollten wir uns sehr genau ansehen, was es damit auf sich hat. Nur dann kann der Rechtsstaat richtig, treffsicher und zielgenau agieren und solche Umtriebe, die wir alle auf unseren Straßen nicht wollen, verhindern und auch für die Zukunft ausschließen.

Wir sind heute an einem bestimmten Punkt angelangt. Sie haben den Großteil Ihrer Rede darauf verwandt, Herr Kollege Özdemir. Ich will auch ein paar Sekunden darauf verwenden und aufzeigen, dass es hier einen überfraktionellen Zusammenhalt gibt. Wir sind nicht bei allem einer Meinung; es wäre unseriös, so etwas zu behaupten. Wir müssen heute aber auch sagen, dass noch nicht alle Fragen geklärt sind. Wir haben das bereits nach der Arbeit des Untersuchungsausschusses gesagt. Da hatten wir nicht genügend Zeit. Wir sagen das auch angesichts der Gerichtsverhandlung in München. Es sind noch viele Fragen offen, die auch die Opferfamilien bewegen. Diese bitten uns dringend darum, Antworten auf diese Fragen zu finden.

Wir sind dabei keine Ersatzermittler. Manchmal heißt es: Warum kümmert ihr euch jetzt schon wieder darum im Innenausschuss, im Kontrollgremium und im Parlament? Das ist doch Sache der Ermittlungsbehörden. Wir sind natürlich keine Ermittlungsbehörde und auch keine Ersatzermittler. Aber auch uns, dem Deutschen Bundestag, liegt die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land am Herzen. Außerdem ist es unsere Aufgabe, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass offene Fragen im Zusammenhang mit einer solchen Verbrechensserie geklärt werden, dass wir auf Antworten drängen, dass wir das Thema im Blick haben und mit den Instrumenten arbeiten, die wir haben, zum Bespiel den Sonderermittler im Geheimdienstgremium und die Berichterstatterrunde im Innenausschuss. Wir leisten als Deutscher Bundestag unseren Beitrag. Wir haben das in den vergangenen drei Jahren getan und werden es auch in Zukunft tun im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens aller Menschen in diesem Land. Das ist unsere Aufgabe.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nächste Rednerin ist die Kollegin Irene Mihalic für Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4074150
Wahlperiode 18
Sitzung 62
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte anlässlich der Aufdeckung der NSU-Verbrechen
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