06.11.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 63 / Tagesordnungspunkt 10

Christian KühnDIE GRÜNEN - Flüchtlingsunterbringung

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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf der Tribüne! Ich bin froh, dass es heute bei uns in Deutschland eine andere Willkommenskultur gibt und dass sich viele Menschen mit hohem Engagement für das Wohl der Flüchtlinge, die im Augenblick zu uns kommen, einsetzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin dankbar, dass wir, anders als Anfang der 90er- Jahre, eine andere Stimmung und eine andere Debatte in Deutschland haben. Ich will ganz klar sagen: Das Boot ist nicht voll; das Boot ist niemals voll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Heute geht es um Grundrechte von Menschen, denen die Grundrechte in ihren Heimatländern versagt wurden, von Menschen, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen, die Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Zerstörung, Tod und Katastrophen am eigenen Leib erlebt haben, von Menschen, die oft traumatisiert zu uns kommen. Diese Menschen brauchen eben nicht nur einfach ein Dach über dem Kopf, sie brauchen eine menschenwürdige Unterbringung, ein soziales Umfeld, das ihnen dabei hilft, ihre Verluste und die dramatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Die Unterkunft ist ein zentraler Baustein einer menschenwürdigen Flüchtlingspolitik. Deswegen begrüßen wir es als Grüne, dass in diesem Gesetzentwurf erstmals die Flüchtlingsunterbringung als Allgemeinwohl festgeschrieben wird. Das ist ein großer Schritt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir Baupolitiker können die Fehler und Versäumnisse der Flüchtlingspolitik der letzten zehn Jahre nicht mit einer Änderung des BauGB reparieren. Wir müssen aber beim Thema Unterbringung immer die Menschenwürde der Flüchtlinge im Blick behalten.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin skeptisch, ob Gewerbegebiete die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung erfüllen. Hier müssen wir alle genau hinschauen; das hat die Anhörung im Bauausschuss ganz klar gezeigt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Unterbringung in Gewerbegebieten darf es – das ist meine Überzeugung – nur in ganz bestimmten Ausnahmefällen,

(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Was steht denn im Gesetz drin?)

nur als Notlösung und nur als reine Übergangslösung geben, also als Ultima Ratio.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade das steht eben nicht drin!)

Das steht leider nicht in dem vorliegenden Gesetzentwurf drin. Es ist nicht konditioniert. Das ist letztlich auch der Grund, warum wir uns heute enthalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Kommunen befinden sich in einer Notsituation. Ich verstehe nicht, warum man jetzt nur am BauGB Änderungen vornimmt. Frau Hendricks hat in ihrer Rede darauf hingewiesen, dass man Kommunen nun unterstützen muss, wo es geht. Ich finde, dass diese Bundesregierung die Kommunen eben nicht unterstützt, wo es geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Erstens. Organisieren Sie mit den Kommunen einen Flüchtlingsgipfel, wie wir das in Baden-Württemberg und auch in Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit den Sozialdemokraten mit großem Erfolg getan haben. Man braucht einen Flüchtlingsgipfel auch auf nationaler Ebene, um klarzumachen, dass wir heute einen Rahmen brauchen, der Flüchtlinge nicht mehr rechtlich ausgrenzt und Kommunen wirklich hilft. Greifen Sie den Kommunen bei der Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge endlich unter die Arme.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Zweitens. Sorgen Sie endlich dafür, dass die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben den Kommunen Liegenschaften für die Flüchtlinge zu fairen Bedingungen überlässt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD])

Es kann doch nicht sein, dass die BImA sich in dieser Situation – und das meine ich wirklich ernst – eine goldene Nase an der Notlage der Kommunen verdient.

(Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)

Die Kommunen werden nicht unterstützt, sondern abgezockt. Das muss beendet werden. Sie müssen die Politik der BImA dringend ändern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Drittens. Legen Sie ein Bauprogramm für eine verbesserte dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen in Wohngebieten auf. Das wäre eine schnelle Hilfe für die Kommunen; denn sie müssen die Liegenschaften jetzt anmieten oder erwerben und herrichten. Die Kommunen brauchen jetzt die Unterstützung bei den Baumitteln.

