26.11.2014 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 69 / Tagesordnungspunkt I.9

Manuel SarrazinDIE GRÜNEN - Auswärtiges Amt Epl 05

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Liebe Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Eigentlich wollte ich dazu nichts sagen;

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Mach es einfach nicht!)

denn allzu oft heißt es, man gebe der Linkspartei zu viel Raum. Aber wenn Sie von der Linkspartei mit „Jeder ist so ein bisschen schuld an allem“ kommen – diese Auffassung kann man durchaus teilen –, muss ich schon sagen: Wir haben im Jahr 2009 mit dem Vertrag von Lissabon die Grundrechtecharta der Europäischen Union endlich rechtsverbindlich gemacht. Wir haben dafür gesorgt, dass das Europäische Parlament über Justiz und Innenpolitik mitentscheiden kann, dass diese Politikbereiche endlich vor Gericht einklagbar sind, damit mehr für Menschenrechte getan werden kann. Sie haben das abgelehnt.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Was hat denn das mit „Mare Nostrum“ zu tun?)

Wenn Sie wollen, dass mehr für die Menschenrechte von Flüchtlingen getan wird, müssen Sie für mehr Europa streiten und nicht dafür, dass nationale Grenzen hochgezogen werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Es geht um „Mare Nostrum“! Das ist eine völlig andere Debatte!)

So kann man nämlich auch über Schuld reden. Sie reden, seitdem Sie hier im Bundestag sind, das Projekt des gemeinsamen Europa immer schlecht.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist doch nicht wahr!)

Dabei wird man das Problem, dass Flüchtlinge im Mittelmeer sterben, nur lösen können, wenn man endlich dazu kommt, mehr gemeinsam in Europa zu machen und nicht immer wieder die nationale Karte zu ziehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Hören Sie auf, die Moralapostel zu spielen! Ich werde Ihnen niemals persönliche Schuld vorwerfen für irgendetwas, was auf der Welt passiert. Diesen Maßstab sollten wir gemeinsam behalten.

Wir leben in einer Zeit, in der man Stabilität braucht. Stabilität ist die neue Währung für alles. Wir sehen doch, was an unseren Grenzen passiert. Es geht um Stabilität: im Osten, im Süden, am Mittelmeer, aber auch im Mittleren Osten. Für was wird Europa gebraucht, wenn nicht dafür, ein Zentrum zu sein, in dem noch Stabilität herrscht? Wenn wir wollen, dass es in Zukunft Stabilität an den Grenzen Europas gibt, was gut für die Menschen ist, die dort leben, dann müssen wir in Europa stärker zusammenhalten und unsere Probleme gemeinsam lösen.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Aber bei „Mare Nostrum“ hat Europa versagt!)

Das heißt, dass man am Euro festhält, und das heißt, dass man gemeinsam die wirtschaftlichen Probleme im Süden löst, ohne immer gegen den Euro oder gegen die europäische Integration zu stänkern oder immer einfach nur dagegen zu sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

Kollege Sarrazin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von Dr. Diether Dehm?

Gern.

Lieber Herr Sarrazin, es kann ja sein, dass wir unterschiedlicher Meinung sind, was den Euro und einige Maßnahmen im Rahmen des Lissabon-Vertrages anbetrifft. Aber kann ich Sie insofern richtig verstehen, dass diejenigen mehr Schuld an dem haben, was im Mittelmeer geschieht, die zu Frontex stehen, als diejenigen, die gegen Frontex sind?

(Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE] – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: So ein Schwachsinn!)

