13.11.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 66 / Tagesordnungspunkt 4

Katja MastSPD - Langzeitarbeitslosigkeit

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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Lieber Matthias Birkwald, wenn eine Partei zurzeit mit dem Stempel „Wir tun etwas für Ältere“ unterwegs ist, dann ist das die SPD,

(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ach so!)

und zwar deshalb, weil wir die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren beschlossen haben, Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente vorgenommen haben, den Rehadeckel gelupft haben und vieles Weitere. Insofern würde eine ein bisschen differenzierte Argumentation im Plenum uns allen guttun.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Die Mütterrente haben wir gemacht!)

Wenn ich auf die Debatte eingehen darf, die wir hier gerade führen: Es geht um die Vermittlung von langzeitarbeitslosen Menschen in Arbeit und dort, wo das nicht geht, darum, dass wir ihnen eine Aufgabe in unserer Gesellschaft geben, also soziale Teilhabe organisieren. Da will ich an erster Stelle mit ein paar Vorurteilen aufräumen, die hier geäußert worden sind aber so einfach nicht stimmen. Natürlich nimmt diese Bundesregierung für Langzeitarbeitslose zusätzliches Geld in die Hand. Es sind wir, die bei den Leistungen im Eingliederungstitel die Trendwende bei der Pro-Kopf-Summe hinbekommen haben: 2012 waren wir noch bei 1 792 Euro, 2014 sind wir bei 1 975 Euro.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wir in den letzten Jahren immer gemeinsam kritisiert haben!)

Wenn dazwischen nicht ein paar Euro liegen, dann habe ich in Baden-Württemberg auf dem Wirtschaftsgymnasium keine Mathematik gelernt!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es gibt hier einen Unterschied von knapp 200 Euro. Wenn unsere Bundesarbeitsministerin – und ich bin so verdammt stolz, dass Andrea Nahles das macht – sagt, dass Maßnahmen für Langzeitarbeitslose bei ihr Chefsache sind und nicht nebensächlich, wenn sie sich nicht zufriedengibt mit den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag, in dem nur auf ein ESF-Programm verwiesen wird, wenn ihr das zu wenig ist, wenn sie mehr machen will und dem Kollegen Finanzminister für 1 000 Stellen zusätzlich Geld aus dem Kreuz leiern will, dann verstehe ich nicht, wie Sie sich hier hinstellen und behaupten können, dafür gebe es kein zusätzliches Geld. Frau Pothmer, das ist keine Frage der Mathematik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keinen zusätzlichen Cent!)

Wir erhöhen nicht nur die Mittel für den Eingliederungstitel und stellen zusätzliches Geld für 1 000 Stellen bereit, wir geben auch zu, dass wir uns mit unserem Koalitionspartner beim Passiv-Aktiv-Tausch noch nicht einig sind, und geben uns damit nicht zufrieden.

(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Sie haben ihn ja gar nicht vorgeschlagen!)

Lieber Kollege Zimmer, ich reiche Ihnen gerne die Hand stellvertretend für die ganze SPD-Fraktion, wenn es darum geht, ein Modellprojekt zum Passiv-Aktiv- Tausch zu machen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich glaube, dass die CDU/CSU in ihrer Fraktion Mehrheiten dafür suchen muss und nicht in der Bundestagsfraktion der SPD.

(Beifall bei der SPD)

Wir stehen zu dem Antrag, den wir in der letzten Legislatur gemacht haben. Ich darf an dieser Stelle auch sagen: Ich bin stolz darauf, dass Katrin Altpeter, die SPD-Sozialministerin in Baden-Württemberg, dem einzigen Bundesland in Deutschland, das grün-rot-regiert ist, den einzigen Modellversuch zum Passiv-Aktiv- Tausch macht,

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Nordrhein-Westfalen auch!)

– den einzigen und damit auch ersten flächendeckenden Modellversuch, der nicht nur Einzelne betrifft, sondern bei dem über 500 Menschen gefördert werden.

(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Mathematik war gut! Aber Gemeinschaftskunde?)

Deshalb will ich schon sagen: Ich habe das Gefühl, dass es mehr daran hapert, dass der Finanzminister für den Passiv-Aktiv-Tausch keine dauerhafte Finanzzusage machen will; denn der politische Wille ist im Bundesarbeitsministerium auf jeden Fall vorhanden, lieber Kollege.

(Beifall bei der SPD)

Frau Kollegin, den Kollegen Zimmer drängt es zu einer Zwischenfrage oder -bemerkung – wenn Sie die zulassen.

Das mache ich gerne.

