Wolfgang BosbachCDU/CSU - Flüchtlingspolitik der Europäischen Union
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Neben dem Kampf gegen den Terror des sogenannten Islamischen Staates ist die Bewältigung der ja weltweiten Flüchtlingskrise und -problematik sicherlich die größte internationale und europäische Herausforderung sowie auch innenpolitische Herausforderung bei uns in Deutschland. Über 50 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, rund 33 Millionen sind Binnenvertriebene, an die 18 Millionen sind über Grenzen geflohen.
Was sich wenige Flugstunden von uns entfernt abspielt, ist eine wahre Tragödie. Menschen fliehen vor brutalen Diktatoren, vor brutalen Diktaturen, sie fliehen vor Hungersnot, vor Epidemien und vor dem Terror der IS-Truppen. Wir erleben gerade eine Tragödie im Grenzgebiet der Länder Syrien/Irak/Türkei. Hunderttausende campieren dort unter freiem Himmel. Der Winter steht vor der Tür. Zuerst kommt der Regen, dann kommt die Kälte, dann kommt der Schnee, dann kommt der Tod. Wir wissen von den Tragödien im Mittelmeer. Wir wissen, dass Schlepper und Schleuserbanden mit der Not vieler Menschen brutale Geschäfte machen.
Um einen Punkt in dieser Debatte gleich abzuräumen: Wenn Menschen in Not sind, wenn sie zu ertrinken drohen, dann fragen wir nicht nach der Staatsangehörigkeit, wir fragen nicht nach der Religion, wir fragen nicht nach der Rechtslage, sondern wir retten sie, wir werfen ihnen Rettungsringe zu. Dazu müssen wir vorher auch in keinem Gesetzesbuch nachlesen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Alles andere wäre im Übrigen unterlassene Hilfeleistung.
(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen wir auch so!)
Ich glaube, da gibt es einen großen Konsens über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Der Antrag der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen geht allerdings weit darüber hinaus. Im Grunde genommen ist es eine Anklageschrift gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten.
(Beifall bei der LINKEN – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)
Aber der Inhalt dieser Anklageschrift wird den Realitäten in keiner Weise gerecht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Von den 700 000 Flüchtlingen aus dem Balkan, zum Beispiel aus Bosnien-Herzegowina, hat Deutschland allein 350 000 Flüchtlinge aufgenommen. Deutschland also die Hälfte, alle anderen Länder der Welt zusammen die andere Hälfte. Wir haben über 40 Prozent der Flüchtlinge aus dem Kosovo aufgenommen. Zurzeit nimmt kein Land in der Europäischen Union mehr Flüchtlinge auf als die Bundesrepublik Deutschland. Richtig ist: Es gibt Länder, die pro Kopf der Bevölkerung mehr Flüchtlinge als Deutschland aufnehmen, darunter auch sehr kleine Staaten, zum Beispiel die Insel Malta, wo sich aber auch nur sehr kleine Zahlen ergeben. Es gibt aber auch große Länder, die sich bei der Aufnahme von Flüchtlingen – je nach Betrachtungsweise – vornehm zurückhalten oder schäbig verhalten; jeder mag das anders bewerten. Deutschland alleine wird in diesem Jahr mehr Flüchtlinge aufnehmen als Portugal, Spanien, Italien und Griechenland zusammen. In einer solchen Situation kann man ruhig einmal, wenn auch nur in einem Nebensatz, anerkennen, was Deutschland in der Vergangenheit bereits geleistet hat, was Deutschland heute leistet und auch in Zukunft leisten wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Situation in allen anderen Büros anders aussieht als bei mir. Alle Gespräche, alle Zuschriften sind angesichts der derzeitigen Lage von zwei Argumentationslinien geprägt. Die einen sagen: „Seht ihr nicht die Not der Menschen in der Welt, die Not der Menschen, die fliehen müssen? Kann ein reiches Land wie Deutschland nicht mehr tun?“, und die anderen sagen: „Seht ihr nicht, dass unsere Städte und Gemeinden an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angekommen sind? Viel mehr können wir nicht leisten.“ Für beide Haltungen gibt es übrigens gute Argumente.
