06.11.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 63 / Tagesordnungspunkt 7

Volker BeckDIE GRÜNEN - Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Castelluci, Sie haben zu vielem gesprochen, aber nicht zu dem Gesetzentwurf, um den es heute geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Lars Castellucci [SPD]: Hat mich das Ziel verlassen!)

Ich kann das in gewisser Weise verstehen: Es war Ihnen schon im Ausschuss anzumerken, dass Ihnen ziemlich unwohl ist bei diesem Gesetzesvorhaben.

Ich bin mit Ihnen von der Koalition einig: Wo Sozialbetrug stattfindet, müssen wir ihn bekämpfen. Deshalb stimme ich der Regelung, als Voraussetzung für das Kindergeld die Steueridentifikationsnummer zu verlangen, auch vollkommen zu. Niemand soll für seine Kinder doppelt Kindergeld beziehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Das ist richtig und unterstützenswert, hat mit der EU-Freizügigkeit aber überhaupt nichts zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es waren 2 400 deutsche Beamte, die doppelt Kindergeld bezogen haben. Ihr Staatssekretärsbericht weist nicht einen einzigen doppelten Kindergeldbezug von Bulgaren oder Rumänen nach.

Sie haben von Ängsten gesprochen. Schüren Sie keine Ängste! Erfinden Sie keine Ängste in der Bevölkerung! Reden Sie den Menschen nicht ein, es gäbe bei Bulgaren und Rumänen Sozialbetrug, den es in Wirklichkeit bei den deutschen Beamten gegeben hat, wie der Bundesrechnungshof festgestellt hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Lars Castellucci [SPD]: Auch sehr pauschal!)

So betreiben Sie nämlich gemeinsam mit Ihrer Kampagne „Wer betrügt, fliegt“ das Geschäft der AfD und nicht das Geschäft eines demokratischen, friedlichen und rechtsstaatlichen Europas.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Auch die Bekämpfung der Schwarzarbeit oder die bessere Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden, die Impfaktionen für Kinder aus Europa – ich finde, man könnte auch die Kinder aus Staaten der EWR impfen, wenn der Krankenversicherungsstatus nicht geklärt ist –, all das unterschreiben wir. Die Entlastung der Kommunen durch die Übernahme von 25 Millionen ist nicht genug, aber besser als nichts. Darüber gibt es keinen Streit.

Aber was Sie dann bei der EU-Freizügigkeit machen, wird durch keine Tatsache in Ihrem Staatssekretärsbericht gedeckt. Das machen Sie nur, um der CSU sagen zu können: Für eure Kampagne gab es tatsächlich einen Grund. Es gab dafür keinen Grund; das haben Sie selber aus dem Staatssekretärsbericht richtig zitiert. Es ist infam, jetzt die EU-Freizügigkeit einzuschränken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin da näher bei der Kanzlerin als bei der Koalition. Die Mitglieder dieser Koalition und die Kanzlerin sind heute Gott sei Dank kaum da.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Uli Grötsch [SPD]: Sehen Sie uns nicht?)

Die Kanzlerin hat gesagt:

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir auch nicht!)

Die Abgeordneten der Koalition, die heute da sind, werden nachher, wenn sie dem Gesetzentwurf zustimmen, sehr wohl an der Freizügigkeit rütteln.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Nein! Wir tun etwas gegen Sozialmissbrauch!)

Sie regeln Wiedereinreisesperren für EU-Freizügigkeits- Berechtigte über das vorhandene Maß hinaus, das wir heute schon haben – für Menschen, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit in Deutschland sind, haben wir diese Regelung schon –, für Fälle, bei denen das nicht zulässig ist.

Es kann schon sein, dass einmal ein EU-Bürger, nicht nur ein Deutscher, einen Fehler beim Ausfüllen eines Antrags beim Jobcenter macht. Das ist nicht okay, egal ob es vorsätzlich oder fahrlässig ist. Aber dann zu sagen, dieser Bürger dürfe nicht wieder einreisen, ist eindeutig europarechtswidrig.

(Dr. Lars Castellucci [SPD]: Das ist Quatsch! Weil es nicht drinsteht!)

Auch den Fall, dass jemand zum Beispiel vortäuscht, er habe einen 400-Euro-Job, den er gar nicht hat, um als Aufstocker sein Freizügigkeitsrecht zu untermauern und seine Sozialbezüge zu erhalten, kann man sich ausdenken und könnte es theoretisch geben. Nachgewiesen, dass das in relevanter Zahl vorkommt, haben Sie nicht.

In diesen Fällen wäre auch eine Wiedereinreisesperre rechtlich nicht zulässig.

(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Doch!)

