07.11.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 64 / Tagesordnungspunkt 29

Katrin Göring-EckardtDIE GRÜNEN - Vereinbarte Debatte Friedliche Revolution – 25 Jahre nach Mauerfall

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 25 Jahre, das ist mehr als ein Jubiläum. Das ist eine Generation. 20 Millionen Deutsche wurden nach 1989 geboren, 22 Millionen Menschen sind neu zu uns gekommen und 17 Millionen Menschen haben unser Land verlassen. Deutschland ist heute ein anderes Land; aber das Vergangene ist nicht vorbei. Die gespannte Atmosphäre der Friedensgebete, der Geschmack der ersten erkämpften Freiheit auf den Straßen von Plauen, Dresden, Leipzig, Arnstadt, auf dem Alexanderplatz, die Freude am Mitgestalten an den Runden Tischen im ganzen Land, die Selbstemanzipation eines Volkes – das begleitet uns bis heute.

Wo bist du gewesen, damals, am 9. November? Auch diese Frage begleitet uns. Ich saß am Fernseher. Mein ältester Sohn ist nur ein paar Wochen älter als der Einsturz der Mauer. Dass er heute einer Tageszeitung sagen kann, dass bei uns am Küchentisch immer über Politik gesprochen wurde, das ist großartig. „ Meine Kinder“, sagt er – inzwischen hat er drei –, „sollen einmal politische Menschen werden.“ Das Mitgestalten und die Selbstemanzipation tragen sich fort.

Mauerstücke aus dem Eisernen Vorhang wurden immer wieder herausgebrochen, nicht nur 1953, 1956, 1968, 1980. 1956 standen neben den Ungarn auch Studierende in Rumänien auf. 1962 wurden 24 protestierende Arbeiter in der Sowjetunion massakriert. Diese Revolution trägt die Namen von Vaclav Havel, von Andrej Sacharow und Jelena Bonner, von Herta Müller und Lech Walesa, von Marianne Birthler und Bärbel Bohley, und – als evangelische Christin sage ich das – sie trägt auch den Namen von Johannes Paul II. Diese Revolution war nicht schwarz-rot-gold; sie war der Beginn eines gemeinsamen, eines wahren, eines wirklichen Europa.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Die Revolution war nicht zuerst erfolgreich wegen der Diplomaten und Staatschefs, sondern weil die DDR-Diktatur mit allem gerechnet hat, nur nicht mit Kerzen. Die DDR war auch nicht nur wirtschaftlich pleite, sie war politisch, moralisch und ökologisch bankrott,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

und natürlich war die DDR ein Unrechtsstaat. Alle, die versuchen, darum herumzulavieren, müssen sich anschauen, was war: Ein Staat ohne demokratische Selbstbestimmung, ohne Transparenz der öffentlichen Meinung, ohne unabhängige Justiz ist erst einmal, ganz banal, eine Diktatur, kein zweiter Nationalsozialismus, auch kein Stalinismus wie in der Sowjetunion der Gulags. Aber nur, weil die DDR versucht hat, sich den Mantel der Rechtsförmigkeit umzulegen, wird sie eben nicht zum Rechtsstaat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wer einen Ausreiseantrag gestellt hatte, verlor seinen Arbeitsplatz trotz Arbeitsgesetzbuch, und wem eine feindlich-negative Grundhaltung unterstellt wurde, wurden möglicherweise seine Kinder weggenommen, trotz Familiengesetzbuch. Der Zorn der SED traf nicht nur die Oppositionellen; er traf deren Töchter, Söhne oder gar Freunde.

In der DDR verliefen Alltag und Willkür parallel; da kann man sich noch so sehr winden. Deshalb muss heute klipp und klar gesagt werden: Es geht nicht darum, Biografien von früher zu be- oder entwerten. Ulrike Poppe hat zu Recht gesagt: Die DDR, das waren wir alle. Es war richtiges Leben im falschen, aber daneben war es eben auch das Grundfalsche.