Angesichts der dramatischen Situation, wie ich sie eingangs geschildert habe, ist die Frage: „Kann Deutschland nicht noch mehr tun?“, oder: „Müsste Deutschland nicht noch mehr tun?“, legitim. Es gibt im Übrigen eine enorme Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung jenen gegenüber, die tatsächlich verfolgt sind, die tatsächlich politisch Verfolgte sind, die tatsächlich vor Krieg oder Bürgerkrieg fliehen. Unser Problem ist aber doch, dass wir jedes Jahr auch sehr viele Menschen aufnehmen, die nicht politisch verfolgt sind, die nicht vor Krieg oder Bürgerkrieg fliehen, die keinen Rechtsanspruch auf einen Daueraufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Die allermeisten Menschen von denen werden das auch wissen.
Eine vernünftige Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Zu dieser Wirklichkeit gehört, dass nicht alle, aber viele Städte und Gemeinden unseres Landes an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt sind. Eine Schlagzeile von heute Morgen in einer Kölner Zeitung: „Roters will keine weiteren Flüchtlinge“. Zur Vermeidung möglicher Missverständnisse: Es handelt sich nicht um einen CDU-Oberbürgermeister oder um einen CSU-Oberbürgermeister, sondern es handelt sich um den SPD-Oberbürgermeister der Stadt Köln. Die Stadt Köln wird von einer rot-grünen Ratsmehrheit regiert. Ist Herr Roters xenophob? Ist er ausländerfeindlich?
(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat doch keiner gesagt!)
Ist er ein latenter Rassist? Nein, er hat Not. Er weiß nicht mehr, wo er die vielen Flüchtlinge unterbringen kann. Und das führt zu Spannungen. Das führt zu Spannungen in der Gesellschaft, das führt zu Spannungen vor Ort.
Wenn wir Politiker, die wir unmittelbar politische Verantwortung tragen, den Menschen draußen signalisieren, dass uns die Probleme vor Ort nicht interessieren, dass wir uns gar nicht damit beschäftigen, dass wir sie ignorieren in der Hoffnung, dass den Menschen gar nicht auffällt, dass es diese Probleme gibt, dann werden sie sich anderen politischen Kräften zuwenden, die heute – darüber sind wir froh – nicht im Deutschen Bundestag vertreten sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wir haben auch, aber nicht nur eine Verantwortung gegenüber den bedrängten Menschen in der Welt. Dieser Verantwortung wird Deutschland gerecht; wobei ich nicht sagen würde, dass man nicht noch mehr tun könnte. Mir fällt in der Politik überhaupt kein Thema ein, zu dem ich sagen könnte: Da könnte man nicht noch mehr tun.
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Aber warum machen Sie dann nicht mehr?)
Wir werden hier auch mehr tun müssen; aber wir können nicht diejenigen aufnehmen, die politisch verfolgt sind, und diejenigen, die es nicht sind, auch. Wir können nicht diejenigen aufnehmen, die vor Krieg fliehen, und diejenigen, die nicht vor Krieg fliehen, auch.
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Wer sind denn „diejenigen“?)
Deswegen ist es wichtig, dass wir die Fluchtursachen vor Ort bekämpfen, damit die Menschen sich erst gar nicht auf eine lebensgefährliche Reise begeben müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Deshalb ist es wichtig, dass wir die Schlepper- und Schleuserkriminalität bekämpfen.
Ein letzter Punkt: Europa kümmert sich sonst um alles: um Glühbirnen und neuerdings auch um die Saugkraft von Staubsaugern; sie muss europaweit einheitlich geregelt werden. Es wäre schön, wenn wir uns auch oder wenigstens darüber einig wären, dass Europa sich auch darum kümmern muss, dass wir einheitliche Mindeststandards für die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern in allen Ländern der Europäischen Union bekommen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dass humanitäre Mindeststandards eingehalten werden, ist übrigens nicht nur eine völkerrechtliche Verpflichtung; das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Das schulden wir denjenigen, die wirklich bedrängt sind, die wirklich in Not sind. Denen wird in Deutschland niemals nicht geholfen werden. Da sind wir aufnahmebereit wie kaum ein anderes Land in der Welt. Auch das könnte man im Rahmen der Beschreibung der großen Probleme, die wir haben, ruhig einmal anerkennen. Wir dürfen unser eigenes Land ruhig einmal loben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abgeordneten Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/4077916 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 63 |
Tagesordnungspunkt | Flüchtlingspolitik der Europäischen Union |