Bitte schön, Kollege Zimmer.

Ganz herzlichen Dank, Frau Kollegin Mast. Es freut mich natürlich immer sehr, wenn sich die SPD so staatstragend äußert, wie Sie das heute tun.

(Heiterkeit – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das war lange nicht der Fall!)

Aber darf ich in diesem Zusammenhang noch einmal fragen, ob ich richtig informiert bin – oder richtig gelesen habe –, dass in dem Eckpunktepapier, das die Ministerin vorgelegt hat, der Passiv-Aktiv-Tausch mit keinem Wort erwähnt wird?

(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Warum wohl?)

Lieber Kollege – Sie müssen stehen bleiben, wenn ich Ihnen antworten soll –,

(Heiterkeit)

es ist richtig, dass da nichts drinsteht; aber Frau Nahles äußert sich in solchen Papieren ja auch nicht als Individuum, sondern als Mitglied der Bundesregierung.

(Zuruf von der SPD: Genau!)

Damit man einen Aktiv-Passiv-Tausch machen kann, muss sich die Bundesregierung an der Stelle einig sein. Deshalb steht da nichts drin.

Wenn wir es zusammen hinbekämen, einen Passiv- Aktiv-Tausch in Modellprojekten zu erproben, würde ich mich wie eine Schneekönigin freuen. Er wird zwar in seiner Wirkung überschätzt, nämlich als – umgangssprachlich – Allheilmittel zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit angesehen – ich behalte die Umgangssprache an der Stelle bei –, ist aber im Kern ein Finanzierungsinstrument, und zwar ein kluges; denn man nimmt das Geld zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit, wandelt es quasi um und finanziert damit Arbeit bzw. Lohnkostenbestandteile. Es generiert also Geld, es ist ein Finanzierungsinstrument.

Da ich nicht glaube, dass wir uns einigen können, zur Finanzierung von Maßnahmen für Langzeitarbeitslose die Steuern zu erhöhen, ist es sinnvoll, gemeinsam zusätzliche Finanzierungsquellen zu erschließen.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben die Chance, noch eine Zwischenfrage zuzulassen, und zwar von der Kollegin Zimmermann. Möchten Sie die zulassen?

Gerne.

Bitte schön, Frau Zimmermann.

Vielen Dank, liebe Kollegin Mast. Ich habe zwei Fragen. Sie sprechen davon, dass die Bundesministerin Geld in die Hand nimmt, und von den 150 Millionen Euro für Ihren sogenannten sozialen Arbeitsmarkt. Sie wissen jedoch auch, dass das die Restmittel aus dem letzten Jahr sind und das dann praktisch jedes Jahr wieder so laufen soll. Daher ist meine erste Frage: Müssen Sie jetzt dafür beten, dass die 150 Millionen auch für nächstes Jahr bereitgestellt werden?

Die zweite Frage: Sie sprechen davon, dass jetzt die Verträge für 1 000 Vermittlerstellen wieder verlängert worden sein sollen.

Sie werden verlängert.

Sie werden verlängert, genau. Ja, es muss schon alles korrekt sein. – Sie wissen aber auch, dass wir in den letzten Jahren viel Geld aus den Eingliederungstiteln genommen haben, um die Verwaltungskosten abzudecken. Da ist schon die Frage: Wie viele Stellen davon werden aus dem Eingliederungstitel bezahlt, sodass diese Mittel dann nicht für Maßnahmen für arbeitslose Menschen zur Verfügung stehen?

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank für die Frage. – Ihre erste Frage, Frau Kollegin Zimmermann, betrifft das Programm – es heißt übrigens nicht „sozialer Arbeitsmarkt“, sondern „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“ – für 10 000 Langzeitarbeitslose, die ganz am Rand des Arbeitsmarktes stehen, bei denen selbst bei großen Anstrengungen in den nächsten zwölf Monaten nicht mit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu rechnen ist. Ich halte es für einen guten Ansatz, dass wir da herangehen. Ich habe es gerade gesagt: Ich bin eine Freundin dessen, dafür auch zusätzlich Geld zu generieren über den Passiv-Aktiv-Tausch.

(Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]: Das weiß ich, ja!)

– Das weiß ich. Ich will es nur noch einmal so klar sagen.

