07.11.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 64 / Tagesordnungspunkt 29

Iris GleickeSPD - Vereinbarte Debatte Friedliche Revolution – 25 Jahre nach Mauerfall

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort auf die Frage, warum es die Mauer gegeben hat, ist ganz einfach und unglaublich schwer. Man muss die Antwort darauf aus meiner Sicht immer damit beginnen, dass die Mauer ein Monstrum gewesen ist, ein monströses Bauwerk und eine furchtbare Grenze. An dieser Grenze sind Deutsche von Deutschen ums Leben gebracht worden, weil sie ein anderes und besseres, weil sie ein freies Leben wollten. Wer das Leben in der Diktatur nicht mehr ertrug und versuchte, die Mauer zu überwinden, der riskierte sein Leben oder zumindest schwere und schwerste Verletzungen und Jahre im Knast. Wir gedenken der Toten; wir gedenken der Opfer, und wir fühlen mit ihren Angehörigen.

An dieser Mauer sind Menschen gestorben, und an dieser Mauer sind unzählige Träume zerschellt. Wie auch immer diejenigen ihr Tun zu rechtfertigen versuchten, die die Mauer errichten ließen – was blieb, war ein Albtraum für ein ganzes Volk. Man kann die Mauer in ihren historischen Kontext einordnen; aber man kann sie nicht rechtfertigen. Das ist das, worauf es ankommt.

(Beifall im ganzen Hause)

Es gab und es gibt keine Rechtfertigung für den Schießbefehl und für den Versuch, die eigene Bevölkerung zur Geisel zu nehmen. Die Mauer war weitaus mehr als der bloße Ausdruck von Willkür einer politischen Clique, die rücksichtslos ihr Herrschaftsgebiet sichern wollte und bereit war, dafür über Leichen zu gehen. Sie war das zu Stein gewordene Symbol der Teilung Deutschlands, Europas und der Welt. Sie war der weithin sichtbare Ausdruck des Kalten Krieges. Die Mauer – wir dürfen das niemals vergessen – war ebenso wie die DDR-Diktatur in letzter Konsequenz eine Folge des verbrecherischen Zweiten Weltkriegs, den Deutschland angezettelt hatte und der in der ebenso verdienten wie totalen Niederlage endete. Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg. Dieser Konsens muss fortbestehen. Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren, vergessen wir bitte auch nicht, dass die Deutschen in Ost und West in sehr unterschiedlicher Weise für den Zweiten Weltkrieg bezahlt haben: Für die Westdeutschen gab es die repräsentative Demokratie, den Marshallplan und die soziale Marktwirtschaft. Für die Ostdeutschen gab es die Diktatur, den Abbau ganzer Industrieanlagen und eine zum Scheitern verurteilte Planwirtschaft. Und es gab eine fast unüberwindliche Grenze.

Die Teilung unseres Landes hat über 40 Jahre lang gedauert. Es erstaunt mich immer wieder, dass es heute Leute gibt, die offenbar ernsthaft glauben, dass sich diese Teilung mit all ihren Folgen innerhalb von nur 25 Jahren vollständig überwinden ließe. Das ist, mit Verlaub, eine lächerliche Vorstellung. Wir haben unglaublich viel erreicht in den letzten 25 Jahren, um die Folgen der Teilung zu beseitigen, und den Rest schaffen wir auch noch.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Aber es ist noch ein ganzes Stück Weg zu gehen. Ich wünsche mir so sehr, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen, im Miteinander und ohne die groteske Erbsenzählerei, mit der manche die Kosten der Einheit bis hinters Komma berechnen wollen.

Manchmal sehne ich mich zurück nach dieser Zeit im November des Jahres 1989, als die Deutschen sich in den Armen gelegen haben. Ich erinnere mich – –

(Die Rednerin hält inne – Beifall im ganzen Hause)

Ich erinnere mich an die Tränen in den Augen und an diese unbändige Freude und Erleichterung. Und dann frage ich mich: Was ist uns heute eigentlich davon geblieben? – Vielleicht geben uns die kommenden Tage etwas von diesem Gefühl zurück. Ich würde es uns allen wünschen.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich wünsche uns schöne und fröhliche Feiern. Ich wünsche uns, dass das Gedenken nicht irgendwann zum Ritual erstarrt und dass der Ausdruck von innerer Betroffenheit nicht irgendwann zur Maske wird.

Meine Damen und Herren, es gibt in der Geschichte keine Zwangsläufigkeit und keine Gewissheit; aber es gibt immer die Hoffnung auf die Vernunft und darauf, dass sie sich durchsetzt. Man kann das nicht besser sagen als mit den Worten Willy Brandts, der 1964 hier in Berlin erklärte, die Mauer stehe gegen den Strom der Geschichte und gegen das Gebot der Menschlichkeit.

(Beifall im ganzen Hause)

Willy Brandt hat seinen Teil dazu beigetragen, dass sich die Vernunft durchsetzen konnte und dass sich seine Hoffnungen erfüllten. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind stolz darauf.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die Mauer wurde fortgespült vom Strom der Geschichte. Sie hatte keinen Bestand. Sie wurde niedergerissen von den Ostdeutschen, die sich ihre Freiheit selbst erkämpft haben mit einer Revolution, bei der kein einziger Schuss gefallen ist und die wir deshalb voller Stolz als „unsere friedliche Revolution“ bezeichnen dürfen.

Die Mauer ist gefallen; dieser Traum ist wahr geworden. Andere Träume, die wir damals in diesen Tagen der Hoffnung hatten, haben sich bislang noch nicht erfüllt. Was ist eigentlich aus der Sehnsucht danach geworden, dass aus den Schwertern Pflugscharen werden? Und was ist eigentlich aus Michail Gorbatschows Vision vom gemeinsamen Haus Europa geworden?

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sind ein Volk. Es ist an uns, all unseren Nachbarn zu beweisen, dass wir diese Träume nicht aufgegeben haben, niemals aufgeben werden und dass wir unverdrossen auf die Kraft der Vernunft sowie auf eine bessere Zukunft vertrauen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall im ganzen Hause)

Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4080387
Wahlperiode 18
Sitzung 64
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte Friedliche Revolution – 25 Jahre nach Mauerfall
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