Lieber Kollege Dehm, Frontex hat im Moment, wie ich glaube, 350 Mitarbeiter. Die Vorstellung, dass Frontex allein alle Menschen, die mit einem Boot nach Europa kommen, ablehnt, versinken lässt, ist meiner Ansicht nach keine, die das Problem adressiert. Wir erleben in der Europäischen Union seit Jahren eine Politik der Innenminister aus verschiedenen Ländern – dazu gehörte zumindest in der letzten Legislatur ausdrücklich auch die Bundesrepublik Deutschland –, die Elemente von Solidarität angesichts der Probleme mit Flüchtlingen in den Staaten im südlichen Europa vehement abgelehnt hat und die auch nicht positiv darauf hingewirkt hat, die Regeln zum Thema Humanität, zum Beispiel das Non- refoulement-Prinzip – wirklich jeder, der flieht, hat die Chance, einen Asylantrag zu stellen und ein rechtsförmliches Verfahren zu bekommen –, in den Verhandlungen, die es darum gab, europäisch zu stärken. Der entscheidende Punkt, den ich meine, ist: Wenn man die wirklich unmenschlichen und unhaltbaren Zustände verändern will, dann wird man das nur erreichen, indem man mehr europäisches Recht schafft, das über der Auslegung internationalen Rechts durch einzelne Nationalstaaten steht und die Nationalstaaten verpflichtet, mehr zu tun. Deswegen stimme ich Ihrer politischen Forderung, „Mare Nostrum“ fortzusetzen, total zu.

(Karin Binder [DIE LINKE]: Das ist schon mal was!)

Wenn Sie sich hier die Freiheit herausnehmen, zu behaupten, jemand sei persönlich schuld, was ich zutiefst ablehne, möchte ich Ihnen nur sagen: Ich werde Ihnen nie vorwerfen, Sie seien persönlich schuld am Sterben im Mittelmeer, nur weil Ihre Europapolitik unverantwortlich ist und niemals für bessere Regeln in diesem Politikbereich sorgen wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage oder -bemerkung, nämlich von der Kollegin Hänsel?

Ja.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: So kann man seine Redezeit auch verlängern!)

Danke schön, Frau Präsidentin. – Als Entwicklungspolitikerin, Herr Sarrazin, möchte ich Sie doch noch einmal auf etwas aufmerksam machen. Sie sprachen davon, dass wir eine gemeinsame europäische Politik gegenüber den Ländern des Südens brauchen. Die haben wir bereits, und das ist eine der großen Fluchtursachen. Wir haben die EU-Freihandelsabkommen mit Afrika. Wir haben in der EU die Gemeinsame Fischereipolitik, die dazu beiträgt, dass viele Fischer arbeitslos werden, zum Beispiel vor Westafrika. Das sind die Flüchtlinge von heute und morgen. Auch die Kleinbauern, denen durch die neoliberale europäische Politik die Existenz zerstört wird, sind die Flüchtlinge von heute und morgen. Sie können hier doch nicht ein Loblied auf das gemeinsame europäische Agieren singen, wenn wir parallel ganz andere Entwicklungen sehen. Woher kommen denn die Flüchtlinge? Deswegen gibt es diese Mitschuld. Darum geht es. Wir sind hier verantwortlich dafür, dass es Flüchtlinge gibt und dass viele Flüchtlinge im Mittelmeer krepieren.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Sarrazin, bitte.

Frau Kollegin Hänsel, auch wenn es keine Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und afrikanischen Staaten gibt – mir sind zumindest in diesem Moment keine bekannt –:

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: APEC! Wirtschaftspartnerschaften!)