Ich habe meinen Vater – er war Tanzlehrer, einer der wenigen selbstständigen Berufe in der DDR – mehrfach zum Vortanzen in einen Jugendwerkhof begleitet. Da saßen Jugendliche im Knast, bis aufs Gröbste ihrer Würde beraubt, manchmal für Diebstahl, aber oft genug einfach nur für ein falsches Wort. Ich kann die zittrigen Hände des 16-Jährigen nicht vergessen, der mir seinen Namen nicht sagen durfte, der nur sagen konnte: Ich hab doch nichts gemacht, nur einen Witz, einen Witz über die Mauer. Um dessen Biografie geht es, mindestens ebenso wie um die Biografie des Zerspaners, den sie in Westdeutschland Dreher nennen, der plötzlich irgendwie zum Staatsfeind wurde, ohne genau zu wissen, warum. Es geht auch um die Biografie der Chemikerin, die im Wissenschaftsbetrieb war und einfach versucht hat, nicht anzuecken.

Biografien haben wir alle; aber unsere besondere Aufmerksamkeit und die Aufarbeitung dessen, was war, müssen zu allererst denen gelten, die gelitten haben und manchmal bis heute unter dem leiden, was ihnen angetan worden ist, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich will dies in alle Richtungen sagen, weil ich fest davon überzeugt bin, dass Aufarbeitung der Geschichte nur dann geht, wenn man sich das je Eigene anschaut. Das gilt für Sie von der Union ganz genauso mit den Blockparteien der DDR wie für die Linke. Einen Unterschied gibt es allerdings, nämlich den, dass in der Union heute niemand bestreiten würde, dass die DDR ein Unrechtsstaat war.

Aber wenn wir Schuldeingeständnis und Versöhnung wollen, dann müssen wir heute auch den Jungen sagen können: Haben wir tatsächlich angeschaut, was gewesen ist, sind wir damit tatsächlich umgegangen, oder haben wir geschwiegen oder es ignoriert? 25 Jahre danach ist es Zeit, auch das Schweigen über die eigene Geschichte und den eigenen Umgang mit ihr zu brechen.

Meine Damen und Herren, heißt eigentlich von Ossis lernen Siegen lernen? 2015 werden mit dem Bundespräsidenten, dem Präsidenten des Bundesrates und der Bundeskanzlerin vermutlich drei der fünf höchsten Staatsämter des Landes von Menschen besetzt sein, die ihre Biografie in der DDR begonnen haben. 25 Jahre haben viele Biografien, aber auch das Land und die Landschaften verändert.

1986, nach dem Super-GAU in Tschernobyl, begann es mit den Umweltbibliotheken, 1989 stand das Land vor dem ökologischen Zusammenbruch. Nein, das, was wir heute erleben, das sind nicht die verspätet blühenden Landschaften. Aber dass Ostdeutschland heute eine Vorreiterrolle bei den erneuerbaren Energien einnimmt, das ist nach Braunkohlegestank und vergifteten Flüssen schon erstaunlich.

Nach 1989 gab es aber auch Verwerfungen. Es gab Menetekel wie Lichtenhagen oder Hoyerswerda, es wurden Fehler gemacht. Es gab viele und vielleicht für manche zu viele Versprechungen, die nicht einlösbar waren; auch wurden Menschen allein gelassen. Dennoch hat sich das zentrale Versprechen der friedlichen Revolution erfüllt, nämlich die Freiheit, die keine hohle Phrase ist. Es kann schon sein, dass jemand doof findet, was das Staatsoberhaupt sagt. Aber hier kommt man dafür nicht in den Knast, sondern man kriegt seine Zeit in der Tagesschau.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Freiheit, das ist das großartigste und wunderbarste Geschenk, das wir bekommen haben. Es ist doch nicht erstaunlich, dass Leute aus Krieg, Verfolgung, Unfreiheit und Vertreibung hierherkommen und diese Freiheit mit uns teilen wollen. Freiheit gehört zu den Dingen, die größer und mehr werden, wenn man sie teilt. 25 Jahre danach können wir sie jeden Tag erleben, und vor 25 Jahren hätte ich jede Wette gemacht, dass ich niemals hier stehen würde.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Der letzte Redner in dieser vereinbarten Debatte ist der Kollege Arnold Vaatz.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4080402
Wahlperiode 18
Sitzung 64
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte Friedliche Revolution – 25 Jahre nach Mauerfall
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