Gerade die Kommunen in Haushaltsnotlagen brauchen Unterstützung, da die Kommunalaufsicht die benötigten Kredite nicht genehmigt. Der Bund muss diesen Kommunen mit einem Bauprogramm unter die Arme greifen. Sie von der Großen Koalition sagen bei fast jeder wohnungspolitischen Debatte, dass nur Bauen, Bauen, Bauen hilft. Halten Sie sich an Ihre eigenen Worte!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sören Bartol [SPD]: Aber das hilft jetzt doch nicht! – Gegenruf des Abg. Peter Meiwald [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bauen heißt nicht nur neu Bauen!)

Zum Schluss. In der Debatte, die wir über das BauGB geführt haben, stellen wir eigentlich immer noch die falsche Frage, nämlich: Wie können wir Flüchtlinge auf Zeit unterbringen? Dabei werden 30 bis 60 Prozent der Asylsuchenden – je nachdem, welchen Experten man fragt –, die heute zu uns kommen, dauerhaft in Deutschland bleiben. Wir müssen uns deshalb endlich die Frage stellen: Wie können wir diese Menschen ab dem ersten Tag optimal integrieren und unterstützen, damit sie gut in unserer Gesellschaft ankommen, damit wir ihnen, da sie ihre alte Heimat gerade verloren haben, eine neue Heimat geben können?

(Mechthild Rawert [SPD]: Darauf haben wir schon eine Antwort gegeben!)

Diese Frage müssen wir uns als Allererstes stellen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die Sozialdemokraten spricht jetzt als Mitglied des Bundesrates Senatorin Jutta Blankau-Rosenfeldt, Senatorin für Stadtentwicklung der Freien und Hansestadt Hamburg.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Steigerung der Flüchtlingszahlen stellt die Länder und viele deutsche Städte, auch Hamburg, und Gemeinden vor große Herausforderungen. Seit 2011 steigen die Flüchtlingszahlen wieder an. Für 2015 ist mit einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen zu rechnen. Bezogen auf Hamburg bedeutet das beispielsweise: 2011 kamen circa 2 000 Flüchtlinge nach Hamburg, 2014 werden es ungefähr 5 200 Flüchtlinge sein. Hinzu kommen rund 1 000 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Insgesamt sind das geschätzt 6 200 Flüchtlingein diesem Jahr, für die wir geeignete, menschenwürdige Unterkünfte schaffen müssen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU])

Insbesondere in den Ballungsräumen in Deutschland ziehen Menschen zu. Diese Entwicklung ist völlig unabhängig davon, ob Flüchtlinge in die Städte kommen. Das spiegelt sich in einer riesigen Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum wider. Uns fehlt es in Hamburg an bezahlbarem Wohnraum.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vor dem Hintergrund wachsender Bevölkerungszahlen hat Hamburg frühzeitig und erfolgreich die Weichen für mehr Wohnungsneubau gestellt. Der soziale Wohnungsbau ist uns dabei besonders wichtig. Unser 2011 geschlossenes Bündnis für das Wohnen in Hamburg mit den wohnungswirtschaftlichen Verbänden und den Mietervereinen ist Vorbild für das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen auf Bundesebene gewesen. Wir haben mittlerweile die Baugenehmigungs- und Fertigstellungszahlen maßgeblich steigern können, um der anhaltend hohen Nachfrage gerecht zu werden. Dafür nutzen wir die knappen Flächenpotenziale, die sich in einem dichtbesiedelten Ballungsraum wie Hamburg bieten.

Wie viele andere Kommunen haben wir schnell auf den Zustrom von Flüchtlingen reagiert und nutzen jede kurzfristig verfügbare und geeignete Fläche sowie bestehende Gebäude, um dort Unterkünfte zu schaffen, die den Bedürfnissen der bei uns Schutz und Hilfe suchenden Menschen, häufig Familien mit Kindern, gerecht werden. Aber wir stoßen an Grenzen. Geeignete Grundstücke lassen sich in Ballungsräumen nicht beliebig vermehren, und es wäre falsch, den dringend notwendigen Wohnungsneubau an dieser Stelle auszubremsen. Bei allem Verständnis für die Forderung, Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen, weil die Integration so besser gelingt, was stimmt: Wohnungsbau braucht Zeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber die Menschen, die zu uns kommen, können nicht warten, bis diese Wohnungen fertig sind oder genügend Wohnungen frei werden. Sie brauchen jetzt geeignete Unterkünfte und keine Zelte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Ja! Das ist der Punkt!)