Wenn wir dafür keine gemeinsame Mehrheit finden, hat Ministerin Nahles vorgeschlagen, im ersten Jahr 75 Millionen, ab dem zweiten Jahr kontinuierlich weiter 150 Millionen dem Eingliederungstitel der Jobcenter im Vorwegabzug zu entnehmen, sodass wir ein festes Budget für diese sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben. Das ist aus meiner Sicht die zweitbeste Lösung; denn ich hätte lieber einen Passiv-Aktiv-Transfer, wie ich gerade gesagt habe. Aber es ist die zweitbeste und nicht die dritt-, viert-, fünft- oder sechstbeste Lösung. Es hat nichts damit zu tun, wie viele Restmittel im Eingliederungstitel pro Jahr übrig bleiben. Diese beiden Debatten müssen Sie trennen.

Dieser Vorwegabzug von 150 Millionen ist deshalb wichtig, weil sich sonst verschiedene Arbeitsmarktinstrumente in den Jobcentern „kannibalisieren“, weil hohe Lohnkostenzuschüsse für das einzelne Jobcenter, wenn keine Extrabudgets da sind, eine recht teure Maßnahme im Verhältnis zu anderen Maßnahmen sind. So haben wir eine Garantie dafür, dass auch 10 000 Plätze realisiert werden können.

Ich finde, dass man an der Stelle, was Haushaltspolitik angeht, tatsächlich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat, als man dieses Budget nie vorher separierte, sondern den Jobcentern immer gesagt hat: Ihr könnt entscheiden, welches Instrument ihr wählt. – Das halte ich für einen richtig guten Ansatz an der Stelle.

Die zweite Frage:

(Daniela Kolbe [SPD]: Die 1 000 Stellen!)

– Die 1 000 Stellen des Bundesprogramms „50plus“ werden zusätzlich finanziert.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind in dem Eingliederungstitel drin!)

Der Arbeitsministerin ist es gelungen, gemeinsam mit dem Finanzminister dafür die Lösung zu finden. Die Stellen waren bis 2015 befristet, also – für Feinschmecker – mit kw-Vermerk versehen. Dieser kw-Vermerk wird – immerhin – um zwei Jahre nach hinten verschoben. Vielleicht schaffen wir es ja, ihn irgendwann noch weiter nach hinten zu schieben oder ihn ganz abzuschaffen. Das bedeutet, die Stellen werden aus einem zusätzlichen Bundesprogramm finanziert und nicht aus den Mitteln des Eingliederungstitels.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin durch die Zwischenfrage in meiner Rede unterbrochen worden; was nicht schlimm ist. Lassen Sie mich darauf zurückkommen, was diese Regierung für Langzeitarbeitslose tut. Über einzelne Punkte des Programms „Chancen eröffnen – soziale Teilhabe sichern“, das Ministerin Nahles vorgestellt hat, haben wir schon gesprochen, aber wir haben noch nicht alle Aspekte diskutiert. Ich habe es bereits erwähnt: Der Eingliederungstitel wurde erhöht. Zudem sollen die Rechtsvereinfachungen im SGB II umgesetzt werden. Hier geht es darum, im Bereich der Arbeitsvermittlung für Langzeitarbeitslose Bürokratie abzubauen und dafür zu sorgen, dass Vermittler mehr Zeit für die Vermittlung haben und sich weniger mit Verwaltung beschäftigen müssen. Auch das ist ganz wichtig für die Langzeitarbeitslosen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir wissen nämlich: Je mehr Zeit vorhanden ist und je höher die Kontaktdichte, desto besser ist es für die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen in Arbeit. Deshalb finde ich die reine Fokussierung in der Debatte auf nur ein Instrument, nämlich die öffentlich geförderte Beschäftigung, nicht richtig.

Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland hat unheimlich viele Gesichter: Ein Jugendlicher, der nach sechs Monaten keinen Job hat, gilt als langzeitarbeitslos, bei über 25-Jährigen beträgt die Frist zwölf Monate. Da ist die alleinerziehende Mutter, die viele Jahre zu Hause war, noch keine Berufsausbildung gemacht hat und die unbedingt eine Ausbildung machen will. Sie braucht etwas völlig anderes als der alleinstehende langzeitarbeitslose ehemalige Handwerker, der schon sieben oder acht Jahre zu Hause sitzt und keine Aufgabe hat. Das sind völlig unterschiedliche Problematiken. Deshalb ist es so wichtig, dass unsere Bundesarbeitsministerin betont, dass es darum geht, für alle eine Antwort zu finden und nicht nur für einen; denn nur ein Instrument wird die Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland nicht beseitigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich kann für meine Fraktion sagen: Wir sind stolz darauf, dass wir eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt hinbekommen haben. Ich freue mich, mit Ihnen weiterhin diese spannende Debatte zu führen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/ Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4105193
Wahlperiode 18
Sitzung 66
Tagesordnungspunkt Langzeitarbeitslosigkeit
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