Sie können ihn rausschmeißen. Aber wenn er zwei Jahre später – die Einreisesperre soll fünf Jahre dauern – einen Deutschen oder einen in Deutschland lebenden Ausländer heiratet oder sich verpartnern lässt, dann darf er natürlich wieder einreisen. Dass Sie das hier verbieten wollen, verstößt gegen die Richtlinie zur Freizügigkeit der Europäischen Union. Ich garantiere Ihnen: Früher oder später wird Sie der Europäische Gerichtshof darauf hinweisen, und zwar zu Recht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Es ist klar – da lag Frau Jelpke nicht ganz richtig –: Natürlich ist die Freizügigkeit zur Arbeitsaufnahme im europäischen Recht auf sechs Monate begrenzbar; darüber darf man auch reden. Jetzt steht noch eine Begrenzung von drei Monaten im Gesetz. Bloß, bislang haben wir gesagt: Es reicht aus, wenn sich die hier lebenden EU-Bürger ernsthaft um Arbeit bemühen. Sie wollen jetzt, dass dies mit „Aussicht auf Erfolg“ geschieht; auch darüber könnte man reden. Aber das soll jetzt auf einmal das Ausländeramt beurteilen. Mit welcher Expertise sollen die Mitarbeiter das denn machen? Wenn diese Menschen keine Sozialleistungen beanspruchen: Warum wollen Sie sie dann rausschmeißen? Das ist eine Begrenzung der EU-Freizügigkeit, wie wir sie politisch nicht wollen und wie wir sie auch nicht brauchen, weil die Möglichkeiten, aufenthaltsbeendende Maßnahmen einzuleiten, schon nach jetzigem Recht bestehen.

Aber bürokratisieren Sie diesen Quatsch nicht dadurch, indem Sie Ämtern Aufgaben zuweisen, die diese aus eigener Erkenntnis überhaupt nicht bewältigen können. Dabei kommen falsche Entscheidungen heraus. Das geht zulasten der Freizügigkeit. Deshalb lehnen wir diese Regelung ab.

Wir schlagen Ihnen vor: Beschließen Sie die Entlastung der Kommunen. Beschließen Sie die Regelung zum Kindergeld, und nehmen Sie den Artikel 1 mit der Beschränkung der EU-Freizügigkeit einfach wieder aus dem Gesetzentwurf heraus. Sie haben eine letzte Chance, bevor der Gesetzentwurf in den Bundesrat geht. Sie können das heute durch Zustimmung zu unserem Änderungsantrag korrigieren. Ich weiß, Herr Castellucci, im Herzen sind Sie auf jeden Fall dabei, wenn wir nachher darüber abstimmen. Ich wünschte mir, es wäre dann auch in der Realität so.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Andrea Lindholz das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Freizügigkeit ist und bleibt der zentrale Bestandteil unseres gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraumes, von dem Deutschland als Exportnation besonders profitiert: Deutschland verkauft 60 Prozent seiner Exporte zollfrei innerhalb der EU. 40 Prozent unserer Exporte gehen in den Euro-Raum; sie sind sowohl von Zöllen als auch von teuren Währungsschwankungen befreit.

Die europäische Integration fördert aber nicht nur den deutschen Außenhandel. Unsere Wirtschaft profitiert auch von den vielen qualifizierten und motivierten Migranten aus der EU. Angesichts unserer überalternden Bevölkerung und der geringen Geburtenrate kann daran auch kein Zweifel bestehen.

Von 3,1 Millionen EU-Bürgern, die letztes Jahr in Deutschland lebten, waren 146 000 arbeitslos gemeldet. Das entspricht knapp 5 Prozent aller Arbeitslosen in Deutschland. Die große Mehrheit der ausländischen EU-Bürger in Deutschland arbeitet, zahlt Steuern und Sozialabgaben und trägt zu unserem Wohlstand bei.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ihr Freizügigkeitsrecht bleibt völlig unbestritten.

Trotzdem muss man klarstellen, dass es in den EU- Verträgen kein uneingeschränktes Recht auf Freizügigkeit gibt. Wir Bundesbürger haben ein unbedingtes bzw. unbeschränktes Freizügigkeitsrecht nur innerhalb Deutschlands, aber nicht in der gesamten EU. In den EU-Verträgen heißt es wörtlich:

Diese Durchführungsvorschriften sollte unter anderem die Freizügigkeitsrichtlinie näher definieren. Ihre Vorgaben sind allerdings ungenau. Das Resultat ist, dass es auf nationaler Ebene teilweise erhebliche Rechtsunsicherheiten gibt.

Fest steht aber, dass die Mitgliedstaaten gewisse Handlungsspielräume besitzen, um die Freizügigkeit auszugestalten und zu steuern. Darauf hat auch die Kommission immer wieder hingewiesen.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie trotzdem Artikel 15! Das ist zwar ein bisschen verworren geschrieben, aber ziemlich rechtsklar!)

– Herr Kollege Beck, ich kenne die Artikel, aber ich glaube, Sie kennen sie nicht alle. – Artikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten ausdrücklich, Herr Kollege Beck,

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Maßnahmen!)

Missbrauch und Betrug im Rahmen der Freizügigkeit zu bekämpfen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)

Aus Artikel 7 der Richtlinie geht zudem hervor, dass speziell das Freizügigkeitsrecht von Personen, die nicht arbeiten, an Bedingungen geknüpft ist.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie weit reicht es?)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nutzt die Bundesregierung ihren rechtlichen Spielraum und zieht wesentliche erste Schlüsse aus dem Bericht des Staatssekretärsausschusses zur Armutsmigration.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck zu?


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4078734
Wahlperiode 18
Sitzung 63
Tagesordnungspunkt Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU
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