Ich finde ebenfalls, dass beispielsweise die Praxis der Fischereiabkommen, so wie sie ausgeführt wird, nicht geht und dringend überarbeitungsbedürftig ist. Deswegen haben wir uns im Europäischen Parlament immer gegen diese Fischereiabkommen gewandt. Der Kollege Frithjof Schmidt hat das in seiner Zeit im Europäischen Parlament an vorderster Front getan, gegen viele Lobbyisten aus vielen Mitgliedstaaten. Da kann man dann die grundsätzliche Frage aufwerfen: Glaubt man eigentlich, Sachen eher verändern zu können, indem man für andere politische Mehrheiten auf europäischer Ebene sorgt, oder glaubt man, Sachen würden besser, wenn die Nationalstaaten für sich diese Politik so fortsetzen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Frage, die hier besprochen wurde, dreht sich um die konkrete Situation, dass Menschen über das Mittelmeer fliehen, aber nicht jedem Menschen das individuelle Recht gewährt wird, die Fluchtursachen in einem rechtsstaatlichen Verfahren bewerten zu lassen und dann nach Recht und Gesetz behandelt zu werden. Ich sage Ihnen aus meiner Erfahrung: Ein großes Problem bei dieser Praxis ist, dass die nationale Innenpolitik und der nationale Grenzschutz jeweils so handeln, wie es in ihrem nationalen Interesse angeblich am besten ist, nämlich so, dass möglichst wenige in das eigene Land kommen. Was wir dagegensetzen müssen, ist eine europäische Vision von humanen europäischen Regeln, die im Zweifelsfall auch gegen nationale Interessen durchgesetzt werden. Dafür braucht man mehr Europa, nicht weniger Europa, wie Sie es immer fordern.

Vielen Dank. Jetzt geht es weiter in der Rede.

Sehr geehrte Damen und Herren, Frau Präsidentin, wenn wir über Stabilität reden, dann müssen wir natürlich auch über die ökonomische Krise in Europa reden. Wenn wir die Lage im Süden Europas betrachten – ich glaube, Herr Juncker hat Vorschläge gemacht, die in die richtige Richtung gehen können, wenn sie richtig umgesetzt werden –, dann müssen wir auch darüber reden, dass die Europäische Union mehr Demokratie und mehr Legitimität braucht, um die Transformation zu schaffen und Gesamteuropa wieder zu einem attraktiven, starken, stabilen Wirtschaftsstandort zu entwickeln. Denn unsere Auseinandersetzung um die Werte der Europäischen Union – im globalen Maßstab, aber auch mit Blick auf unsere direkte Nachbarschaft – muss mit einer Diskussion darüber unterlegt sein, wie die EU wieder zu einem erfolgreichen wirtschaftlichen Modell werden kann. Insofern können wir nicht zusehen, wenn wir bemerken, dass die Gefahr besteht, dass Länder wie Portugal, Spanien, Italien oder Griechenland in eine dauerhafte Rezession verfallen, dass die kleinen Hoffnungsschimmer, die es in diesen Ländern vielleicht gab, durch eine neue Rezession zerstört werden.

In unserer Auseinandersetzung um Werte müssen wir aber auch eines festhalten: Im Zusammenhang mit der Ukraine ist in besonders starkem Maße zu erkennen, wo der Unterschied zwischen den Werten liegt, die der Kreml formuliert, und den Werten, die wir haben; das erkennt man sehr gut daran, wie die Menschen in den von Separatisten kontrollierten Gebieten behandelt werden. Also müssen wir, auch um das Argument der doppelten Standards zu entwerten, mehr dafür tun, dass die Grundwerte der Europäischen Union auch im Innern der Europäischen Union umgesetzt werden. Deswegen ist es zu begrüßen, wenn es auch in der Bundesregierung Ideen gibt, einen europäischen Grundwertemechanismus zu entwickeln. Die Grünen werden in absehbarer Zeit Vorschläge dazu machen.

Meine Damen und Herren, Europa wächst immer mehr in die Rolle hinein, nicht mehr nur ein Ort für ökonomischen Wohlstand und Wohlfahrt zu sein, wie es viele nach 2004 dachten, sondern auch die Grundlagen für Stabilität und Sicherheit zu legen. Wir werden den außenpolitischen Herausforderungen der Zukunft nur dann gerecht werden können, wenn wir in der Lage sind, Europa weiterzuentwickeln und bei Fragen der weiteren Integration Europas mutig und entschlossen voranzugehen, anstatt im nationalen Kämmerchen darauf zu warten, dass die Krisen auf uns zukommen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank, Kollege Sarrazin. – Nächster Redner in der Debatte Dr. Peter Gauweiler für die CDU/CSU-Fraktion.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/4178947
Wahlperiode 18
Sitzung 69
Tagesordnungspunkt Auswärtiges Amt Epl 05
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