Frau Bluhm, ich möchte auf eines hinweisen: Gewerbegebiete sind keine frei schwimmenden Inseln. Es ist gegen uns ein Urteil des Verwaltungsgerichts ergangen – es ging um eine Nachbarschaftsklage –, weil wir in einem Gewerbegebiet, das direkt an ein Wohngebiet angrenzt, Flüchtlinge unterbringen wollten. Das ging nicht. Auch deswegen haben wir die Initiative ergriffen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das ist doch keine gute Begründung!)

Angesichts dieser Lage besteht ein dringender Bedarf an planungsrechtlichen Erleichterungen, um schneller und rechtssicherer als bisher Unterkünfte für Flüchtlinge schaffen zu können. Deshalb hat der Bundesrat einstimmig auf Initiative der Länder Baden-Württemberg, Bremen und Hamburg diesen Gesetzesantrag auf den Weg gebracht. Das macht einmal mehr deutlich, dass die Schaffung von menschenwürdigen Unterkünften für Flüchtlinge eine bundesweite Herausforderung darstellt, die alle Bundesländer betrifft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Auch der Bund sieht sich in der Pflicht. Ich begrüße den im Gesetzgebungsverfahren gemachten Vorschlag der Bundesregierung, den jetzt die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD als Änderungsantrag aus der Mitte des Bundestages aufgegriffen haben. Unter Berücksichtigung der inhaltlichen Ziele des Gesetzesantrags des Bundesrates können die notwendigen Erleichterungen so noch schneller auf den Weg gebracht werden, als dies im Bundesratsentwurf vorgesehen war.

Ich freue mich insoweit auch über diese Einigkeit. Der Gesetzentwurf stellt ein ausgewogenes Ergebnis dar. Er ist kein Freifahrtschein für eine wahl- und rücksichtslose Nutzung von Flächen für die Unterbringung von Flüchtlingen,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

sondern schafft die planungsrechtlichen Voraussetzungen, auf prinzipiell dafür geeigneten Flächen im Innen- und Außenbereich und in Gewerbegebieten Unterkünfte zu errichten und die Umnutzung von bestehenden Gebäuden – die Linke fordert übrigens immer die Umnutzung von Gewerberäumen und Büroflächen in Hamburg, weil wir ja bezahlbaren Wohnraum brauchen – zu erleichtern.

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist doch gut! – Ulli Nissen [SPD]: Hört! Hört!)

Es kommt dabei – auch das betone ich – auf den Einzelfall an.

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Genau!)

Jede Fläche muss daraufhin geprüft werden, ob eine Unterbringung dort möglich und sinnvoll ist. Anbindung an den Nahverkehr, Einkaufsmöglichkeiten, Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Erwachsene in der Nähe, das findet sich auch auf Flächen, die eigentlich für Gewerbe reserviert sind, insbesondere dann, wenn in der Nachbarschaft schon ein Wohngebiet vorhanden ist. Das wollen wir nutzen können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Städte und Gemeinden setzen darauf, dass diese Änderungen im Baugesetzbuch schnell wirksam werden. Die Sachverständigenanhörung im zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, in der auch ein Vertreter meiner Behörde angehört worden ist, hat den Bedarf der Kommunen an planungsrechtlichen Erleichterungen noch einmal deutlich gemacht. Ich bin mir sicher, dass dieses Vorhaben auch hier im Deutschen Bundestag eine deutliche Mehrheit finden wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU die Kollegin Dr. Anja Weisgerber.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4078962
Wahlperiode 18
Sitzung 63
Tagesordnungspunkt Flüchtlingsunterbringung
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